Verwaltungsrecht

Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Frage der Minderjährigkeit im Hinblick auf die Gewährung von Familienflüchtlingsschutz

Aktenzeichen  Au 5 K 18.31209

Datum:
20.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 24575
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 26 Abs. 3 S. 1, Abs. 5 S. 1
RL 2011/95/EU Art. 23 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Frage der Minderjährigkeit im Rahmen des „Elternschutzes“ nach § 26 Abs. 3 S. 1 AsylG ist der Zeitpunkt der Asylantragstellung der Eltern und nicht der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. der Entscheidung des Bundesamtes über den Antrag der Eltern (VG Karlsruhe BeckRS 2018, 3431; VG Stuttgart BeckRS 2018, 13324; VG Sigmaringen BeckRS 2017, 110231). (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
2 Das Recht der Familienangehörigen vom Stammberechtigten einen Schutzstatus abzuleiten, ist zeitlich, anders als bei § 36 AufenthG, nicht auf die Minderjährigkeit beschränkt. Es hängt stattdessen vom Bestand von dessen internationalem Schutz des Stammberechtigten ab, der mit der Volljährigkeit gerade nicht endet (vgl. VG Stuttgart BeckRS 2018, 13324).  (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Juni 2018 wird in den Nrn. 1, 3, 4, 5 und 6 aufgehoben.
II. Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen.
III. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
IV. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage der Kläger ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten übereinstimmend mit einer solchen Einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Die zulässige Klage hat Erfolg. Der mit der Klage angegriffene Bescheid des Bundesamtes vom 29. Juni 2018 ist in Nrn. 1, 3, 4, 5 und 6 rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Kläger besitzen im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) aufgrund der Bestimmungen über das Familienasyl in § 26 AsylG.
Die Kläger haben einen Anspruch auf Gewährung von Familienflüchtlingsschutz nach § 26 Abs. 3, Abs. 5 Satz 1, Satz 2 AsylG.
Nach Maßgabe des § 26 Abs. 3 Satz 1, Abs. 5 Satz 1, Satz 2 AsylG werden die Eltern eines minderjährigen ledigen Flüchtlings oder ein anderer Erwachsener im Sinne des Art. 2 j) der Richtlinie 2011/95/EU auf Antrag die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn 1. die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar ist, 2. Die Familie im Sinne des Art. 2 j) der Richtlinie 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Flüchtling verfolgt wird, 3. sie vor der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eingereist sind oder sie den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt haben, 4. die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist und 5. sie die Personensorge für den Flüchtling innehaben.
Die Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
Dem am … 2000 in … (Irak) geborenen Sohn der Kläger … (Gz. des Bundesamtes: …) wurde mit unanfechtbar gewordenem Bescheid des Bundesamtes vom 5. Juli 2017 die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuerkannt.
Auch die weiteren in § 26 Abs. 3 Satz 1 Ziffern 2 bis 5 AsylG genannten Voraussetzungen des in „Elternschutzes“ liegen vor. Die Familie im Sinne des Art. 2 j) der Richtlinie 2011/95/EU, mithin die maßgebliche Eltern-Sohn-Beziehung, bestand bereits im Irak. Die Kläger sind am 21. März 2018 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und haben in unmittelbaren Zusammenhang am 10. April 2018 Asylerstanträge gestellt. Anhaltspunkte dafür, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf oder eine Rücknahme (§ 73 AsylG) betreffend die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft des Sohnes der Kläger derzeit vorliegen oder das die Kläger im Zeitpunkt ihrer Einreise nicht mehr die Personensorge für ihren Sohn innehatten, sind weder von der Beklagten vorgetragen noch sonst ersichtlich. Ausschlussgründe nach § 26 Abs. 4 und 6 AsylG liegen ebenfalls nicht vor.
Der am … 2000 geborene Sohn … der Kläger war im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Asylantragstellung der Kläger am 10. April 2018 auch noch unter 18 Jahre alt und damit minderjährig (vgl. § 12 Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 2 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB). Entgegen der im angegriffenen Bescheid geäußerten Rechtsauffassung des Bundesamtes ist maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Frage der Minderjährigkeit im Rahmen des „Elternschutzes“ nach § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG der Zeitpunkt der Asylantragstellung der Eltern und nicht der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. der Entscheidung des Bundesamtes über den Antrag der Eltern (vgl. VG Karlsruhe, U.v. 8.2.2018 – A 2 K 7425/16 – juris Rn. 20; VG Stuttgart, U.v. 23.5.2018 – A 1 K 17/17 – juris Rn. 24 f.; VG Sigmaringen, U.v. 21.4.2017 – A 3 K 3159/16 – juris Rn. 19, 20).
Zwar ist nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG grundsätzlich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. im schriftlichen Verfahren auf die Entscheidung in diesem abzustellen. Von diesem Grundsatz ist jedoch eine Ausnahme zu machen, wenn – wie hier – nach dem materiellen Recht ein früherer Zeitpunkt entscheidend ist. Die Maßgeblichkeit eines früheren Beurteilungszeitpunktes folgt zwar nicht bereits aus dem Wortlaut des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG, ergibt sich allerdings aus einer unionsrechtlich geprägten teleologischen und historischen Auslegung der Norm.
§ 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG trifft keine explizite Bestimmung zu der Frage, zu welchem Zeitpunkt das stammberechtigte Kind minderjährig und ledig gewesen sein muss.
Unionsrechtlich geprägte Erwägungen sprechen dafür, dass – ungeachtet des insoweit offenen Wortlautes in § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG – auch beim „Elternschutz“ des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG der Zeitpunkt der Asylantragstellung maßgeblich ist.
Gemäß Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie) tragen die Mitgliedsstaaten Sorge dafür, dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann. Darüber hinaus tragen sie dafür Sorge, dass die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen, gemäß dem nationalen Verfahren Anspruch auf die in den Art. 24 bis 25 der Richtlinie 2011/95/EU genannten Leistungen haben, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung des Familienangehörigen vereinbar ist. Tragende Erwägungen und zentraler Zweck der Qualifikationsrichtlinie ist mithin in zusammenfassender Würdigung die Wahrung des Familienverbandes. Diesem Ziel wird nur dann effektiv Rechnung getragen, wenn der Familienverband durchgängig aufrechterhalten wird. Diesen in Art. 23 Qualifikationsrichtlinie zum Ausdruck kommenden unionsrechtlichen Vorgaben wird nur dann genügt, wenn für die relevante Frage der Minderjährigkeit nicht nur bei § 26 Abs. 2 AsylG, sondern auch beim „Elternschutz“ des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG auf den früheren Zeitpunkt der Asylantragstellung und nicht denjenigen der mündlichen Verhandlung bzw. denjenigen der Entscheidung des Bundesamtes über den Asylantrag der nachreisenden Eltern abgestellt wird.
Das Unionsrecht gibt einen einheitlichen Schutz des Familienverbandes vor, womit ein gespaltenes Schutzniveau abhängig davon, ob Eltern zu ihren Kindern ziehen oder umgekehrt, nicht zu vereinbaren wäre (vgl. zum Ganzen VG Karlsruhe, U.v. 8.2.2018 – A 2 K 7425/16 – juris Rn. 24). Denn in beiden Fällen geht es letztlich um die Wahrung des im Fluchtstaat (neu) bestehenden Familienverbandes und die Integration der nahen Angehörigen eines Stammberechtigten. Die beiden Schutztatbestände in § 26 Abs. 2 und Abs. 3 AsylG basieren auf derselben unionsrechtlichen Grundlage und unterscheiden sich lediglich hinsichtlich der Person des zuziehenden Familienmitglieds.
Dem Abstellen auf die Asylantragstellung statt auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bzw. der behördlichen Entscheidung des Bundesamtes über den Asylantrag der nachziehenden Eltern liegt der sachgerechte Gedanke zugrunde, dass sich die behördliche und gerichtliche Verfahrensdauer nicht auf das Entstehen des Familienasyls auswirken soll (vgl. BT-Drs. 12/2718 S. 60).
Das Recht der Familienangehörigen vom Stammberechtigten einen Schutzstatus abzuleiten, ist zeitlich, anders als bei § 36 AufenthG, nicht auf die Minderjährigkeit beschränkt (vgl. VG Hamburg, U.v. 5.2.2014 – 8 A 1236/14 – juris Rn. 19). Es hängt stattdessen vom Bestand von dessen internationalem Schutz des Stammberechtigten ab, der mit der Volljährigkeit gerade nicht endet (vgl. VG Stuttgart, U.v. 23.5.2018 – A 1 K 17/17 – juris Rn. 33).
Da nach den vorstehenden Ausführungen mithin auf die Asylantragstellung der nachziehenden Eltern im Rahmen des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG abzustellen ist, ist maßgeblicher Zeitpunkt für die Frage, ob die Kläger die begünstigenden Regeln des „Elternschutzes“ für sich in Anspruch nehmen können, auf den 10. April 2018 abzustellen. Zu diesem Zeitpunkt war der stammberechtigte Sohn der Kläger, der am … 2000 geborene … jedoch noch minderjährig. Dass er sowohl im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesamtes über den Asylantrag der Kläger (29. Juni 2018) bzw. im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) bereits volljährig ist, lässt nach dem vorstehend Gesagten den Anspruch der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus § 26 Abs. 5 i.V.m. § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG nicht entfallen.
Ob die Kläger darüber hinaus einen eigenen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1, 4 AsylG besitzen bedarf keiner Entscheidung.
Der Bescheid des Bundesamtes war daher in seinen Nrn. 1, 3, 4, 5 und 6 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Da die Klage bereits im Hauptantrag Erfolg hat, bedurfte es weiter keiner Entscheidung über die von den Klägern gestellten Hilfsanträge.
Der Klage war mithin stattzugeben. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Als im Verfahren unterlegen hat die Beklagte die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO.


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