Verwaltungsrecht

Nachteilsausgleich bei eingeschränkter Leistungsfähigkeit des Prüflings aufgrund körperlicher Bedingungen

Aktenzeichen  M 3 K 19.251

Datum:
26.2.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 28965
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
RaPO § 5 Abs. 1
RDGEG § 3, § 5

 

Leitsatz

1. Ein beantragter Nachteilsausgleich hat sich auch nach Ablauf einer ggf. bestandenen Prüfung nicht erledigt (Art. 19 Abs. 4 GG). Sofern ein Nachteil iSd § 5 RaPO besteht, kann verlangt werden, dass die Prüfungen unter den zustehenden Nachteilsausgleichbedingungen wiederholt wird.  (Rn. 22 – 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Klage ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf den beantragten, über die bereits bewilligte Prüfungszeitverlängerung um 25% hinausgehenden Nachteilsausgleich. Vor dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit, haben sich die Maßnahmen des Nachteilsausgleichs an der konkreten Behinderung und der jeweiligen Prüfung zu orientieren. Dabei hat sich der Ausgleich der Behinderung auf die Leistungsanforderungen zu beschränken, die nicht prüfungsrelevant sind (VGH München BeckRS 2012, 54425).  (Rn. 24 – 25 und 30) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine krankhafte Leistungsschwäche und Beeinträchtigung der Konzentrationsfähigkeit stellt keine Behinderung im Sinne von § 5 Abs. 1 RaPO dar, die einen Anspruch auf Nachteilsausgleich begründen kann(hM VG Regensburg BeckRS 2013, 53729). Daher liegt kein Anspruch auf Nachteilsausgleich vor, bei Einschränkungen die aus Nebenwirkungen durch Medikamente resultieren und welche die intellektuelle Leistungsfähigkeit beeinträchtigen (VG Arnsberg BeckRS 2015, 40931). (Rn. 26 – 29) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die auf Bewilligung des beantragten Nachteilsausgleichs im Wintersemester 2018/19 gerichtete Klage ist zulässig.
Der vom Gericht – in der mündlichen Verhandlung auch thematisierten – Auslegung des Klageantrags dahin, dass in Übereinstimmung mit dem bei der Beklagten gestellten Antrag der geltend gemachte Anspruch auf Nachteilsausgleich (nur) für das Wintersemester 2018/19 gilt, hat die Klägerin nicht widersprochen. Dieses Verständnis ist insoweit sachgerecht, als die Klägerin einen auf die gesamte Studienzeit bezogenen Antrag auf Nachteilsausgleich bei der Beklagten nicht gestellt hat. Die vorherige Antragstellung bei der Behörde ist jedoch eine sog. „Zugangsvoraussetzung“; eine fehlende Antragstellung bei der Behörde könnte – was hier jedoch gar nicht versucht wurde – während des Klageverfahrens ohnehin nicht mehr nachgeholt werden (vgl. z.B. Kopp/Schenke, 14. Aufl., Vorb § 40 Rn 11).
Das Klageverfahren hat sich durch den Ablauf des Prüfungszeitraums nach Klageerhebung nicht erledigt. Denn im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG darf einem Rechtsschutzsuchenden allein durch die Dauer eines behördlichen oder gerichtlichen Verfahrens kein Nachteil entstehen. Hier hat die Klägerin noch vor Aufnahme des Studiums den streitgegenständlichen Antrag auf Nachteilsausgleich gestellt. Der Antrag ist auch nicht wegen Ablaufs des Prüfungszeitraums auf eine unmögliche Leistung gerichtet. Denn falls der Klägerin der beantragte Nachteilsausgleich in Gestalt der Prüfungszeitverlängerung von 50% tatsächlich zusteht, kann sie beanspruchen, die ohne diesen Nachteilsausgleich abgelegten Prüfungen unter den ihr zustehenden Bedingungen wiederholen zu dürfen.
Dass die Klägerin auch ohne die streitgegenständliche Prüfungszeitverlängerung die Prüfungen bestanden hat, ist für die Frage des Rechtsschutzbedürfnisses an der beantragten Entscheidung für den Prüfungszeitraum des Wintersemesters 2018/19 nicht entscheidungserheblich. Nach ihrem eigenen Vorbringen könnte die Klägerin die Prüfungen nur mit dem beantragten Nachteilsausgleich in Höhe von 50% Prüfungszeitverlängerung bewältigen; es kann daher davon ausgegangen werden, dass sie im Fall einer weiteren Prüfungszeitverlängerung noch bessere Ergebnisse erzielt hätte. Da sich auch die am Studienbeginn abgelegten Prüfungsergebnisse auf die Gesamtnote, mit der das Studium abgeschlossen wird, auswirken, besteht das Rechtsschutzbedürfnis für die beantragte Entscheidung fort.
Die Klage ist jedoch nicht begründet. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten mit dem der von der Klägerin beantragte Nachteilsausgleich um weitere 25%, somit insgesamt 50%, abgelehnt wurde, ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die geltend gemachte Prüfungszeitverlängerung um weitere 25% (§ 113 Abs. 5 Satz1 VwGO).
Gemäß § 5 Abs. 1 der Rahmenprüfungsordnung für die Fachhochschulen (RaPO) vom 17. Oktober 2001 (GVBl S. 686), zuletzt geändert durch Verordnung vom 6. August 2010 (GVBl S. 688) wird Studierenden, die wegen einer Behinderung nicht in der Lage sind, eine Prüfung ganz oder teilweise in der vorgesehenen Form abzulegen, Nachteilsausgleich gewährt, soweit dies zur Herstellung der Chancengleichheit erforderlich ist (Satz 1), wobei der Nachteilsausgleich insbesondere in Form einer angemessenen Verlängerung der Bearbeitungszeit gewährt werden kann (Satz 2).
Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Chancengleichheit fordert, dass jeder Prüfungsteilnehmer die gleichen Leistungen erbringen und sich den gleichen Bewertungsmaßstäben unterziehen muss; ein zu gewährender Nachteilsausgleich muss sich daher darauf beschränken, dem behinderten Prüfungsteilnehmer die Erbringung der Prüfungsleistungen unter Bedingungen zu ermöglichen, die denen der anderen Prüfungsteilnehmer möglichst nahekommen (BayVGH, B.v. 28.6.2012 – 7 CE 12.1324 – juris Rn 18). Die Maßnahmen des Nachteilsausgleichs haben sich an der konkreten Behinderung und der jeweiligen Prüfung zu orientieren (BayVGH, B.v. 28.6.2012 – a.a.O. – juris Rn 25). Der Ausgleich der Behinderung hat sich außerdem auf die Leistungsanforderungen zu beschränken, die nicht prüfungsrelevant sind. Daher kommt beispielsweise eine Nichtbewertung von Rechtschreibfehlern in einer Prüfung auch bei Legasthenie allenfalls dann in Betracht, wenn die sprachliche Richtigkeit nicht prüfungsrelevant ist; ist jedoch die fremdsprachliche Kompetenz gerade Prüfungsgegenstand, dann würde eine auch nur teilweise Nichtbewertung von Rechtschreibfehlern prüfungsrelevante Fähigkeiten ausklammern, die bei den übrigen Prüfungsteilnehmern in die Bewertung der erbrachten Leistung einfließen BayVGH, B.v. 28.6.2012 – a.a.O. – juris Rn 20). Kommt es in einer schriftlichen Prüfung nicht darauf an, wie schnell eine gefundene Lösung zu Papier gebracht werden kann, berührt der Einsatz einer Schreibhilfe durch eine Diktatperson oder einen Laptop wegen einer vorhandenen Bewegungseinschränkung beim Schreiben nicht den Prüfungsgegenstand. Anders liegt jedoch der Fall dann, wenn – wie die Beklagte zutreffend ausgeführt hat – bei einer vorgegebenen, begrenzten Prüfungszeit Teil der Leistungsanforderung auch die Fähigkeit ist, die gestellten Aufgaben innerhalb der Prüfungszeit zu bearbeiten (vgl. auch VG München, U.v. 24.11.2015 – M 3 K 15.3025). Die Fähigkeit, sich über die Dauer einer schriftlichen Klausur hinweg zu konzentrieren und trotz der prüfungsbedingten Stresssituation die gestellten Aufgaben zu erfassen und in der vorgegebenen Zeit zu bewältigen, ist dann gerade Teil der Prüfungsanforderung (vgl. VG München, B.v. 31.1.2019 – M 3 E 19.157). Nach der ganz herrschenden Rechtsprechung stellt daher eine krankhafte Leistungsschwäche und Beeinträchtigung der Konzentrationsfähigkeit gerade keine Behinderung im Sinne von § 5 Abs. 1 RaPO, die einen Anspruch auf Nachteilsausgleich begründen kann, dar (VG Regensburg, B.v. 16.7.2013 – Rn 1 E 13.1166 zu einer Epilepsieerkrankung; VG Ansbach, B.v. 26.4.2013 – AN 2 E 13.00754 zu einer Leistungseinschränkung durch ein psychisches Dauerleiden; VG Augsburg, B.v. 1.10.2009 – Au 3 E 09.1377 zu Konzentrationsstörungen und abnormer Leistungsschwäche als Symptome einer chronischen Erkrankung).
So liegt der Fall hier. Die Klägerin hat für alle Prüfungen des Wintersemesters 2018/19 geltend gemacht, diese wegen der medikamentös bedingten Beeinträchtigung ihrer Konzentrationsfähigkeit und geistigen Leistungsfähigkeit nur mit einer Verlängerung der Prüfungszeit um 50% „gerade eben“ zu schaffen. Da für alle diese Prüfungen in der StPO eine Prüfungszeit von 90 Minuten festgesetzt ist, betrifft die geltend gemachte Beeinträchtigung einen prüfungsrelevanten Gegenstand. Die bei der Klägerin bestehende, auf den Nebenwirkungen der erforderlichen Medikamente beruhende Einschränkung ihrer intellektuellen Leistungsfähigkeit kann daher keinen Anspruch auf einen (weiteren) Nachteilsausgleich durch eine Prüfungszeitverlängerung vermitteln (vgl. VG München, B.v. 31.1.2019 – a.a.O. – unter Bezugnahme auf OVG NRW, B.v. 10.10.2014 – 14 E 680/14 – juris Rn 8, und auf VG Arnsberg, B.v. 19.9.2014 – 9L 899/14 – juris Rn. 34 ff. jeweils zu ADHS).
Im Hinblick auf die beschriebene Systematik, dass Behinderungen nur insoweit einem Ausgleich zugänglich sind, als sie nicht einen Prüfungsgegenstand betreffen, ist die Ursache für eine im Prüfungszeitraum attestierte Verlangsamung der intellektuellen Fähigkeiten nicht entscheidungserheblich; es kommt also nicht darauf an, ob die Klägerin vor Beginn der medikamentösen Behandlung die geforderten schulischen Leistungen ohne Inanspruchnahme einer Prüfungszeitverlängerung erbringen konnte oder ob sie diese auch gegenwärtig, müsste sie die Medikamente nicht einnehmen, unter den regulären Bedingungen erbringen könnte. Angeknüpft wird insoweit nur an die Frage, ob eine Prüfungszeitverlängerung gerade den Gegenstand der Prüfung berühren würde; diese Frage ist bei der im Regelfall bestehenden Begrenzung der Prüfungszeit grundsätzlich zu bejahen, da der Prüfling dann in der Prüfung gerade auch seine Fähigkeit, Aufgabenstellungen in einer bestimmten Zeit zu erfassen und zu bearbeiten, zeigen soll.
Im Hinblick auf die Orientierung des Nachteilsausgleichs an der Prüfungsrelevanz der geltend gemachten Behinderung kommt es schließlich auch nicht darauf an, ob die geltend gemachte Beeinträchtigung voraussichtlich von Dauer sein wird oder nicht. Die Abgrenzung eines Dauerleidens von einer nur vorübergehenden Beeinträchtigung der Leistungs- und Prüfungsfähigkeit ist zwar von Bedeutung bei der Frage, ob der Rücktritt von einer Prüfung wegen Prüfungsunfähigkeit zu bewilligen ist: Kann ein Prüfling wegen der Nebenwirkungen der Behandlung einer akuten Erkrankung seine vorhandene Leistungsfähigkeit nicht zeigen, hat er Anspruch auf Anerkennung eines wichtigen Grundes für einen Rücktritt von einer Prüfung wegen Prüfungsunfähigkeit. Da eine Prüfungsunfähigkeit grundsätzlich nur vorübergehender Natur ist, besteht dieser Anspruch nicht zeitlich unbeschränkt. Wird daher die Grenze von der – vorübergehenden – Prüfungsunfähigkeit zum Dauerleiden überschritten, wird dem Studierenden dann die weitere Teilnahme an Prüfungen trotz einer fortbestehenden Beeinträchtigung seiner intellektuellen Fähigkeiten infolge der medikamentösen Behandlung zugemutet. Demgegenüber spielt das Kriterium der nur vorübergehenden Beeinträchtigung beim Nachteilsausgleich keine Rolle: So ist eine Einschränkung beim Schreiben infolge einer heilbaren Armverletzung ebenso auszugleichen wie eine Bewegungseinschränkung infolge einer dauerhaften Lähmung des Armes, für die keine Verbesserung oder Heilung in Aussicht steht (missverständlich insoweit VG Regensburg, B.v. 16.7.2013 – Rn 1 E 13.1166).
Die Klägerin hat daher keinen Anspruch auf den beantragten, über die bereits bewilligte Prüfungszeitverlängerung um 25% hinausgehenden Nachteilsausgleich durch Erhöhung der Prüfungszeitverlängerung auf insgesamt 50%; die streitgegenständlichen Bescheide der Beklagten stehen im Einklang mit der prüfungsrechtlichen Systematik, insbesondere dem Grundsatz der Chancengleichheit unter den Prüfungsteilnehmern.
Die Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Vorläufige Vollstreckbarkeit: § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO


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