Verwaltungsrecht

Krankheitsbezogenes Abschiebungsverbot hinsichtlich Afghanistans

Aktenzeichen  Au 5 K 17.32950

Datum:
1.10.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 24572
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7, § 60a Abs. 2c

 

Leitsatz

Auf im Herkunftsstaat vorhandene und grundsätzlich zugängliche Behandlungsmöglichkeiten kommt es nicht an, wenn diese wegen der insbesondere bei Vorliegen einer PTBS bzw. schwergradigen depressiven Episode im Herkunftsland zu erwartenden Retraumatisierung auf Grund der Konfrontation mit den Ursachen des Traumas für den Betroffenen nicht erfolgversprechend sind. (Rn. 63) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für … vom 10. Mai 2017 wird in Nrn. 4 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass für den Kläger ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) hinsichtlich Afghanistans vorliegt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger zu 3/4 und die Beklagte zu ¼. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung gegen Leistung einer Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht zuvor der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage des Klägers verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung vom 1. Oktober 2018 teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten ausweislich der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO). Die Beklagte ist zur mündlichen Verhandlung form- und fristgerecht geladen worden.
Die zulässige Klage ist teilweise begründet.
Der Bescheid des Bundesamtes vom 10. Mai 2017 ist nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in Nrn. 4 bis 6 insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, als dieser einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans hat, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
In den weitergehenden Anträgen auf Anerkennung als Asylberechtigter im Sinne von Art. 16a Grundgesetz (GG), auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) beziehungsweise hilfsweise auf Gewährung subsidiären Schutzstatus (§ 4 AsylG) erweist sich die Klage zwar als zulässig, aber unbegründet. Der mit der Klage angegriffene Bescheid des Bundesamtes ist in den Nrn. 1 bis 3 rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Diesbezüglich war die Klage abzuweisen.
1. Der Kläger besitzt keinen Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigter i.S.v. Art. 16a Abs. 1 GG. Einem solchen Anspruch steht bereits die Einreise des Klägers auf dem Landweg entgegen. Nach § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylG kann sich ein Ausländer, der aus einem Drittstaat i.S.d. Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG (sicherer Drittstaat) eingereist ist, nicht auf Art. 16a Abs. 1 GG berufen. § 26a Abs. 1 Satz 2 AsylG schließt insoweit die Anerkennung als Asylberechtigter aus. Ausnahmen nach § 26a Abs. 1 Satz 3 AsylG sind vorliegend nicht einschlägig. Auf den genauen Reiseweg des Klägers kommt es damit nicht mehr.
2. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG liegen im Fall des Klägers ebenfalls nicht vor.
a) Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3 d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
Die Tatsache, dass der Ausländer bereits verfolgt oder von Verfolgung unmittelbar bedroht war, ist dabei ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, wenn nicht stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass er neuerlich von derartiger Verfolgung bedroht ist. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen eine Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dabei ist es Sache des Ausländers, die Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei genügt für diesen Tatsachenvortrag aufgrund der typischerweise schwierigen Beweislage in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
Gemessen an diesen Maßstäben konnte der Kläger eine individuelle Verfolgung nicht glaubhaft machen. Eine asylrechtlich relevante Vorverfolgung i.S.d. §§ 3, 3b AsylG ist für den Kläger nicht festzustellen. Dies gilt selbst bei Wahrunterstellung des klägerischen Vortrages. Damit kann es letztlich dahinstehen, ob das Gericht den wesentlichen Ausführungen des Klägers zu seinem Verfolgungsschicksal Glauben schenkt. Denn selbst bei Wahrunterstellung des geschilderten Vortrages ist keinerlei Anknüpfung an eines der in § 3b AsylG flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsmerkmale zu erkennen. Der Kläger hat zum einen sowohl in der mündlichen Verhandlung vom 1. Oktober 2018 als auch bei seiner Anhörung beim Bundesamt am 10. April 2017 auf Streitigkeiten seiner Familie mit Nomaden (…) um den Besitz von Ländereien verwiesen, zum anderen auf die Ermordung seines Vaters in der von diesem betriebenen Bäckerei in …. Der Kläger hat in Bezug auf die Tötung seines Vaters auf eine vermutliche Urheberschaft der Taliban verwiesen. In Bezug auf beide Ereignisse, die der Kläger in Bezug nimmt, fehlt es an der Anknüpfung an ein verfolgungsrechtlich relevantes Merkmal im Sinne der §§ 3, 3b AsylG. Der Vortrag des Klägers knüpft nicht an ein Merkmal im Sinne der § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG an, denn es handelt sich nicht um eine Verfolgung aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Weiter hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass die Ermordung seines Vaters nicht bei der an sich zuständigen Polizei zur Anzeige gebracht worden sei. Bei den zuletzt geschilderten Ereignissen im Jahr 2015 handelt es sich um die Begehung von kriminellem Unrecht im weiteren Umfeld der klägerischen Familie. Eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheidet insoweit aus.
b) Eine Verfolgung allein wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara hat der Kläger nicht zu befürchten. Volkszugehörige der Hazara einschließlich der Untergruppe der Sayed/Sadat unterliegen in Afghanistan zwar einer gewissen Diskriminierung, sind aber keiner durch die Taliban oder anderer nichtstaatlicher Akteure an ihre Volks- oder Religionszugehörigkeit anknüpfenden gruppengerichteten politischen oder religiösen Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG ausgesetzt, noch besteht für sie eine entsprechende Gefahrendichte im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG.
Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (BVerwG, U.v. 18.7.2006 – 1 C 15/05 – BVerwGE 126, 243). Danach setzt die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung voraus, dass eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ vorliegt, die die Vermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (BayVGH, U.v. 3.7.2012 – 13A B 11.30064 – juris Rn. 20). Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinn der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden (BVerwG, U.v. 18.7.2006 – 1 C 15/05 a.a.O.).
Die Hazara sind eine in Untergruppen zerfallende Minderheiten-Volksgruppe in Afghanistan mit Siedlungsschwerpunkt in der Provinz Bamyan; ihre Zahl wird auf rund 1,5 Mio. Menschen in Afghanistan und rund 150.000 Menschen im Iran geschätzt. Hazara unterlägen zwar fortwährender, sozial, rassisch oder religiös motivierter gesellschaftlicher Diskriminierung in Form von Gelderpressungen durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Gewalt und Haft; die Zahl der Entführungen sei seit dem Jahr 2015 gestiegen, teils freigelassen bzw. gegen andere Häftlinge ausgetauscht worden (ACCORD, Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation, Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, Abfrage vom 26.8.2016, http://www.ecoi.net/local link/325973/465909_de.html:; auch Amnesty International – AI, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 5.2.2018, S. 21 f., 69 f. mit Verweis auf Bamyan als arme Region aber mit wenigen Sicherheitsvorfällen; EASO Country of Origin Information Report, Individuals targeted by armed actors in the conflict, Dezember 2017, S. 53, 55 a.E.). Es fehlt aber an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte (vgl. BayVGH, B.v. 24.1.2018 – 13a ZB 17.31611 – Rn. 6 m.w.N.; VGH BW, U.v. 17.1.2018 – A 11 S 241/17 – juris Rn. 68, 76 ff.). Auch unter Berücksichtigung und Würdigung der aktuellen Auskunftslage und der Stellungnahme des UNHCR (Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.4.2016; UNHCR, International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan vom 12.3.2018, S. 12 zu religiösen und ethnischen Minderheiten allgemein) ergibt sich keine abweichende rechtliche Bewertung. Nach den Lageberichten des Auswärtigen Amts hat sich für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazara die Lage grundsätzlich verbessert (so auch EASO Country of Origin Information Report, Individuals targeted by armed actors in the conflict, Dezember 2017, S. 53 f.). Die in den Lageberichten geschilderten Überfälle auf schiitische Einrichtungen in Kabul und anderen Städten des Landes zeigen die latenten Spannungen zwischen IS und Hazara, führen aber in ihrer räumlichen und zeitlichen Verteilung nicht zur Annahme einer auch in Kabul so für Hazara gesteigerten Leibes- und Lebensgefahr, die jeden zurückkehrenden Hazara treffen würde (vgl. auch VGH BW, U.v. 11.4.2018 – A 11 S 924/17 – juris Rn. 47 ff.). Eine höhere Gefahr besteht bei schiitischen Versammlungen und politischen Demonstrationen von Hazara (EASO Country of Origin Information Report, Individuals targeted by armed actors in the conflict, Dezember 2017, S. 54). Gleichwohl zeigt eine Auswertung der Überfälle auf Busreisende, dass Hazara weniger wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit als vielmehr wegen ihrer – auch als Beschäftigte der Regierung oder von Nichtregierungsorganisationen – intensiveren Reisetätigkeit im Vergleich zu anderen Volksgruppen häufiger Ziel von Überfällen und Entführungen entlang der Überlandstraßen werden, wobei die Zahl der Vorfälle zwischen 2015 und 2016 abgenommen habe (EASO Country of Origin Information Report, Individuals targeted by armed actors in the conflict, Dezember 2017, S. 54 f.). Eine vorwiegend ethnische Anknüpfung solcher Überfälle ist daher nicht belegt.
Die Situation einer gewissen Diskriminierung gilt auch für die Zugehörigkeit zur Religionsgruppe der Schiiten, da Schiiten zwar nicht in allen Landesteilen gleichermaßen zahlenmäßig vertreten sind, aber doch neben den Sunniten mit etwa 19% die zahlenmäßig nächst große Religionsgruppe bilden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 31.5.2018, S. 10 f.) und ein entsprechendes Gegengewicht bilden, so dass nicht von einer landesweiten Gruppenverfolgung ausgegangen werden kann. Sowohl im Rat der Religionsgelehrten als auch im Hohen Friedensrat sind auch Schiiten vertreten. Beide Gremien betonen, dass die Glaubensausrichtung keinen Einfluss auf ihre Zusammenarbeit habe (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 31.5.2018 S. 11). Auch wenn sich einzelne lokale oder regionale Angriffe der Taliban gegen Angehörige und Einrichtungen schiitischer Religionszugehörigkeit richten (vgl. AI, Auskunft vom 8.1.2018 an das VG Leipzig, S. 8; EASO Country of Origin Information Report, Individuals targeted by armed actors in the conflict, Dezember 2017, S. 53 f.), fehlt es jedenfalls an der für die Annahme einer landesweiten Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte. Schiiten sind daher keiner an ihre Religionszugehörigkeit anknüpfenden, gruppengerichteten Verfolgung durch die Taliban oder andere nichtstaatliche Akteure ausgesetzt (vgl. VG Augsburg, U.v. 23.10.2017 – Au 6 K 16.32308 – juris Rn. 20 m.w.N.).
3. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG. Der Kläger hat nicht glaubhaft machen können, dass ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
a) Es ist nicht zu erwarten, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan die Verhängung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 und 2 AsylG) drohen könnten. Der Kläger hat hierzu bereits keine Tatsachen vorgetragen bzw. glaubhaft gemacht. Hierzu ist auf die obigen Ausführungen zu verweisen.
Auch führt die Lage in Afghanistan gesamtbetrachtend nicht dazu, dass eine Abschiebung ohne Weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG oder ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen wäre (vgl. BayVGH, B.v. 16.1.2018 – 13a ZB 17.30687 – nicht veröffentlicht; B.v. 11.12.2017 – 13a ZB 17.31374 – juris; B.v. 8.11.2017 – 13a ZB 17.30615 – juris; B.v. 11.4.2017 – 13a ZB 17.30294 – juris; U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris; BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – NVwZ 2013, 1167).
Zudem wäre der Kläger auch insofern auf eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verweisen (§ 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3 e Abs. 1 AsylG).
b) Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf der Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG, wonach von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen ist, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Die Voraussetzungen hierfür liegen nicht vor, weil dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dortigen Situation keine erheblichen individuellen Gefahren aufgrund willkürlicher Gewalt landesweit drohen. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen zur Sicherheitslage in Afghanistan (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 31. Mai 2018 S. 4) erreicht der einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt jedenfalls in Kabul als innerstaatlicher Fluchtalternative kein solches Niveau, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (s. hierzu auch BayVGH, B.v. 6.3.2017 – 13a ZB 17.30099 – juris; B.v. 17.8.2016 – 13a ZB 16.30090 – juris; B.v. 10.6.2013 – 13a ZB 13.30128 – juris; U.v. 15.3.2013 – 13a B 12.30406 – juris; U.v. 20.1.2012 – 13a B 11.30394 – juris). Individuelle, gefahrerhöhende Umstände, die zu einer Verdichtung der allgemeinen Gefahren im Rahmen eines bewaffneten innerstaatlichen Konflikts in der Person des Klägers führen, sind nicht ersichtlich.
Der Kläger wäre in Kabul keiner Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG ausgesetzt.
Mit einer irgendwie gearteten Verfolgung durch die Taliban ist dort nicht zu rechnen, weil der Kläger in der Millionenmetropole Kabul untertauchen und anonym leben könnte, ohne entdeckt zu werden. In Kabul leben ca. 75% der Bevölkerung in informellen Siedlungen. Auch gibt es in Afghanistan kein Einwohnermeldewesen (VG Augsburg, U.v. 15.1.2018 – Au 5 K 17.31921 – juris Rn. 35; VG Düsseldorf, U.v. 14.11.2017 – 9 K 12078/16.A -juris Rn. 50). Das Gericht ist der Überzeugung, dass eine Person sich ohne Weiteres, gegebenenfalls unter falscher Identität, in einer afghanischen Großstadt aufhalten kann, ohne entdeckt oder identifiziert zu werden.
Die Voraussetzungen des § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass der Kläger sicher und legal in den Landesteil reisen können muss, welcher die Fluchtalternative darstellt, ist ebenfalls erfüllt, da Kabul der übliche Zielort von Rückführungen nach Afghanistan ist (vgl. VG Würzburg, U.v. 17.3.2017 – W 1 K 16.30736 – juris Rn. 37).
Vom Kläger kann auch vernünftigerweise erwartet werden, sich in Kabul niederzulassen.
Dabei geht der Prüfungsmaßstab über das Fehlen einer beachtlichen existenziellen Notlage in § 60 Abs. 7 AufenthG hinaus, so dass beispielsweise auch die
sozio-ökonomischen Verhältnisse und die Sicherheitslage zu berücksichtigen sind (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – BVerwGE 146, 12 – 31 – juris Rn. 20).
Hinsichtlich der Sicherheitslage gilt, dass die sich selbst bei einer Verdreifachung der Anzahl der im Jahr 2017 verletzten oder Getöteten auf Grund einer hohen Dunkelziffer für die Zentralregion Afghanistans eine Wahrscheinlichkeit von ca. 1 : 967, verletzt oder getötet zu werden, ergibt, was keine erhebliche individuelle Gefahr darstellen würde.
Trotz der bestehenden sozio-ökonomischen Widrigkeiten würde es dem Kläger nach Auffassung des Gerichts aller Voraussicht nach möglich sein, Arbeit als Tagelöhner zu finden und dadurch seine Grundbedürfnisse zu sichern.
In den meisten Branchen, beispielsweise im Baubereich, werden Tagelöhner eingesetzt; das Existenzminimum für eine Person kann durch solche Aushilfsjobs erwirtschaftet werden (VG Berlin, U.v. 10.2.2016 – 9 K 535.13 A – juris Rn. 56). Auch durfte das angekündigte, verstärkte Engagement USamerikanischer Truppen in Afghanistan der Wirtschaft im Land einen gewissen Aufschwung verleihen. In Kabul herrscht zudem auch keine Nahrungsmittelknappheit, so dass der Kläger sich mit den notwendigen Lebensmitteln versorgen kann. Hinzu kommt, dass der Kläger sich bereits in Afghanistan erwerbsmäßig betätigt hat. So war der Kläger nach seinem eigenen Vorbringen etwa ein Jahr lang mit den verschiedensten Tätigkeiten in der von seinem Vater vormals betriebenen Bäckerei beschäftigt.
Der Kläger ist in Afghanistan auch nicht generell einer ernsthaften individuellen Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG) ausgesetzt. Die Frage, ob in den Landesteilen Afghanistans, etwa in der ehemaligen Heimatprovinz des Klägers, willkürliche Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts anzunehmen ist, kann letztlich dahinstehen. Denn jedenfalls bestehen im Hinblick auf eine ernsthafte individuelle Bedrohung auf Grund eines bewaffneten, innerstaatlichen Konflikts für den Kläger inländische Fluchtalternativen gemäß § 4 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG.
Die von einem bewaffneten Konflikt ausgehende allgemeine Gefahr muss sich in der Person des Klägers so verdichtet haben, dass sie eine erhebliche individuelle Gefahr im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG darstellt. Gefahrerhöhende Umstände in der Person des Betroffenen können die allgemeine Gefahr individualisieren. Solche individuellen, gefahrerhöhenden Umstände sind persönliche Umstände und können sich etwa aus einer berufsbedingten Nähe zu einer Gefahrenquelle oder einer bestimmten religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit ergeben (BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13/10 – juris Rn. 17 ff.; VG München, U.v. 20.4.2017 – M 17 K 16.35674 – juris Rn. 44).
Das Gericht geht aus den vorgenannten Gründen auch unter Berücksichtigung des Gutachtens von Frau … vom 28. März 2018 an das Verwaltungsgericht … davon aus, dass jedenfalls männlichen und gesunden arbeitsfähigen Afghanen eine Rückkehr nach Afghanistan in der Regel auch ohne familiäre Unterstützung und ohne eigenes Vermögen zumutbar ist und solche ihren Lebensunterhalt nach einer Wiedereingliederungsphase zumindest auf einem niedrigen Niveau sicherstellen können (so auch VGH BW, U.v. 11.4.2018 – A 11 S 924/17 – juris Rn. 336; bereits zuvor HessVGH, B.v. 30.1.2017 – 7 A 1856/16.Z.A. – juris).
Zur Bestimmung einer ausreichenden Gefahrendichte ist durch Auswertung aktueller Quellen die Gesamtzahl der in der Provinz lebenden Zivilpersonen annäherungsweise zu ermitteln und zur Häufigkeit von Akten willkürlicher Gewalt sowie der Zahl der Verletzten und Getöteten in Beziehung zu setzen (VG München, U.v. 20.4.2017 – M 17 K 16.35674 – juris Rn. 45 ff.). Ab welchem Verhältnis von verletzten und getöteten Personen zur Gesamtbevölkerung der Provinz oder Region dabei wegen der hohen Gefahrendichte eine Begründung des subsidiären Schutzes anzunehmen ist, kann offen bleiben. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes (BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13/10 – juris Rn. 22; BayVGH, U.v. 21.1.2010 – 13a B 08.30285 – juris Rn. 27), ist jedenfalls ein Risiko von 1 : 800, in einem Gebiet verletzt oder getötet zu werden, nicht ausreichend, um eine individuelle, erhebliche Gefahr allein auf Grund der Anwesenheit in diesem Gebiet anzunehmen.
In der Zentralregion Afghanistans wurden nach Angaben der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) im Jahr 2017 insgesamt 2.240 Zivilpersonen getötet oder verletzt. Ausgehend von einer Einwohnerzahl von insgesamt ca. 6,5 Mio. ergibt sich ein jährliches Risiko, verletzt oder getötet zu werden, von 1 : 2.901. Selbst bei einer Verdreifachung der Anzahl der Verletzten und Getöteten auf Grund einer hohen Dunkelziffer ergäbe sich eine Wahrscheinlichkeit von ca. 1 : 967, was keine erhebliche individuelle Gefahr darstellen würde.
Bei Betrachtung der Provinz Kabul allein gelangt man zu folgendem Ergebnis: Dort gab es 2017 insgesamt 1.831 verletzte oder getötete Zivilisten, davon 479 Tote und 1.352 Verletzte. Bei einer Bevölkerungszahl in der Provinz Kabul von ca. 4,4 Mio. Einwohnern (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017, vom 28. Juli 2017, dort S. 10) entspräche dies keinem hinreichend großen Risiko, Oper willkürlicher Gewalt zu werden. Dieses läge, auf ein ganzes Jahr bezogen, bei ca. 1 : 2.403 (vgl. VG Augsburg, U.v. 12.1.2018 – Au 5 K 17.31188 – juris Rn. 32 ff.; VG Leipzig, U.v. 8.12.2017 – 8 K 1290/17.A – juris).
Dies zu Grunde gelegt ist damit von einem Risiko für den Kläger auszugehen, welches keinen Schutzanspruch gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG begründet. Selbst wenn ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt auch in der zentralafghanischen Region oder in Kabul selbst bestehen sollte, so geht von diesem jedenfalls keine erhebliche individuelle Gefahr für den Kläger im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.
Weiter weist das Gericht darauf hin, dass neben Kabul auch die afghanische Großstadt Herat eine inländische Fluchtalternative vor den Gefahren ernsthafter Schäden im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AsylG darstellt. Selbst wenn man daher mit den am 30. August 2018 bekanntgemachten neuen Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender davon ausgeht, dass Kabul als innerstaatliche Fluchtalternative ausscheidet, ist für den Kläger jedenfalls eine Rückkehr nach Herat möglich und zumutbar.
In der westlichen Region Afghanistans, zu der auch die Provinz Herat zählt, wurden nach Angaben der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen Afghanistan (UNAMA, Jahresreport 2017, dort S. 7) im Jahr 2017 insgesamt 998 Zivilpersonen getötet oder verletzt. Ausgehend von einer Einwohnerzahl von insgesamt ca. 3,5 Mio. in dieser Region (vgl. VG München, U.v. 11.7.2017 – M 26 K 17. 30939 – juris Rn. 29), ergibt sich ein jährliches Risiko von 1:3507 verletzt oder getötet zu werden. Selbst bei einer Verdreifachung der Anzahl der Verletzten und Getöteten aufgrund einer hohen Dunkelziffer ergäbe sich eine Wahrscheinlichkeit von 1:1196, was nach dem vom Bundesverwaltungsgericht gebilligten Maßstab – danach ist ein Risiko von 1:800, in einem Gebiet verletzt oder getötet zu werden, nicht ausreichend, um eine individuelle, erhebliche Gefahr allein aufgrund der Anwesenheit in diesem Gebiet anzunehmen – (BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13/10 – juris Rn. 22; BayVGH, U.v. 21.1.2010 – 13a B 08.30285 – juris Rn. 27) keine erhebliche individuelle Gefahr darstellt.
Zum gleichen Ergebnis gelangt man bei alleiniger Betrachtung der Provinz Herat. Dort gab es im Jahr 2017 insgesamt 495 verletzte und getötete Zivilisten, davon 238 Tote und 257 Verletzte (UNAMA, Halbjahresbericht 2017, S. 67). Bei einer Bevölkerungszahl in der Provinz Herat von ca. 1,9 Mio. Einwohnern entspreche dies keinem für eine Schutzgewährung ausreichendem Risiko, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden. Dieses läge bei 1:3838, bei einer hypothetischen Verdreifachung bei 1:1279.
Der Kläger könnte auch sicher und legal i.S.d. § 3e AsylG nach Herat reisen. Üblicher Zielort von Rückführungen abgelehnter Asylbewerber ist zwar Kabul. Von dort aus fliegen täglich drei Flugzeuge der afghanischen Fluglinie Kam Air zum Flughafen von Herat. Darüber hinaus gibt es auch einige internationale Flüge nach Herat.
Schließlich kann vom Kläger auch vernünftigerweise erwartet werden, dass er sich in Herat niederlässt. Schließlich weist das Gericht darauf hin, dass dem Kläger die Abschiebung nach Afghanistan und nicht ausschließlich nach Kabul angedroht wurde.
Die Provinz und die Stadt Herat sind schon seit langem Zielort zahlreicher, oft mittelloser Binnenflüchtlinge aus umliegenden Gebieten. In Herat leben lt. EASO zwischen ca. 477.000 und 730.000 Menschen. Herat verfügt über eine starke und relativ vielfältige Wirtschaft. Herat ist einer von Afghanistans größten Handelspunkten, allerdings wird ein Rückgang des Handelsvolumens aufgrund der stagnierenden Wirtschaft erwartet. Die Lage für Rückkehrer in Herat ist eine ähnliche wie die in Kabul. Die mit Abstand wichtigste Einkommensquelle sind Gelegenheitsarbeiten, z.B. im Bausektor oder beim Warentransport auf Märkten. Der Zugang zur medizinischen Versorgung ist in Herat besser als in anderen Großstädten. Zwar ist das dortige Gesundheitssystem immer noch im Aufbau befindlich, jedoch sind Psychotherapie und Medikamente in allen Gesundheitszentren der Provinz verfügbar. Bei einfachen Beschwerden können sich Rückkehrer an die kostenlosen staatlichen Stellen wenden.
Gemessen hieran würde es dem Kläger nach Auffassung des Gerichts voraussichtlich möglich sein, in Herat wirtschaftlich Fuß zu fassen. Es ist in dieser Stadt üblich und relativ leicht möglich, Arbeit als Tagelöhner zu finden und sich auf diese Weise angemessen zu versorgen. Trotz aller bestehenden Widrigkeiten würde es dem Kläger nach Auffassung des Gerichts aller Voraussicht nach möglich sein, in Herat Arbeit als Tagelöhner zu finden und dadurch seine Grundbedürfnisse zu sichern.
4. Die Klage ist jedoch insoweit zulässig und begründet, als der Kläger einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans hat. Die diesem entgegenstehenden Nrn. 4 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes vom 10. Mai 2017 waren daher antragsgemäß aufzuheben.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen, wie sie der Kläger hier ausschließlich geltend macht, liegt nach Satz 2 der Regelung nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch eine Abschiebung wesentlich verschlechtern, also zu außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden führen würden, wobei die wesentliche Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Zielstaat eintreten müsste (vgl. VG München, B.v. 26.4.2016 – M 16 S7 16.30786 -, juris Rn. 16). Dass die medizinische Versorgung im Zielstaat (Afghanistan) mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig oder überall gewährleistet ist, ist hierbei nicht erforderlich, § 60 Abs. 7 Satz 3 und 4 AufenthG.
Allerdings kann es auf die an sich im Zielstaat vorhandenen und grundsätzlich zugänglichen Behandlungsmöglichkeiten dann nicht ankommen, wenn diese wegen der insbesondere bei Vorliegen einer PTBS bzw. schwergradigen depressiven Episode im Herkunftsland zu erwartenden Retraumatisierung auf Grund der Konfrontation mit den Ursachen des Traumas für den Betroffenen nicht erfolgversprechend sind (vgl. Nds. OVG, U.v. 28.6.2011 – 8 LB 221/09 – juris Rn. 29; VG München, B.v. 26.4.2016 – a.a.O., juris Rn. 19).
Der sich auf eine seiner Abschiebung entgegenstehende Erkrankung berufende Ausländer muss diese durch eine qualifizierte, gewissen Mindestanforderungen genügende ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen (vgl. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG). Aus dem vorgelegten Attest muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage die Diagnose gestellt wurde und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen ärztlichen Befunde bestätigt werden. Zudem sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben.
Es entspricht inzwischen gefestigter Rechtsprechung (vgl. BayVGH, B.v. 9.11.2017 – 21 ZB 17.30468 – juris Rn. 4; B.v. 10.1.2018 – 10 ZB 16.30735 – juris Rn. 8; OVG NRW, B.v. 9.10.2017 – 13 A 1807/17A – juris Rn. 19 ff; OVG LSA, B.v. 28.9.2017 – 2 L 85/17 – juris Rn. 2 ff), dass die Anforderungen an ein ärztliches Attest gemäß § 60a Abs. 2c AufenthG auf die Substantiierung der Voraussetzungen eines krankheitsbedingten Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG zu übertragen sind (vgl. BayVGH, B.v. 24.1.2018 – 10 ZB 18.30105 – juris Rn. 7).
Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze hat der Kläger hier das Vorliegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinreichend glaubhaft gemacht. Ausweislich der im gerichtlichen Verfahren vorgelegten fachärztlichen Stellungnahme des Universitätsklinikums Ulm – Klinik für Kinder,- und Jugendpsychiatrie / Psychotherapie vom 28. September 2018 wurde beim Kläger eine posttraumatische Belastungsstörung (F43.1G) sowie neuerlich eine schwere depressive Episode (F32.2G) nach ICD-10 diagnostiziert. Diese Diagnosen basieren auf eingehender Anamnese, psychopathologischem Untersuchungsbefund durch einen Facharzt sowie auf diagnostischen Verfahren. Anamnestisch gebe der Kläger zahlreiche traumatische Erlebnisse an, insbesondere die Ermordung seines Vaters in seiner Gegenwart, sowie Tötung seines Bruders, das Verbringen an die afghanische Grenze durch seinen Onkel, um ihn vor weiteren Übergriffen der Taliban auf die Familie zu bewahren. Hinzu kämen erneute Folter in der Türkei sowie die Überfahrt über das Mittelmeer an. Initial habe der Kläger häufige Wiedererlebenssymptome, Flashbacks und Alpträume sowie starke Anspannungszustände und Schlafstörungen angegeben. Für den Kläger sei eine konsequente Behandlung der depressiven Symptome mit regelmäßigen Terminen durch eine anerkannte und evidenzbasierte psychotherapeutische Methode dringend erforderlich. Der Kläger werde derzeit durch eine medikamentöse Therapie unterstützt (Neuroleptikum Seroquel). Ein Abbruch der Behandlung im derzeitigen Stadium habe für den Kläger gravierende Folgen. Aufgrund der mangelnden psychiatrischen Versorgung im Herkunftsland sowie dem Verlust signifikanter Bezugspersonen (Tod des Vater, Tod des Bruders) sowie möglichen Gefahren für Leib und Leben im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan bestehe die Gefahr einer weiteren akuten Verschlechterung des Gesundheitszustandes insbesondere der vorliegenden schweren depressiven Verstimmung, Hoffnungslosigkeit und Suizidalität. Es bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit einer möglichen Verschlechterung bis hin zum Suizid des Klägers. Beim Kläger kommt hinzu, dass dieser bereits einen Suizidversuch unternommen hat. Der Kläger müsse weiterhin dringend psychiatrisch und auch psychotherapeutisch behandelt werden. Aus fachärztlicher Sicht sei eine Abschiebung des Klägers nicht zu vertreten.
Der Vortrag des Klägers, der die bei ihm vorliegende posttraumatische Belastungsstörung ausgelöst hat, ist in diesem Zusammenhang auch nicht als gänzlich unschlüssig zu bezeichnen. Auf die von den Fachärzten krankheitsauslösend genannten Ereignisse hat der Kläger bereits bei seiner persönlichen Anhörung hingewiesen. Die fachärztlichen Stellungnahmen enthalten weitere Angaben darüber, seit wann sich der Kläger in ärztlicher Behandlung befunden hat bzw. noch befindet. Insbesondere sind der Beginn der ärztlichen Behandlungen und die erforderlich werdende und zur Anwendung gebrachte Therapie dargelegt. Auch lässt sich den fachärztlichen Attesten entnehmen, dass die vom Kläger geschilderten psychischen Beschwerden durch fachärztlicherseits durchgeführte qualifizierte Erhebungen bestätigt wurden. Die Atteste geben Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf in Form medikamentöser Behandlung. Das Gericht hat anlässlich der fachärztlich festgestellten posttraumatischen Belastungsstörung sowie der depressiven Episode vor diesem Hintergrund keinen Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen fachärztlichen Aussagen zu zweifeln und daher auch keine Notwendigkeit gesehen, ein zusätzliches Sachverständigengutachten einzuholen. Auch in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger einen psychisch äußerst labilen Eindruck vermittelt.
Das Gericht ist weiter davon überzeugt, dass die beim Kläger vorliegende posttraumatische Belastungsstörung und depressive Störung behandlungsbedürftig sind. Dem fachärztlichen Attest vom 28. September 2018 ist überdies zu entnehmen, aufgrund welcher angewandten Methodik die den Kläger behandelnden Fachärzte zur Feststellung der beim Kläger vorliegenden Erkrankungen gelangt sind. Dies bleibt gerichtlich unbeanstandet. Das Gericht ist weiter davon überzeugt, dass die beim Kläger vorliegende posttraumatische Belastungsstörung und schwere depressive Episode akut behandlungsbedürftig ist.
Im Einzelfall hat das Gericht auch keine Zweifel, dass der Kläger die erforderliche Behandlung der bei ihm vorliegenden posttraumatischen Belastungsstörung in Afghanistan zumindest faktisch nicht erhalten könnte. Zwar geht das Gericht nicht generell davon aus, dass psychische Erkrankungen in Afghanistan nicht hinreichend behandelt werden können, vielmehr ist jeweils eine Würdigung der Umstände des konkreten Einzelfalls erforderlich. Der bei ihm vorliegenden posttraumatischen Belastungsstörungen und der schweren depressiven Episode in Afghanistan zumindest faktisch nicht erhalten könnte.
Ausweislich des Berichtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 31. Mai 2018 (Stand Mai 2018; dort Seite 27) findet die Behandlung von psychischen Erkrankungen (insbesondere Kriegstraumata) abgesehen von einzelnen Pilotprojekten nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Gleichzeitig würden viele Afghaninnen und Afghanen unter psychischen Symptomen der Depression, Angststörung oder posttraumatischer Belastungsstörung leiden. Lediglich in Kabul gebe es zwei psychiatrische Einrichtungen. Insbesondere notwendig werdende Folgebehandlungen seien oft schwierig zu leisten. Traditionell mangele es in Afghanistan an einem Konzept für psychisch Kranke. Sie würden nicht selten in spirituellen Schreinen unter teilweise unmenschlichen Bedingungen „behandelt“ oder es werde versucht, ihnen in einer „Therapie“ mit Brot, Wasser und Pfeffer den „bösen Geist auszutreiben“ (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes, a.a.O., S. 27). Die Erkrankung des Klägers aufgrund der Erlebnisse in Afghanistan und die Aussagen im Lagebericht des Auswärtigen Amtes zugrunde legend kann für den Kläger deshalb nicht mit hinreichender Sicherheit angenommen werden, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan zeitnah die für ihn medizinisch erforderliche und bereits begonnene psychiatrische Behandlung erhalten bzw. fortsetzen kann.
Weiter ist zur Überzeugung des Gerichts davon auszugehen, dass sich die multiplen psychischen Erkrankungen des Klägers (posttraumatische Belastungsstörung ICD-10 F 43.1 und schwere depressive Episode ICD-10 F 32.2G) ohne Behandlung nach einer Rückkehr nach Afghanistan alsbald und wesentlich verschlimmern würden. Gemessen an der erfolgten fachärztlichen Einschätzung, an der das Gericht keine Zweifel hat, und dem bereits einmal erfolgten Suizidversuch des Klägers, ist festzustellen, dass sich die psychischen Erkrankungen des Klägers verschlimmern würden. Aufgrund der fachärztlich festgestellten Erkrankungen und der bereits einmal erfolgten Selbstverletzung des Klägers kann auch eine Suizidalität nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.
Nach alledem ist auf Grundlage der vorgelegten psychologischen Stellungnahme, die auch die erforderliche Aktualitäten aufweist, nach Überzeugung des Gerichts davon auszugehen, dass dem Kläger ein Schutzanspruch im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zusteht, nicht nach Afghanistan abgeschoben zu werden. Nrn. 4, 5 und 6 des Bescheides, die dieser Feststellung entgegenstehen, waren daher antragsgemäß aufzuheben.
5. Die Kostenentscheidung erfolgt aus § 155 Abs. 1 VwGO und trägt den jeweiligen Obsiegen und Unterliegen der Beteiligten Rechnung. Das Verfahren ist nach § 83b Gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).


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