Verwaltungsrecht

Leinenzwang für Schäferhunde wegen konkreten Gefahr

Aktenzeichen  10 ZB 16.2594

Datum:
11.4.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 108394
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 108 Abs. 1, § 124 Abs. 2 Nr. 1
LStVG Art. 18 Abs. 1 S. 1, Abs. 2

 

Leitsatz

1. Eine Berufungszulassung wegen ernstlicher Zweifel iSd § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO hinsichtlich der Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts kommt nur in Betracht, wenn aufgezeigt wird, dass es mit Blick auf entscheidungserhebliche Tatsachen von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist oder die Beweiserhebung gedankliche Lücken oder Ungereimtheiten aufweist (stRspr, wie BayVGH BeckRS 2016, 48795). (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Glaubwürdigkeit eines Zeugen ist nicht zwingend damit infrage gestellt, dass er sich nicht mehr an das genaue Datum eines Vorfalls erinnern kann. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
3. Von großen Hunden, die auf öffentlichen Straßen und Wegen mit relevantem Publikumsverkehr frei umherlaufen oder die nicht ausbruchsicher untergebracht sind, geht in der Regel eine Gefahr iSd Art. 18 Abs. 2 iVm Abs. 1 S. 1 LStVG für Leib und Leben Dritter aus, ohne dass es schon zu Beißvorfällen gekommen sein müsste (stRspr, vgl. BayVGH BeckRS 2016, 45082). (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 15 K 16.00396 2016-08-09 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 22. Februar 2016 weiter. Mit diesem Bescheid wird der Kläger insbesondere verpflichtet, „die derzeit in seinem Haushalt gehaltenen vier Schäferhunde“ im öffentlichen Verkehrsraum innerhalb geschlossener Ortslage stets angeleint zu führen.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist zulässig, soweit mit ihm ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) geltend gemacht werden. Er bleibt jedoch in der Sache ohne Erfolg, weil sich aus dem Vortrag des Klägers, auf dessen Überprüfung der Senat im Zulassungsverfahren beschränkt ist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO), die geltend gemachten ernstlichen Zweifel nicht ergeben.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinn von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (stRspr, BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Der Kläger begründet seinen Angriff auf das Urteil mit dem Vortrag, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht eine von seinen Hunden ausgehende konkrete Gefahr angenommen und sich dabei in erster Linie auf die Aussage des Zeugen T. gestützt; es habe jedoch dessen Aussage als schlüssig und widerspruchsfrei bewertet, ohne objektive Bewertungskriterien heranzuziehen, und die Aussage ausschließlich mit dem Inhalt des Schreibens von T. vom 16. September 2015 an die Beklagte abgeglichen. Dabei habe sich der Zeuge noch nicht einmal an das genaue Datum des angeblichen Vorfalls mit den Hunden des Klägers erinnern, vielmehr nur eine grobe Einordnung „in etwa im Herbst 2014“ vornehmen können. Hätte es sich aber wirklich um ein bemerkenswertes Ereignis für den Zeugen gehandelt, müsse ihm mindestens noch das Datum in Erinnerung sein, zumal der Vorgang nicht so lange zurückliege, dass von einem Vergessen ausgegangen werden könne. Aus der Aussage des Zeugen ergebe sich auch keine von den Hunden ausgehende Gefahr.
Mit diesen Ausführungen vermag der Kläger die Begründung des Verwaltungsgerichts zur konkreten Gefahr, mit der die Anordnung des Leinenzwangs gerechtfertigt wird, nicht ernstlich in Zweifel zu ziehen. Er zeigt keine substantiierten tatsächlichen Umstände auf, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung im Hinblick auf die Beurteilung der konkreten Gefahr unrichtig ist (BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546). Die bloße Möglichkeit einer anderen Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Zeugen T. und damit des Ergebnisses der Beweisaufnahme (vgl. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) allein genügt zur Begründung ernstlicher Zweifel nicht. Soweit sich das tatsächliche Vorbringen im Zulassungsverfahren – wie im vorliegenden Fall – auf die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Sachverhalts- und Beweiswürdigung bezieht, kommt eine Zulassung der Berufung wegen ernstlicher Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nur in Betracht, wenn aufgezeigt wird, dass die Richtigkeit der richterlichen Überzeugungsbildung mangelhaft ist, weil das Verwaltungsgericht mit Blick auf entscheidungserhebliche Tatsachen von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist oder die Beweiserhebung gedankliche Lücken oder Ungereimtheiten aufweist, was insbesondere bei einer Verletzung von gesetzlichen Beweisregeln, Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen, bei aktenwidrig angenommenem Sachverhalt oder offensichtlich sachwidriger und damit willkürlicher Beweiswürdigung anzunehmen ist (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, B.v. 5.7.2016 – 10 ZB 14.1402 – juris Rn. 6; B.v. 14.3.2016 – 15 ZB 16.168 – juris Rn. 8; B.v. 9.10.2013 – 10 ZB 13.1725 – juris Rn. 5 f.; OVG BB, B.v. 17.5.2016 – OVG 11 N 36.15 – juris Rn. 8; NdsOVG, B.v. 17.5.2016 – 8 LA 40/16 – juris Rn. 25; Rudisile in Schoch/Schneider/Bier, Verwaltungsgerichtsordnung, Stand: Juni 2016, § 124 Rn. 26g m.w.N.; zur verfahrensrechtlichen Rüge eines Verstoßes gegen den Überzeugungsgrundsatz aus § 108 Abs. 1 VwGO vgl. z.B. BVerwG, B.v. 29.7.2015 – 5 B 36.14 – juris Rn. 13).
Derartige Mängel in der verwaltungsgerichtlichen Überzeugungsbildung, die auf eine völlig unvertretbare Beweiswürdigung hinauslaufen, werden mit der Zulassungsbegründung jedoch nicht dargetan und sind auch nicht ersichtlich. Vielmehr ist die aufgrund der Zeugenaussage gewonnene Überzeugung des Erstgerichts, der für die Beurteilung der konkreten Gefahr maßgebliche Vorfall im Herbst 2014 habe sich so, wie von T. geschildert, abgespielt, nicht nur nachvollziehbar, sondern auch naheliegend. Das vom Kläger insbesondere hervorgehobene mangelhafte „Erinnerungsvermögen“ des Zeugen bezog sich dabei – trotz der insoweit nicht eindeutigen Wiedergabe in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung – ausschließlich auf den genauen Zeitpunkt des vom Verwaltungsgericht als maßgeblich angesehenen Vorfalls, nicht jedoch auf den Ablauf des “Angriffs“ der Hunde im Einzelnen. Die Glaubwürdigkeit des Zeugen ist insbesondere nicht zwingend damit infrage gestellt, dass er sich nicht mehr an das genaue Datum des Vorfalls erinnern konnte, obwohl er zum Zeitpunkt seiner Aussage noch nicht so weit in der Vergangenheit lag, dass man das Datum „gewöhnlich“ vergessen hat. Es entspricht vielmehr allgemeiner Lebenserfahrung, dass auch einmalige Ereignisse schon nach relativ kurzer Zeit nicht mehr mit ihrem exakten Datum benannt werden können, obwohl der genaue Geschehensablauf ohne Schwierigkeiten geschildert werden kann. Die vom Kläger geforderten „objektiven Bewertungskriterien“ für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen gibt es in dieser Form nicht; entscheidend ist vielmehr der vom Gericht in der mündlichen Verhandlung vom Zeugen gewonnene Gesamteindruck, in den neben dem Inhalt seiner Aussage sämtliche sonstigen Wahrnehmungen des Gerichts zur Person des Zeugen, die selbstverständlich auch subjektiver Natur sein können, einfließen. Auch der Abgleich des Inhalts der in der mündlichen Verhandlung gemachten Äußerungen mit zurückliegenden schriftlichen Äußerungen des Zeugen stellt einen „Baustein“ bei der Beurteilung seiner Glaubwürdigkeit dar. Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis den von ihm in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck mit den Worten „schlüssig und im Wesentlichen widerspruchsfrei“ zusammengefasst und einen „Belastungseifer“ des Zeugen nicht erkennen können. Damit hat es eine tragfähige Grundlage für seine innere Überzeugungsbildung wiedergegeben und so dem Gebot der freien Beweiswürdigung des § 108 Abs. 1 VwGO Rechnung getragen. Anhaltspunkte für die geltend gemachte fehlerhafte Beweiswürdigung liegen daher nicht vor.
Das Verwaltungsgericht hat die angenommene konkrete Gefahr im Übrigen nicht nur mit dem vom Zeugen bestätigten Vorfall begründet, sondern auch unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des Senats (vergleiche zuletzt U.v. 6.4.2016 – 10 B 14.1054 – juris); danach geht von großen Hunden – wie den Schäferhunden des Klägers -, die auf öffentlichen Straßen und Wegen mit relevantem Publikumsverkehr frei umherlaufen oder die nicht ausbruchssicher untergebracht sind, in der Regel eine konkrete Gefahr im Sinn von Art. 18 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 LStVG für Leib und Leben Dritter aus, ohne dass es schon zu Beißvorfällen gekommen sein müsste. Das Verwaltungsgericht hat diese Überlegung in seinem Urteil (UA, S. 7, 1. Absatz) ebenfalls als maßgeblich für das Vorliegen einer konkreten Gefahr angesehen. Hierauf geht die Zulassungsbegründung nicht ein.
Weitere Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils werden nicht geltend gemacht. Soweit der Schriftsatz vom 16. Januar 2017 eingangs einen Hinweis auf die Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nr. 2 und 3 VwGO enthält, fehlt es im Weiteren an jeglicher Darlegung der Gründe (vgl. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO), wegen derer die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweisen oder ihr grundsätzliche Bedeutung zukommen sollte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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