Verwaltungsrecht

Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der grundsätzlichen Bedeutung

Aktenzeichen  20 ZB 17.30667

Datum:
22.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 3044
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 4 Abs. 1, § 78 Abs. 3 Nr. 1

 

Leitsatz

1 Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der grundsätzlichen Bedeutung ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts.  (redaktioneller Leitsatz)
2 Nachdem der IS aus der Stadt Mossul und deren Umgebung vertrieben worden ist, liegt auch in Ansehung der Verdrängung kurdischer Sicherheitskräfte aus deren bisher gehaltenen Stellungen durch irakische Streitkräfte eine Bedrohung im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nicht mehr vor.  (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 10 K 16.31394 2017-03-21 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Den Klägern wird für das Zulassungsverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin Manuela Lange, Gera, mit der Maßgabe beigeordnet, dass diese keine höheren Kosten geltend macht als ein im Gerichtsbezirk des Verwaltungsgerichtshofs zugelassener Rechtsanwalt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe sind teilweise bereits nicht in einer § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG genügenden Art und Weise dargelegt (hierzu 1. und 2.) und liegen im Übrigen nicht vor (hierzu 3.).
1. Soweit die Kläger den Zulassungsgrund der Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) geltend machen, sind bereits die Anforderungen an die Darlegung nicht erfüllt. Die Darlegung der Divergenz erfordert neben der zweifelsfreien Angabe einer Divergenzentscheidung auch, welcher Rechts- oder Tatsachensatz in dem Urteil des Divergenzgerichts enthalten ist und welcher bei der Anwendung derselben Rechtsvorschrift in dem angefochtenen Urteil aufgestellte Rechts- oder Tatsachensatz dazu im Widerspruch steht (Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124a Rn. 73 m.w.N.). In der Begründung des Zulassungsantrags wird mit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 23. August 2016 (Nr. 59166/12) zwar eine Divergenzentscheidung genannt, es fehlt jedoch bereits an einer Bezeichnung eines in dieser Entscheidung enthaltenen Rechtssatzes. Ebenso wenig wird in der Begründung des Zulassungsantrags ein hiervon divergierender Rechtssatz in der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts benannt. Darüber hinaus betrifft die Entscheidung des EGMR eine Familie aus Bagdad, weshalb hier Feststellungen zu den Verhältnissen im Umkreis von Mossul, aus dem die Kläger stammen, von vornherein nicht entnommen werden können.
2. Auch soweit die Kläger den Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG, § 138 Nr. 3 VwGO) geltend machen, sind die Anforderungen an die Darlegung nicht erfüllt. Diese verlangen, dass der Verfahrensmangel in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht konkret bezeichnet wird. Aus einer bloßen Beanstandung der materiell-rechtlichen Überlegungen des Verwaltungsgerichts lässt sich eine ordnungsgemäß erhobene Verfahrensrüge nicht ableiten (BGH, B.v. 18.2.1997 – XI ZR 317/95 – NJW 1997, 1710, 3. Leitsatz). Im Falle des § 138 Nr. 3 VwGO (Versagung des rechtlichen Gehörs) obliegt dem Rechtsmittelführer außer der Schilderung des prozessualen Verletzungsvorgangs auch die Darlegung dessen, was im Fall ordnungsgemäßer Gewährung rechtlichen Gehörs Entscheidungserhebliches vorgetragen worden wäre (vgl. zum Ganzen Happ a.a.O., § 124a Rn. 74 m.w.N.). Im vorliegenden Fall wird im Wesentlichen geltend gemacht, dass auch das Verwaltungsgericht von einer Herkunft der Kläger aus dem Raum Mossul ausgegangen sei. Dies kann jedoch zur Darlegung einer Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht genügen. Denn in der Sache wird damit gerügt, dass das Verwaltungsgericht materiell nicht zu dem Ergebnis kam, dass den Klägern subsidiärer Schutz oder ein Abschiebungsverbot zuzubilligen sei (vgl. hierzu die Begründung des Zulassungsantrags, S. 4 unten). Damit liegt aber eine materiell-rechtliche Einwendung vor, und kein Verfahrensfehler. Auch dem übrigen Vortrag der Kläger lässt sich die Benennung eines Verfahrensfehlers nicht entnehmen, vielmehr werden allein materiell-rechtliche Rügen erhoben. Damit fehlt es bereits an der Darlegung des Zulassungsgrundes.
3. Soweit die Kläger die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) geltend machen, sind die Anforderungen an die Darlegung des Zulassungsgrundes zwar erfüllt.
Die Kläger halten für grundsätzlich klärungsbedürftig,
ob irakische Staatsbürger, die in einer solchen Umgebung wohnen und leben wie im Bereich Mossuls seit 2014 bis zum heutigen Tage, aufgrund der dortigen Kämpfe und massiven militärischen Auseinandersetzungen § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG unterfallen.
Dieser Frage kommt keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zu, da sie im maßgeblichen Zeitpunkt nicht mehr klärungsbedürftig ist. Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der grundsätzlichen Bedeutung ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts nach § 77 Abs. 1 AsylG (vgl. Berlit in GK-Asylgesetz § 78 Rn. 698). Der Begriff der grundsätzlichen Bedeutung erfordert, dass für die angefochtene Entscheidung des Verwaltungsgerichts die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist (Klärungsfähigkeit) und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist (Klärungsbedürftigkeit) (vgl. zum Ganzen Happ a.a.O., § 124 Rn. 36 m.w.N.). Die Klärungsbedürftigkeit kann bei einer Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse nach Verkündung des verwaltungsgerichtlichen Urteils entfallen, wenn diese eine grundlegend geänderte Verfolgungssituation bewirken. Tatsachenfragen zu durch Zeitablauf überholten tatsächlichen Verhältnissen sind im Interesse der Rechtsprechungseinheit grundsätzlich auch für Altfälle nicht (mehr) klärungsbedürftig (Berlit in GK AsylVfG, § 78 Rn. 145 m.w.N.). Dies ist hier der Fall.
Denn nach der im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats maßgeblichen Auskunftslage liegt eine Bedrohung der Kläger im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in ihrer Herkunftsregion nicht mehr vor.
Die Kläger stammen nach ihren Angaben in der Anhörung vor dem Bundesamt aus einem Dorf bei Guwer im Distrikt Makhmour. Insoweit ist zunächst festzustellen, dass Makhmour bereits am 10. August 2014 und damit zwei Tage nach der Eroberung des Ortes durch den IS von den Peschmerga und der PKK zurückerobert wurde (vgl. www.middleeasteye.net/news/battle-makhmour-frontline-iraq-s-latest-war-147748868, zuletzt abgerufen am 17.1.2018). Ob damit auch der Heimatort der Kläger bereits zurückerobert wurde, kann letztlich offen bleiben. Denn infolge der Schlacht um Mossul wurde der IS aus der Stadt und deren Umgebung (bis auf einige verbliebene terroristische Schläferzellen) vertrieben. Am 9. Juli 2017 wurde durch den irakischen Premierminister Al-Abadi der Sieg über den IS in Mossul erklärt (vgl. Wikipedia, „Schlacht um Mossul“ m.w.N.; Lifos, „Thematic Report“ „The security situation in Iraq: July 2016 – November 2017“, 18.12.2017, Version 4.0, S. 5). Infolge dessen finden dort keine Kampfhandlungen mehr statt, die eine Intensität aufwiesen, dass sie in einer derart intensiven Gefahr resultieren würden, die für § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG ausreichen würde.
Auch durch das Vorrücken der sogenannten Volksmobilisierungseinheiten (PMU) infolge des kurdischen Unabhängigkeitsreferendums am 25. September 2017 ist keine neue, für § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG ausreichende Gefährdungssituation entstanden. Denn die irakischen Streitkräfte zusammen mit dem PMU sind zwar gerade im fraglichen Bereich der Herkunftsregion der Kläger vorgerückt und haben kurdische Sicherheitskräfte aus deren bisher gehaltenen Stellungen verdrängt (vgl. Lifos a.a.O., S. 29). Dabei kam es aber nur vereinzelt zu Gefechten zwischen den irakischen Streitkräften (und dem PMU) auf der einen und den Peschmerga auf der anderen Seite (vgl. Lifos a.a.O., S. 21). Auch seitdem haben sich derartige Gefechte nicht vermehrt ereignet. Lifos stellt im Gegenteil hierzu fest, dass die bewaffnete Konfrontation sich aufgrund des Rückzugs der Peschmerga aus der Gegend um Kirkuk erledigt hätte (Lifos a.a.O., S. 24). Es werden zwar vereinzelte Zusammenstöße gemeldet (Rudaw, Iraqi forces building up near Makhmour, warns kurdish security body, vom 18.12.2017, http://www.rudaw.net/english/kurdistan/181220175, zuletzt recherchiert am 17.1.2018). Diese treten jedoch nicht in einer Häufung auf, die zu einer Bedrohung im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG führen würde.
Vielmehr gibt es ungeachtet weiterhin zwischen der kurdischen und der irakischen Seite bestehender Spannungen insbesondere um den Status der ölreichen Stadt Kirkuk Anzeichen für eine militärische Beruhigung der Lage. So sind die irakischen Streitkräfte angewiesen, sich auf die vom UN Sicherheitsrat im Jahr 1991 festgelegten Grenzen des kurdischen Autonomiegebiets zu beschränken. Insoweit findet im Einzelfall auch eine Abstimmung mit kurdischen Sicherheitsorganen statt, in deren Rahmen auch ein gemeinsames Vorgehen gegen den IS stattfindet (Rudaw, UPDATE: Peshmerga report agreement with Iraqi army after Kifri standoff, 26.12.2017, www.rudaw.net/english/kurdistan/261220171, zuletzt recherchiert am 17.1.2018).
Damit ist die gestellte Frage nicht mehr klärungsbedürftig. Daran ändert es auch nichts, dass die Grundsätze zur Klärungsbedürftigkeit von Rechtsfragen zu auslaufendem oder ausgelaufenem Recht in einer derartigen Situation mit der Maßgabe anzuwenden sind, dass sich die Klärungsbedürftigkeit tatsächlicher Fragen auch aus der Notwendigkeit ergeben kann, zu entscheiden, ob ein Asylbewerber vorverfolgt ausgereist ist und daher für die Verfolgungssicherheit bei einer Rückkehr qualifizierte Feststellungen zum Wegfall der Gefährdungslage nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie; ABl 2011, L 337/9) zu treffen sind (Berlit in GK-AsylG, § 78 Rn. 146). Denn aufgrund der grundlegend geänderten Situation sprechen im vorliegenden Fall stichhaltige Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie dagegen, dass die Antragsteller erneut von einem solchen Schaden bedroht werden könnten. Damit liegt auch nach den Grundsätzen des auslaufenden oder ausgelaufenen Rechts eine Klärungsbedürftigkeit nicht mehr vor.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung der Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung i.S.v. § 166 VwGO, §§ 114ff ZPO ist der der so genannten Bewilligungsreife, die vorliegt, sobald das PKH-Gesuch vollständig vorliegt (vgl. Kopp, VwGO, § 166 Rn. 14a). Damit lag Bewilligungsreife bereits mit der Vorlage des Antrags auf Zulassung der Berufung an den Verwaltungsgerichtshof am 9. Juni 2017 vor. Zu diesem Zeitpunkt war die von den Klägern gestellte Grundsatzfrage aufgrund der noch andauernden Kämpfe um Mossul aber noch offen. Da auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen der Prozesskostenhilfe nach den vorgelegten Unterlagen vorliegen, war den Klägern Prozesskostenhilfe zu bewilligen und ihre Bevollmächtigte beizuordnen. Die der Bewilligung beigefügte Maßgabe ergibt sich aus § 166 VwGO, § 121 Abs. 3 ZPO.
Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig, § 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.


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