Verwaltungsrecht

Minderjähriger, Abschiebungsverbot (bejaht), Herkunftsstaat: Afghanistan

Aktenzeichen  M 2 K 21.30939

Datum:
16.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 36516
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3
AsylG § 4
AufenthG § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 22. März 2021 in den Nummern 4 bis 6 verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger 2/3, die Beklagte 1/3.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage hat im tenorierten Umfang Erfolg.
Über den Rechtsstreit konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten aufgrund der mündlichen Verhandlung am 16. Juli 2021 entschieden werden. In der frist- und formgerechten Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann, § 102 Abs. 2 VwGO.
Die zulässige Klage ist teilweise begründet.
Der Kläger hat zwar zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf die Gewährung subsidiären Schutzes, jedoch hat er einen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 22. März 2021 ist daher bezogen auf die Verfügungen unter den Nummern 4 – 6 rechtswidrig, hinsichtlich der Regelungen unter den Nummern 1 – 3 dagegen rechtmäßig, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine Verfolgung i. S. des § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationale Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Dabei ist es Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
Unabhängig davon, ob das Vorbringen glaubhaft ist, kommt eine Flüchtlingsanerkennung des Klägers deswegen nicht in Betracht, weil es in Ansehung des geltend gemachten Vorbringens dazu, warum der Kläger Afghanistan verlassen habe, bereits an einer Anknüpfung an ein asylerhebliches Merkmal i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG fehlt. Zusammengefasst hat der Kläger vorgebracht, dass er bzw. sein Bruder befürchte, dass sie bzw. der Kläger von der Familie der Frau des Bruders des Klägers in nicht näher spezifizierter Weise verfolgt würden bzw. der Kläger von dieser Familie möglicherweise entführt werden könnte. Selbst wenn das so zu Grunde gelegt wird, liegt hierin keine Anknüpfung an einen der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe. Selbst wenn unterstellt wird, dass das Vorbringen des Klägers zutrifft, beinhaltet das Vorgebrachte keine Anknüpfung an eine Verfolgung wegen einem der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG aufgezählten asylerheblichen Merkmale. Diese Anknüpfung ist nach dem Gesetz ohne weiteres auch bei einer Verfolgung wie hier geltend gemacht durch nichtstaatliche Personen / Organisationen erforderlich. Fehlt es an der Anknüpfung an ein asylerhebliches Merkmal, kommt es auch nicht darauf an, ob ein schutzbereiter Staat vorhanden ist. § 3c Nr. 3 AsylG wie auch § 3d AsylG beziehen sich auf eine Verfolgung i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, ergänzt durch § 3b AsylG; d.h. auch eine nichtstaatliche Verfolgung durch Private bzw. nichtstaatliche Einheiten ist nur insoweit flüchtlingsrelevant, als sie wegen einem der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG aufgezählten Merkmale erfolgt, ebenso ist das Vorhandensein eines schutzbereiten Staates nur insoweit erforderlich, soweit eine Verfolgung in einem der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG aufgezählten Merkmale vorliegt. Eine (auch nur zugeschriebene) Anknüpfung an eine Verfolgung wegen einem der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, § 3b Abs. 1 AsylG genannten Merkmale lässt sich dem Vortrag des Klägers nicht entnehmen.
Ergänzend wird auf die Feststellungen und die Begründung im angefochtenen Bescheid Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG), dort Seite 2 unter 1. und 2. bis Seite 3, insbesondere Seite 3, zweiter Absatz von oben.
2. Den beantragten (unionsrechtlichen) subsidiären Abschiebungsschutz nach § 4 AsylG kann der Kläger ebenfalls nicht beanspruchen, wofür ergänzend auf die zu § 3 AsylG erläuterten Gründe verwiesen wird. Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt dabei auch die Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG). Die Art der Behandlung oder Bestrafung muss eine Schwere erreichen, die dem Schutzbereich des Art. 3 EMRK zuzuordnen ist und für den Fall, dass die Schlechtbehandlung von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht, muss der Staat erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sein, Schutz zu gewähren (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3 c Nr. 3 AsylG). Außerdem kommt die ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) in Betracht.
Gemessen an diesen Maßstäben hat der Kläger keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Auf die Feststellungen und die Begründung im angefochtenen Bescheid wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG), dort Seite 3 unter 3. bis Seite 5 unten.
3. Dem Kläger steht derzeit (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG) aber wegen einzelfallbezogener Umstände, i.e. im Falle des Klägers seine Minderjährigkeit sowie weitere, dazu hinzutretende individuelle Umstände, ein Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.
a) § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK steht einer Abschiebung entgegen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Maßgeblich sind die Gesamtumstände des jeweiligen Falls und Prognosemaßstab ist die beachtliche Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2010 – 10 C 11/09 – juris Rn. 14). Ein Abschiebungsverbot infolge der allgemeinen Situation der Gewalt im Herkunftsland kommt nur in Fällen ganz extremer Gewalt in Betracht und auch schlechte humanitäre Bedingungen können nur in besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK begründen. Beim Kläger liegt ein besonderer Ausnahmefall, in dem humanitäre Gründe in der Person des Klägers zwingend gegen eine Aufenthaltsbeendigung bzw. gegen eine Rückführung nach Afghanistan sprechen, vor:
Nach der – im Entscheidungszeitpunkt dieses Verfahrens, § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 ASylG – ständigen Rechtsprechung des für den Herkunftsstaat Afghanistan zuständigen 13a. Senats des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes ist zwar nicht davon auszugehen, dass eine Abschiebung nach Afghanistan ohne Weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellt und deshalb ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen ist (vgl. aktuell BayVGH, U.v. 7.6.2021 – 13a B 21.30342; vgl. auch BayVGH, U.v. 17.12.2020 – 13a B 20.30957 – juris sowie OVG Hamburg, U.v. 25.3.2021 – 1 Bf 388/19.A – juris, außerdem OVG Rheinland-Pfalz, U.v. 30.11.2020 – 13 A 11421/19 – juris und NdsOVG, B.v. 13.1.2021 – 9 LA 150/20 – juris). Danach ist es – im Entscheidungszeitpunkt dieses Verfahrens – als geklärt anzusehen, dass für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige angesichts der Auskunftslage im Entscheidungszeitpunkt, also am 16. Juli 2021, im Allgemeinen derzeit nicht generell von einer extremen Gefahrenlage auszugehen ist, die zu einem Abschiebungsverbot führen würde. Unter Zugrundelegung der soeben genannten Rechtsprechung ist im Entscheidungszeitpunkt davon auszugehen, dass ein erwerbsfähiger und im Wesentlichen gesunder Mann regelmäßig auch ohne nennenswertes Vermögen im Fall einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland Afghanistan in der Lage ist, durch Gelegenheitsarbeiten etwa in seiner Heimatregion oder in Kabul ein kleines Einkommen zu erzielen und damit wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten; das gilt unter Zugrundelegung insbesondere der Sachlage im Entscheidungszeitpunkt grundsätzlich auch insoweit, als kein stützendes Netzwerk in Afghanistan oder ein direkter Voraufenthalt im Heimatland vorhanden bzw. gegeben ist. Trotz großer Schwierigkeiten bestehen grundsätzlich auch für entsprechende Rückkehrer durchaus auf einer sicherlich sehr schmalen Grundlage Perspektiven im Hinblick auf die Sicherung des Lebensunterhalts. Ausreichend ist grundsätzlich, dass eine der Landessprachen beherrscht wird und der Betroffene einen erheblichen Teil seines Lebens dort verbracht hat. Auf der Grundlage des oben Gesagten gilt dies – grundsätzlich, entscheidend ist nach dem Gesetz bei der Prüfung von Abschiebungsverboten immer eine umfassende Beurteilung auf Grundlage aller Umstände des Einzelfalls – nach der Rechtsprechung des Gerichts (vgl. zuletzt B.v. 5.7.2021 – M 2 E 21.31450 m.w.N.) für erwerbsfähige und im Wesentlichen gesunde Männer; in der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (zuletzt mit U.v. 7.6.2021 – 13a B 21.30342) gibt es zwar die genannte Einschränkung auf im Wesentlich Gesunde nicht, dort wird jedoch darauf abgestellt, dass im Falle von volljährigen, alleinstehenden und arbeitsfähigen Männern die Prognose gerechtfertigt ist, dass diese ihr Existenzminimum in Afghanistan über einen hinreichenden, eine Verletzung von Art. 3 EMRK ausschließenden Zeitraum bestreiten können.
Im Fall des Klägers fehlt es allerdings sowohl daran, dass er volljährig ist als auch, dass er im o.g. Sinne erwerbsfähig ist. Auch wenn damit noch nicht in jedem denkbaren Fall gesagt sein muss, dass dann ein besonderer Ausnahmefall im oben dargestellten Sinn vorliegt, so ist das doch im Einzelfall des Klägers unter Berücksichtigung seiner individuellen Umstände der Fall.
Zunächst ist im Falle des Klägers zu berücksichtigen, dass er minderjährig ist; der Kläger ist im Entscheidungszeitpunkt – das von ihm glaubhaft angegebene Geburtsdatum … August 2006 zu Grunde gelegt, welches auch von der Beklagten nicht in Zweifel gezogen wird – 15 Jahre alt, knapp vor dem 16. Geburtstag. Selbst wenn man jedoch von dem in den Bundesamtsakten außerdem auftauchenden, wohl im Lauf des Verwaltungsverfahrens unzutreffend (jedenfalls ist aus der gesamten Bundesamtsakte nicht nachvollziehbar, woher dieses Datum stammt, womöglich aus dem Voraufenthalt in Griechenland) aufgenommenen Datums 29. April 2004 als Geburtsdatum ausginge, wäre der Kläger auch dann im Entscheidungszeitpunkt noch nicht volljährig. Der Umstand der noch nicht eingetretenen Volljährigkeit spielt für die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots durch die Bejahung des Vorliegens eines besonderen Ausnahmefalls im o.g. Sinn insofern eine wesentliche Rolle, als insbesondere der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seiner oben nachgewiesenen ständigen Rechtsprechung zu dieser Frage zunächst allgemein, quasi „vor die Klammer gezogen“, folgendes ausführt (U.v. 7.6.2021 – 13a B 21.30342 – juris Rn. 14; im Ls. 1 in juris dagegen verkürzt wiedergegeben):
Hinsichtlich der somit allein zu prüfenden allgemeinen Gefahren ist nach der ständigen Rechtsprechung des Senats in der Regel nicht davon auszugehen, dass eine Abschiebung nach Afghanistan für volljährige [Hervorhebung durch das Gericht], alleinstehende und arbeitsfähige afghanische Männer ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde mit der Folge eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, und ist auch keine extreme Gefahrenlage anzunehmen, die zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (analog) führen würde.
Daraus folgt noch nicht, dass bei jedem nicht Volljährigen gleichsam automatisch ein Abschiebungsverbot festzustellen ist – was im vorliegenden Verfahren auch nicht relevant ist, da beim Kläger noch weitere Umstände hinzutreten, dazu sogleich -, es zeigt jedoch, dass die Minderjährigkeit des Klägers bei der Bewertung eine wesentliche Rolle spielt. Auch im weiteren Verlauf dieses die ständige Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zusammenfassenden und aktualisierenden Urteils ist bei der Prüfung der Abschiebungsverbote mehrfach ausdrücklich von (u.a.) volljährigen afghanischen Männern die Rede. Sowohl bei der Bewertung der humanitären Situation in Afghanistan (BayVGH, U.v. 7.6.2021 – 13a B 21.30342 – juris Rn. 29ff.)‚ die nach Auffassung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs „schon deshalb, weil […] keine Verschlechterung der humanitären Situation, sondern eher ein Positivtrend zu verzeichnen ist, […] für volljährige, alleinstehende und arbeitsfähige Männer eine Rückkehr nach Afghanistan weiterhin zumutbar“ sei, grundsätzlich zu einer Verneinung der Annahme eines Abschiebungsverbotes führe, als auch bei der weiteren, selbständig tragenden („unabhängig“) Erwägung zu den Rückkehrhilfen (BayVGH, U.v. 7.6.2021 – 13a B 21.30342 – juris Rn. 31ff., dort insbesondere Rn. 31, 32 und 38) beziehen sich die Ausführungen explizit auf volljährige afghanische Staatsangehörige.
Wie oben bereits angesprochen, kommt es allerdings nicht darauf an, ob die Minderjährigkeit des Klägers allein (so z.B. VG Augsburg, U.v. 12.12.2017 – Au 6 K 17.32980 – juris Rn. 32) bereits einen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots wegen des Vorliegens eines besonderen Ausnahmefalls begründet. Gleichwohl ist, ohne dass es für die hiesige Verpflichtungsklage darauf ankommt, zu bemerken, dass es nicht nachvollziehbar ist, dass im streitgegenständlichen Bescheid, der (laut Bescheid, vgl. auf dessen S. 2, 4. Absatz von unten) von einer „Sonderbeauftragten für unbegleitete Minderjährige“ gefertigt wurde, der Umstand der Minderjährigkeit als solcher bei der eigentlichen Prüfung von Abschiebungsverboten überhaupt nicht gewürdigt wird, sondern dieser Umstand lediglich im Zusammenhang mit den ausländerrechtlichen Regelungen zum Vollzug von Abschiebungen von Minderjährigen (vgl. S. 12, 4. Absatz des Bescheids, wobei die Aussage dort mit der durchgeführten Prüfung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots systematisch nichts zu tun hat, sowie S. 14 oben des Bescheids) erwähnt wird.
Denn beim Kläger kommen zur Minderjährigkeit als solcher noch weitere Einzelfallumstände hinzu, die nach der Überzeugung des Gerichts zur Annahme eines besonderen Ausnahmefalls und demzufolge zur Bejahung eines Anspruchs des Klägers auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots führen. Der Kläger hat in der mündlichen verhandlung glaubhaft und in Einklang mit dem wesentlichen Vortrag im Verwaltungsverfahren ausgeführt, dass er mit Ausnahme einer Tante keine Angehörigen in Afghanistan habe. Der Kläger hat ebenfalls überzeugend geschildert (vgl. insbesondere Sitzungsprotokoll S. 3, zweiter Absatz), dass er von der Tante keine Hilfe erhalten kann und auch nicht erhalten wird (hierzu insbesondere Sitzungsprotokoll S. 3, zweiter Absatz von unten). Angesichts der allgemeinen Verhältnisse in Afghanistan im Entscheidungszeitpunkt, hinsichtlich derer das Gericht auf die Darstellung im Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts vom 7. Juni 2021, Az. 13a B 21.30342, dort insbesondere Rn. 21ff., zitiert nach juris, Bezug nimmt, wäre aber die Möglichkeit einer entsprechenden Unterstützung jedenfalls bei einem minderjährigen Kläger nach der Überzeugung des Gerichts nötig. Von einer solchen kann im Fall des Klägers jedoch wie dargelegt nicht ausgegangen werden, außerdem kann der Kläger unter Zugrundelegung seiner übrigen Angaben im Verwaltungsverfahren und in der mündlichen Verhandlung unter Berücksichtigung seiner persönlichen Dispositionen diesen Umstand auch nicht anderweitig kompensieren. Dazu kommen noch der lange Aufenthalt als Kind im Iran sowie die weiteren in der mündlichen Verhandlung geltend gemachten Umstände, die die oben genannten Umstände ergänzen. In einer Gesamtbewertung der individuellen Umstände des Klägers ergibt sich nach der Überzeugung des Gerichts im Fall des Klägers ein besonderer Ausnahmefall im o.g. Sinn und demzufolge ein Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots.
b) Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (vgl. BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 16 und 17).
4. Die Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hat zur Folge, dass der streitgegenständliche Bescheid nicht nur in seiner Nr. 4, sondern auch in den Nummern 5 und 6 aufzuheben ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1, Abs. 2 VwGO und §§ 708ff. ZPO.


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