Verwaltungsrecht

Kosten des unmittelbaren Zwangs, präventiver polizeilicher Aufgabenbereich, konkrete Gefahr, Gefahrenprognose, familiengerichtliche Umgangsbeschränkung, Kindeswohl, Gefährdung der Gesundheit des Kindes

Aktenzeichen  10 ZB 21.1479

Datum:
22.3.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 8515
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1 bis 4, § 124a Abs. 4 S. 4
PAG Art. 2 Abs. 1, § 11 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, § 75 Abs. 3 S. 1

 

Leitsatz

Verfahrensgang

RO 4 K 20.1501 2021-04-13 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 54,- Euro festgesetzt.

Gründe

Die Klägerin verfolgt mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung ihre in erster erfolglose Klage auf Aufhebung des Leistungsbescheids (Kostenrechnung) des Beklagten vom 23. Juli 2020, mit dem die bei einem Polizeieinsatz am 25. Februar 2020 für die Anwendung unmittelbaren Zwangs entstandenen Kosten in Höhe von 54,- Euro (Regelfallgebühr) verlangt wurden, weiter.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich weder die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (1.), noch liegen die weiteren in der Zulassungsbegründung angeführten Zulassungsgründe gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2, 3 und 4 VwGO vor (2.).
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat die Klageabweisung darauf gestützt, dass die Voraussetzungen für die streitgegenständliche Kostenerhebung gemäß Art. 75 Abs. 3 Satz 1 PAG vorlägen, weil die Polizei unmittelbaren Zwang angewandt habe und die dafür abgerechneten Kosten angefallen seien. Die zugrundeliegende polizeiliche Maßnahme sei rechtmäßig gewesen. Die Aufforderung an die Klägerin, sich (mit ihrem Sohn) wieder in die Einrichtung „Mensch im Fokus“ in R. zu begeben, wo der begleitete Umgang mit ihrem Sohn nach einem Beschluss des Amtsgerichts R. – Abteilung für Familiensachen – vom 7. Februar 2020 stattzufinden habe, sei rechtmäßig auf der Grundlage von Art. 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 PAG erfolgt. Die Polizei sei nach Art. 2 Abs. 1 PAG dafür sachlich zuständig gewesen, da es aufgrund vergangener Vorkommnisse nicht auszuschließen gewesen sei, dass sich die Klägerin mit ihrem Sohn entfernen und längere Zeit nicht zurückkehren und dies zu einer Gefährdung des Kindeswohl führen würde. Dagegen sei die Polizei hier nicht auf Ersuchen eines Gerichtsvollziehers im Rahmen der Vollstreckung des familiengerichtlichen Beschlusses vom 7. Februar 2020 tätig gewesen. Eine konkrete Gefahr im Sinne von Art. 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 PAG für die Gesundheit des Sohnes der Klägerin sei gegeben gewesen. Bei ihrer Gefahrenprognose habe sich die Polizei zu Recht an den Gründen des familiengerichtlichen Beschlusses vom 7. Februar 2020 orientiert, in dem ausgeführt sei, dass unklar sei, inwieweit die Klägerin während ihres Umgangs den Blick auf das Kindeswohl habe und inwieweit Absprachen von ihr eingehalten würden. Weiter seien in diesem Beschluss ein früherer Suizidversuch der Klägerin sowie der Umstand erwähnt, dass sich die Klägerin an Absprachen bezüglich des Umgangs nicht gehalten und beispielsweise ihren Sohn am 24. Dezember 2019 nach einem Umgang nicht wieder zurückgebracht habe, sodass das Kind eine Woche polizeilich habe gesucht werden müssen. Vor diesem Hintergrund sei aus der maßgeblichen ex ante-Sicht der Polizei eine konkrete Gefahr für die Gesundheit des Sohnes der Klägerin anzunehmen gewesen. Die Klägerin sei als Verhaltensstörerin auch richtige Adressatin dieser Aufforderung der Polizei (Art. 7 Abs. 1 PAG) und die Maßnahme verhältnismäßig gewesen. Die Voraussetzungen für die Anwendung unmittelbaren Zwangs (Art. 70 Abs. 1, Art. 75 Abs. 1, Art. 77 ff. PAG) seien erfüllt gewesen. Rechtlich nicht zu beanstanden sei die Höhe der erhobenen Gebühr, die sich im Rahmen von § 1 Nr. 7 PolKV bewege.
Die Klägerin rügt im Wesentlichen, schon der Aufgabenbereich der Polizei (nach Art. 2 Abs. 1 PAG) sei hier mangels einer konkreten Gefahr für die Gesundheit des mit seiner Mutter spielenden Kindes nicht eröffnet gewesen, allenfalls habe ein Gefahrenverdacht der Kindeswohlgefährdung vorgelegen. Für die Überwachung des Kindeswohls sei jedoch nicht die Polizei, sondern ausschließlich das Familiengericht zuständig. Der Beklagte setze zu Unrecht das Kindeswohl und die Gesundheit eines Kindes gleich. Eine Gesundheitsgefährdung bei einem spielenden Kind könne ein Polizeibeamter im Übrigen gar nicht beurteilen. Eine vollstreckbare familiengerichtliche Anordnung, den Umgang mit dem Sohn nur in geschlossenen Räumen durchzuführen, habe im maßgeblichen Zeitpunkt nicht existiert. Auch sei der Beschluss des Amtsgerichts vom 7. Februar 2020 aufgrund wesentlicher Verfahrensmängel und eines unverhältnismäßigen Eingriffs in das Umgangsrecht der Klägerin ohnehin rechtswidrig und nicht vollstreckbar gewesen. Die Polizei, die ein spielendes Kind vor dem Verhalten eines Elternteils geschützt habe, habe daher offensichtlich rechtswidrig gehandelt und hier auf Anforderung eines Umgangsbegleiters, einer pädagogischen Hilfskraft ohne Entscheidungskompetenz, am Straftatbestand der Freiheitsberaubung oder Nötigung mitgewirkt.
Dieses Vorbringen ist nicht geeignet, den präventiven polizeilichen Aufgabenbereich nach Art. 2 Abs. 1 PAG und die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts im Rahmen von Art. 2 Abs. 1, Art. 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 PAG ernstlich in Zweifel zu ziehen, und rechtfertigt deshalb nicht die Zulassung der Berufung.
Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Polizei im vorliegenden Fall nicht im Rahmen der Vollstreckung der umgangsrechtlichen Entscheidung des Amtsgerichts R. – Familiengericht – im Beschluss vom 7. Februar 2020 wegen Zuwiderhandlung gegen eine vollzugsfähige Umgangsverfügung (vgl. dazu Veit in BeckOK BGB, Hau/Poseck, Stand 1.11.2019, § 1684 Rn. 79 ff.; vgl. auch § 90 FamFG zur Anwendung unmittelbaren Zwangs), sondern vielmehr im Rahmen der ihr gemäß Art. 2 Abs. 1 PAG obliegenden (präventiven) Aufgabe der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gehandelt hat. Voraussetzung dieser allgemeinen Aufgabenzuweisung für die Polizei ist das Vorliegen von allgemein oder im Einzelfall bestehenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung. Eine im (konkreten) Einzelfall bestehende Gefahr, mithin eine konkrete Gefahr, liegt nach zutreffender Auffassung des Verwaltungsgerichts vor, wenn eine Sachlage besteht, die nach allgemeiner Lebenserfahrung bei ungehindertem Verlauf des objektiv zu erwartenden Geschehens im Einzelfall mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einer Verletzung der Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung führt (vgl. Holzner in BeckOK Polizei- und Sicherheitsrecht Bayern, Möstl/Schwabenbauer, Stand 1.9.2021, PAG Art. 2 Rn. 7; Nr. 2.2. VollzBek PAG). Der Begriff der öffentlichen Sicherheit im Sinne des Art. 2 Abs. 1 PAG umfasst dabei nach ebenfalls zutreffend wiedergegebener Definition des Verwaltungsgerichts unter anderem die Unversehrtheit des Individualrechtsguts Gesundheit (vgl. Holzner in BeckOK Polizei- und Sicherheitsrecht Bayern, Möstl/Schwabenbauer, Stand 1.9.2021, PAG Art. 2 Rn. 11; Nr. 2.2. VollzBek PAG). Entgegen der Auffassung der Klägerin hat das Verwaltungsgericht auch nicht die Begriffe „Kindeswohl“ und „Gesundheit“ des Kindes verkannt oder rechtsfehlerhaft gleichgesetzt. Vielmehr gehört, wie sich aus § 1666 Abs. 1 BGB ergibt, zum Kindeswohl (auch) die körperliche, geistige und seelische Unversehrtheit eines Kindes (vgl. auch Lugani in Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2020, § 1696 Rn. 26).
Zu Recht hat das Verwaltungsgericht bei seiner Gefahrenprognose einen differenzierenden bzw. gleitenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab berücksichtigt. Denn jede Gefahrenprognose ist nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehrrechts eine Korrelation aus Eintrittswahrscheinlichkeit und (möglichem) Schadensausmaß. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind deshalb umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (vgl. Holzner in BeckOK Polizei- und Sicherheitsrecht Bayern, Möstl/Schwabenbauer, Stand 1.9.2021, PAG Art. 11 Rn. 28 m.w.N.; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18). Zwar reicht die bloß subjektive Annahme oder die reine Vermutung der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts nicht aus, sondern die Prognose muss sich auf hinreichend gesicherte Anhaltspunkte stützen lassen (vgl. Holzner in BeckOK Polizei- und Sicherheitsrecht Bayern, a.a.O.). Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das Verwaltungsgericht jedoch aus der ex ante-Sicht eines verständig handelnden, gewissenhaften und sachkundigen Polizeibeamten mit Blick auf die Gesamtumstände und insbesondere die den Polizeibeamten im Zeitpunkt der Maßnahme bekannten Gründe des familiengerichtlichen Beschlusses vom 7. Februar 2020 zu Recht eine konkrete Gefahr für die körperliche, geistige und seelische Unversehrtheit des Kindes der Klägerin und damit für dessen Gesundheit bejaht. Die Polizeibeamten und das Verwaltungsgericht durften bei ihrer Prognose deshalb insbesondere als hinreichend gesicherte Anhaltspunkte berücksichtigen, dass in den Gründen dieses Beschlusses ausgeführt wird, dass (nach wie vor) unklar sei, inwieweit die Kindesmutter während des Umgangs den Blick auf das Kindeswohl habe und Absprachen mit ihr zum Umgang eingehalten würden, dass (notwendige) Regelungen oder Absprachen bezüglich des Umgangs von ihr nicht als verbindlich angesehen würden, dass Anlass für die Schutzvereinbarung, nach der das Kind zum Vater gewechselt sei, ein Suizidversuch der Mutter (Klägerin) gewesen sei und dass durch das Verhalten der Klägerin über die Weihnachtsfeiertage 2019 erhebliche Sorgen in Bezug auf das Wohl des Kindes begründet gewesen seien (S. 3 f. des Beschlusses, Bl. 9 f. der Behördenakte). Entgegen der Meinung der Klägerin handelt es sich dabei gerade nicht nur um „pädagogische Bedenken“ bezüglich eines unbegleiteten Umgangs mit ihrem Sohn. Nicht entscheidend ist auch, dass die Klägerin diese familiengerichtliche Entscheidung aufgrund (behaupteter) Verfahrensmängel und auch Eingriffs in ihr Umgangsrecht für rechtswidrig hält. Demgemäß kann von einem rechtswidrigen Handeln der Polizei hier keine Rede sein.
2. Die von der Klägerin als grundsätzlich klärungsbedürftig (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) erachtete Frage, ob die Polizei familiengerichtliche Anordnungen durchsetzen darf, wenn einem solchen familiengerichtlichen Beschluss zuwidergehandelt wird, ist aus den oben dargelegten Gründen schon nicht entscheidungserheblich und damit nicht klärungsfähig. Denn die Polizei hat hier im Rahmen der ihr gemäß Art. 2 Abs. 1 PAG obliegenden (präventiven) Aufgabe der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gehandelt.
Bezüglich der weiter aufgeführten Zulassungsgründe gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 und 4 VwGO verfehlt der Zulassungsantrag bereits die Darlegungsanforderungen nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO. Im Übrigen weist die Rechtssache aus den bereits oben dargelegten Gründen weder besondere tatsächliche noch rechtliche Schwierigkeiten auf. Bezüglich einer Divergenz werden von Klägerseite schon keine divergierenden Sätze benannt und einander gegenübergestellt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 3 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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