Verwaltungsrecht

Keine Zustellungsfiktion bei unklarer Adressierung

Aktenzeichen  B 5 S 17.32160

Datum:
20.6.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 147053
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 10 Abs. 2
AsylG § 74 Abs. 1
VwZG § 8
VwVfG § 41
VwVfG § 43 Abs. 1

 

Leitsatz

Die Zustellungsfiktion des § 10 Abs. 2 S. 1 AsylG greift dann nicht, wenn das Bundesamt eine nicht eindeutige Anschrift des Adressaten verwendet.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Es wird festgestellt, dass die Klage des Antragstellers vom 22. Mai 2017 im Verfahren B 5 K 17.31951 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 15. März 2017 aufschiebende Wirkung hat.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller ist pakistanischer Staatsangehöriger und dem Volk der Punjabis zugehörig. Er reiste nach eigenen Angaben im Sommer 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 28. August 2015 einen Asylantrag.
Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden Bundesamt) am 28. Oktober 2016 gab der Antragsteller im Wesentlichen an, Pakistan aufgrund von Bedrohungen durch Terroristen verlassen zu haben. Diese wären immer wieder bei ihm zu Hause aufgetaucht. In den meisten Fällen habe er die Flucht ergreifen können. Es habe jedoch auch Vorfälle gegeben, bei denen ihm die Flucht nicht gelungen sei. Dann hätten die Terroristen ihn gefesselt und verletzt. Der Grund für diese Angriffe sei eine frühere Tätigkeit seines Vaters für das Militär.
Die Regierung von Oberfranken wies dem Antragsteller mit Bescheid vom 8. Februar 2017 als Wohnsitz die „Gemeinschaftsunterkunft (Asyl) Ortsteil B … GU M …/ B … G …str. 1, …M …“ zu und ordnete an, dass der Antragsteller spätestens am 16. Februar 2017 dort seinen Wohnsitz zu nehmen hat (Bl. 84 der Behördenakte).
Mit Bescheid des Bundesamts vom 15. März 2017 wurden der Antrag des Antragstellers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und der Antrag auf Asylanerkennung abgelehnt (Ziffern 1 und 2 des Bescheids). Der subsidiäre Schutzstatus wurde nicht zuerkannt (Ziffer 3 des Bescheids) und es wurde festgestellt, dass die Voraussetzungen nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen (Ziffer 4 des Bescheids). Der Antragsteller wurde aufgefordert, das Bundesgebiet innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Ihm wurde die Abschiebung nach Pakistan oder in einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht (Ziffer 5 des Bescheids). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6 des Bescheides). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen, § 77 Abs. 2 des Asylgesetzes (AsylG). Der Bescheid wurde an den Antragsteller am 15. März 2017 unter Verwendung der Anschrift
„ …
GU M … / B …
G …str. 1
M …
gegen Postzustellungsurkunde versandt. Die Postzustellungsurkunde wurde am 17. März 2017 mit dem Vermerk „Adressat unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln“ zurückgesandt. Mit Aktenvermerk vom 18. April 2017 hielt das Bundesamt fest, dass nach § 10 Abs. 2 AsylG eine Zustellung an die zuletzt bekannte Anschrift mit der Aufgabe zur Post als bewirkt gelte. Mit Schreiben vom gleichen Tage teilte das Bundesamt der Regierung von Oberfranken – Zentrale Ausländerbehörde – mit, dass der Asylantrag des Antragstellers unanfechtbar abgelehnt worden sei.
Mit E-Mail vom 9. Mai 2017 wandte sich eine Mitarbeiterin der Asylsozialberatung der Diakonie Selb-Wunsiedel im Auftrag des Antragstellers an das Bundesamt und teilte mit, die Regierung von Oberfranken – Zentrale Ausländerbehörde – habe den Antragsteller zur Vorsprache wegen der freiwilligen Ausreise aufgefordert. Einen Bescheid habe der Antragsteller aber nie erhalten. Es werde um Übersendung des Bescheides oder um Nachricht, zu welcher Adresse dieser gesendet wurde, gebeten. Mit einfachem Brief vom 16. Mai 2017 versandte das Bundesamt daraufhin eine Zweitschrift des Bescheides vom 15. März 2017 an die Anschrift
„ …
GU M … / B …
G …str. 1
…M …“.
Mit Schreiben vom 18. Mai 2017 bat die Bevollmächtigte des Antragstellers das Bundesamt sowie die Regierung von Oberfranken – Zentrale Ausländerbehörde – ebenfalls um Zusendung des streitgegenständlichen Bescheides. Die Zentrale Ausländerbehörde versandte mit Telefax vom 19. Mai 2017 die erste Seite des Bescheides, das Bundesamt mit einfachem Brief vom 24. Mai 2017 eine Kopie des Bescheides an die Bevollmächtigte des Antragstellers.
Mit Schriftsatz vom 22. Mai 2017, beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth eingegangen am 24. Mai 2017, ließ der Antragsteller durch seine Prozessbevollmächtigte Klage gegen den Bescheid vom 15. März 2017 erheben (B 5 K 17.31951). Mit Schreiben vom 1. Juni 2017, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth am 7. Juni 2017, beantragte der Antragsteller selbst sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Der Bescheid sei ihm bis heute nicht wirksam zugestellt worden. Die Adressierung sei unzureichend gewesen, da es sowohl in M … selbst als auch im Ortsteil B … jeweils ein Anwesen mit der Anschrift „G …str. 1“ gebe.
Die Antragsgegnerin äußerte sich zum Verfahren nicht.
Ergänzend wird entsprechend § 117 Abs. 3 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auf die Gerichtsakte und die vorgelegten Behördenakten sowie die Akte des Verfahrens B 5 K 17.31951 verwiesen.
II.
1. Der Antrag des nicht anwaltlich vertretenen Antragstellers ist im Rahmen des § 88 VwGO sachdienlich dahingehend auszulegen, dass in entsprechender Anwendung von § 80 Abs. 5 VwGO die Feststellung begehrt wird, dass die in der Hauptsache (B 5 K 17.31951) erhobene Klage aufschiebende Wirkung hat (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.1990 – 7 CS 90.1090 – NVwZ-RR 1990, 639; Schoch in: Schoch/Schneider/Bier, Verwaltungsgerichtsordnung, Stand Oktober 2016, § 80, Rn. 449 m.w.N.).
2. Der so verstandene Antrag ist zulässig und begründet.
a) In der Fallgestaltung der sogenannten faktischen Vollziehung, d.h., wenn Behörden bereits Vollzugsmaßnahmen getroffen haben oder treffen oder solche Maßnahmen drohen, ohne dass die Voraussetzungen der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 VwGO vorliegen, kann zwar nicht die aufschiebende Wirkung einer bereits erhobenen Hauptsacheklage angeordnet bzw. wiederhergestellt werden, deren aufschiebende Wirkung ist jedoch in entsprechender Anwendung von § 80 Abs. 5 VwGO festzustellen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 20. Aufl., § 80, Rn. 181 m.w.N.).
b) Insoweit ist auch ein Rechtschutzbedürfnis des Antragstellers an der begehrten Feststellung zu bejahen. Die Antragsgegnerin hat bislang nicht erkennen lassen, dass sie von einer aufschiebenden Wirkung der Klage ausgeht. Vielmehr geht das Bundesamt ausweislich der Aktenvermerke vom 18. April 2017 und 16. Mai 2017 sowie des Schreibens vom 18. April 2017 an die Regierung von Oberfranken – Zentrale Ausländerbehörde – von einer wirksamen Zustellung des Bescheides nach § 10 Abs. 2 AsylG am 15. März 2017 und in der Folge von einer zwischenzeitlich bestandskräftigen Ablehnung des Asylantrages des Antragstellers aus.
c) Vorliegend hat der Antragsteller gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 15. März 2017 im Verfahren B 5 K 17.31951 allerdings fristgerecht Klage erhoben. Nach § 10 Abs. 2 Satz 1 AsylG muss ein Ausländer zwar grundsätzlich Zustellungen und formlose Mitteilungen unter der letzten Anschrift, die der jeweiligen Stelle auf Grund seines Asylantrags oder seiner Mitteilung bekannt ist, gegen sich gelten lassen; dabei gilt, wenn die Sendung nicht zugestellt werden kann, die Zustellung mit der Aufgabe zur Post als bewirkt, selbst wenn die Sendung als unzustellbar zurückkommt, § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG. Dies setzt aber voraus, dass die Zustellung auch an die tatsächliche Anschrift des Ausländers adressiert wurde. Unklarheiten und Fehler gehen zu Lasten der Behörde, eine Verletzung einer Mitwirkungspflicht des Ausländers, die eine Zustellungsfiktion ausnahmsweise rechtfertigen könnte (vgl. Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 10 AsylG, Rn. 4 f.), liegt in einem solchen Fall gerade nicht vor. Da vorliegend sowohl in M … als auch im Ortsteil B … jeweils ein Anwesen mit der Anschrift „G …str. 1“ vorhanden ist (FlNr. …/ …, Gemarkung M … bzw. FlNr. …, Gemarkung B …) und sich insoweit auch die Postleitzahl nicht unterscheidet, war die vom Bundesamt verwendete Anschrift zumindest nicht eindeutig. Eine Zustellungsfiktion nach § 10 Abs. 2 Satz 1 AsylG greift danach nicht ein.
d) Eine erstmalige Bekanntgabe i.S.d. § 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) und damit das Wirksamwerden des streitgegenständlichen Bescheides, § 43 Abs. 1 Satz 1 VwVfG kann hier frühestens mit dem Zugang der am 16. Mai 2017 an den Antragsteller versandten Zweitschrift angenommen werden (soweit diese tatsächlich zuging). Zwar entspricht der Versand mit einfachem Brief nicht dem Zustellerfordernis des § 31 Abs. 1 Satz 3 AsylG. Allerdings gilt der Bescheid auch bei Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften nach § 8 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) in dem Zeitpunkt als zugegangen, in dem er dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist. Entsprechendes gilt – sollte auch der am 16. Mai 2017 versandte Zweitbescheid tatsächlich nicht beim Antragsteller angekommen sein – für die mit Schreiben vom 24. Mai 2017 übersandte Kopie des Bescheides an die Bevollmächtigte des Antragstellers. Eine Fotokopie genügt dabei (vgl. BVerwG, B.v. 9.10.1998 – 4 B 98.98 – BayVBl 1999, 158). Unabhängig davon, in welchem der beiden Zeitpunkte eine Bekanntgabe des Bescheides und damit das die zweiwöchige Klagefrist des § 74 Abs. 1 Satz 1 AsylG auslösende Ereignis zu sehen ist, ist diese mit Eingang der Klage bei Gericht am 24. Mai 2017 in jedem Fall gewahrt. Dass beim Abstellen auf den Zeitpunkt des Zugangs der Bescheidskopie bei der Bevollmächtigten des Antragstellers die Klage bereits erhoben worden war, hindert deren Zulässigkeit hier nicht. Zwar liegt in zeitlicher Hinsicht ein Verwaltungsakt als tauglicher Gegenstand der Klage objektiv erst vor, wenn er nach § 43 Abs. 1 VwVfG wirksam geworden ist, was insbesondere von der Bekanntgabe nach § 41 VwVfG abhängt. Allerdings ist aus Rechtssicherheitsgründen und in Anlehnung an die Möglichkeit der Anfechtung eines nichtigen Verwaltungsakts die Anfechtungsklage auch zulässig, wenn ein Verwaltungsakt objektiv noch nicht erlassen wurde, die Behörde aber schon den Rechtsschein eines Verwaltungsakts gesetzt hat (Pietzcker in: Schoch/Schneider/Bier, Verwaltungsgerichtsordnung, 32. EL Oktober 2016, § 42, Rn. 20). Ein solcher Rechtsschein bestand jedenfalls ab der Übersendung der ersten Seite des streitgegenständlichen Bescheides durch die Regierung von Oberfranken – Zentrale Ausländerbehörde – an die Antragstellerbevollmächtigte mit Telefax vom 19. Mai 2017.
e) Der damit fristgerecht erhobenen Klage kommt aufschiebende Wirkung zu, da kein Fall des § 80 Abs. 2 VwGO vorliegt. Beim streitgegenständlichen Bescheid handelt es sich um einen sonstigen Fall der Ablehnung i.S.d. § 38 Abs. 1 AsylG, so dass die Klage im Verfahren B 5 K 17.31951 bereits kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung hat, § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG.
f) Da die drohende faktische Vollziehung wegen der Missachtung des Suspensiveffekts ohne weiteres rechtswidrig ist, ist nicht wie sonst im Anwendungsbereich von § 80 Abs. 5 VwGO zwischen öffentlichem Vollzugsinteresse und individuellem Aussetzungsinteresse abzuwägen (VGH BW, B.v. 22.2.2010 – 10 S 2702/09 – NVwZ-RR 2010, 463; Kopp/Schenke, VwGO, 20. Aufl., § 80, Rn. 181). Insbesondere kommt es damit ausdrücklich nicht auf die voraussichtlichen Erfolgsaussichten in der Hauptsache an.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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