Verwaltungsrecht

Nachträglicher Nachteilsausgleich und Notenschutz im Schulrecht

Aktenzeichen  W 2 E 17.1036

Datum:
14.9.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 143106
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123 Abs. 1
BayEUG Art. 52 Abs. 5

 

Leitsatz

Bei einer nachträglich festgestellten Lese- und Rechtschreibstörung kann ein Anspruch des Schülers auf nachträglichen Nachteilsausgleich bzw. Notenschutz bestehen, der es im Eilverfahren rechtfertigt, ihn vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache am Unterricht in der Realschule teilnehmen zu lassen. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antragsgegner wird im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Antragstellerin vorläufig bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der von der Antragstellerin noch einzulegenden Hauptsacheklage hinsichtlich des Übertrittszeugnisses der …Grundschule M. vom 2. Mai 2017 und des Widerspruchbescheids des Staatlichen Schulamts zum Unterricht an der Staatlichen Realschule M. zu Beginn des Schuljahres 2017/2018 zuzulassen.
II. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
IV. Der Antragstellerin wird unter Beiordnung von Rechtsanwalt B. Prozesskostenhilfe gewährt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin begehrt die vorläufige Zulassung zum Unterricht an der Staatlichen Realschule M. zum Schuljahr 2017/2018.
1. Die am … 2006 im Iran geborene Antragstellerin lebt seit Anfang 2013 in Deutschland besuchte seit April 2013 die Grundschule. Im Schuljahr 2016/2017 besuchte sie die 4. Jahrgangsstufe der … Grundschule M. Im Übertrittszeugnis vom 2. Mai 2017 erhielt die Antragstellerin in den Fächern Deutsch, Mathematik und Heimat- und Sachunterricht jeweils die Note 3 und eine Eignungsfeststellung für den Besuch einer Mittelschule.
Die Antragstellerin nahm sodann am Probeunterricht für die Realschule teil.
Mit Schreiben vom 18. Mai 2017 teilte die Staatliche Realschule M. mit, dass die Antragstellerin den Probeunterricht mit der Note 5 in Deutsch und der Note 4 in Mathematik nicht bestanden habe und aufgrund des Gesamtergebnisses nicht an einer bayerischen Realschule aufgenommen werden könne.
Mit fachärztlichem kinder- und jugendpsychiatrischem Attest vom 11. August 2017 wurde bei der Antragstellerin eine Lesestörung und Rechtschreibschwäche (Legasthenie im Sinne von ICD-10 F 81.0) diagnostiziert.
2. Mit Schreiben vom 17. August 2017 und 5. September 2017 ließ die Antragstellerin Widerspruch gegen das Übertrittszeugnis vom 2. Mai 2017 erheben und die Ausstellung eines neuen Übertrittszeugnisses beantragen, dass ihre Eignung zum Besuch einer Realschule ausspricht.
Mit Widerspruchsbescheid vom 13. September 2017 lehnte das Staatliche Schulamt … den Widerspruch ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass eine nachträgliche Gewährung von Nachteilsausgleich und Notenschutz nicht möglich sei, sondern nur ab dem Zeitpunkt der Feststellung, d.h. zukunftsorientiert, erfolgen könne. Darüber hinaus sei das Vorliegen eines ärztlichen Attests diesbezüglich nicht ausreichend, sondern eine schulpsychologische Stellungnahme erforderlich. Überdies würde sich die Deutschnote der Antragstellerin nach Rücksprache mit der Grundschule M. auch bei einer fiktiven Gewährung von nachträglichem Nachteilsausgleich bzw. Notenschutz nicht ändern. Der Gesamtnotendurchschnitt im Fach Deutsch habe bei Mitbewertung der Rechtschreibleistungen 2,97 betragen und würde bei Gewährung von Notenschutz 2,81 betragen. Des Weiteren habe eine Befragung der Lehrkräfte ergeben, dass den Schülern bei Leistungsmessungen grundsätzlich die Zeit für die Bearbeitung zur Verfügung gestanden habe, die diese gebraucht hätten; die Antragstellerin habe daher faktisch bereits nötige Zeitzuschläge erhalten, so dass bei Gewährung von Nachteilsausgleich keine anderen Ergebnisse erzielt worden wären. Auf den weiteren Inhalt des Widerspruchsbescheides wird Bezug genommen.
3. Mit Schreiben vom 6. September 2017 ließ die Antragstellerin Widerspruch gegen die mit Schriftsatz vom 18. Mai 2017 getroffene Ablehnung der Aufnahme in die Realschule erheben.
Mit Widerspruchsbescheid vom 12. September 2017 lehnte die Staatliche Realschule M. den Widerspruch ab. Auf den Inhalt des Bescheids wird Bezug genommen.
4. Mit Schriftsatz vom 8. September 2017, bei Gericht eingegangen am 11. September 2017 ließ die Antragstellerin einstweiligen Rechtschutz begehren.
Zur Begründung lässt sie im Wesentlichen ausführen, dass sie aufgrund der festgestellten Lesestörung und Rechtschreibschwäche Anspruch auf nachträglichen Nachteilsausgleich und Notenschutz habe, was dazu führe, dass sich die Notengebung in den übertrittrelevanten Fächern im Übertrittszeugnis – insbesondere im Fach Deutsch – sowie die Bewertung der Ergebnisse des Probeunterrichts für das Fach Deutsch rückwirkend dergestalt verbessere, dass die Anforderungen für den Übertritt zur Realschule gegeben seien. Darüber hinaus habe die Antragstellerin in ihren ersten Schuljahren an einer posttraumatischen Belastungsstörung und dadurch bedingten Lernstörung gelitten. Sie sei daher Schülerinnen und Schülern mit nichtdeutscher Muttersprache i.S.v. § 6 Abs. 5 Satz 1 der Schulordnung für die Grundschulen in Bayern (Grundschulordnung – GrSO) in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. September 2008 (GVBl. S. 684) zuletzt geändert durch § 1 der Verordnung vom 14. Juni 2017 (GVBl. S. 305) gleichzustellen, die eine deutsche Grundschule nicht bereits ab Jahrgangsstufe 1 besucht hätten, so dass ein Gesamtnotendurchschnitt von 3,33 für den Übertritt an die Realschule ausreiche. Auf den weiteren Inhalt der Antragsschrift wird Bezug genommen.
Die Antragstellerin lässt sinngemäß beantragen,
den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Antragstellerin vorläufig bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der von der Antragstellerin noch einzulegenden Hauptsacheklage auf Ausstellung eines neuen Übertrittszeugnisses, das eine Eignung der Antragstellerin für den Besuch der Realschule ausspricht, zuzulassen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wird ausgeführt, eine Aufnahme an die Realschule sei nicht möglich, nachdem im Übertrittszeugnis keine Eignung hierfür bestätigt worden und der Probeunterricht ohne Erfolg abgelegt worden sei.
Ein Antrag auf Nachteilsausgleich sowie auf Notenschutz für den Probeunterricht habe nicht vorgelegen. Eine Nichtbewertung der erbrachten Leistungsnachweise könne aufgrund von § 21 Abs. 3 der Schulordnung für die Realschulen (Realschulordnung – RSO) in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. Juli 2007 (GVBl. S. 458, 585) zuletzt geändert durch § 7 der Verordnung vom 1. Juli 2016 (GVBl. S. 193) nicht erfolgen. Im Übrigen würde sich im Falle eines Notenschutzes die beim Probeunterricht erzielte Gesamtnote im Fach Deutsch tendenziell verschlechtern, da die Antragstellerin gerade bei dem Prüfungsteil, der explizit die Rechtschreibleistung überprüfe, das beste Ergebnis erzielt habe.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte verwiesen.
II.
Der Antrag ist zulässig und begründet.
Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Voraussetzung für eine einstweilige Anordnung ist demnach das Vorliegen eines Rechts, dessen Sicherung die Anordnung dient (Anordnungsanspruch) sowie die drohende Vereitelung oder Erschwerung dieses Anspruchs (Anordnungsgrund). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Wegen der Eilbedürftigkeit des Anordnungsverfahrens sind die Anforderungen an das Beweismaß und somit auch an den Umfang der Ermittlung von Sach- und Rechtslage geringer als im Hauptsacheverfahren. Es genügt eine nur summarische Überprüfung der Sach- und Rechtslage (Kopp/Schenke, 22. Auflage, § 123 Rn. 24).
Bei der Anwendung von § 123 VwGO durch die Gerichte ist der besonderen Bedeutung der jeweils betroffenen Grundrechte und dem Erfordernis des effektiven Rechtschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG Rechnung zu tragen. Der in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verankerte Anspruch des Bürgers auf eine tatsächlich und rechtlich wirksame Kontrolle verpflichtet die Gerichte, bei ihrer Entscheidungsfindung diejenigen Folgen zu erwägen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes für den Bürger verbunden sind. Je schwerer die sich daraus ergebenden Belastungen wiegen, je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden (vgl. BVerfG, B.v. 25.07.1996 – 1 BvR 638/96 – juris).
Gemessen an diesen Anforderungen hat der Antrag Erfolg.
Wenngleich noch keine entsprechende schulpsychologische Stellungnahme nach § 36 Abs. 2 Satz 4 der Schulordnung für schulartübergreifende Regelungen an Schulen in Bayern (Bayerische Schulordnung – BaySchO) in der Fassung vom 1. Juli 2016 (GVBl. S. 164, 241), zuletzt geändert durch § 43b Abs. 1 der Verordnung vom 28. August 2017 (GVBl. S. 451) vorliegt, bestehen aufgrund des fachärztlichen Attestes vom 11. August 2017 zumindest gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass die Antragstellerin an einer Lesestörung und Rechtschreibschwäche leidet und damit – wäre die Diagnose früher erfolgt – grundsätzlich Anspruch auf Nachteilsausgleich gem. Art. 52 Abs. 5 Satz 1 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Mai 2000 (GVBl. S. 414, 632), zuletzt geändert durch § 3 des Gesetzes vom 12. Juli 2017 (GVBl. S. 362) i.V.m. § 33 BaySchO im Schuljahr 2016/2017 gehabt hätte. Bei der im zugrunde liegenden Verfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung spricht einiges dafür, dass in Fällen wie dem vorliegenden, in denen der Übertritt auf eine weiterführende Schule in mitten steht, bei einer nachträglich festgestellten Lese- und Rechtschreibstörung ein Anspruch des Schülers auf nachträglichen Nachteilsausgleich bzw. Notenschutz bestehen kann. Eine abschließende Prüfung dieser Rechtsfrage muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Auch kann im zugrundeliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes nicht geklärt werden, ob der Antragstellerin faktisch ein Nachteilsausgleich im erforderlichen Umfang gewährt wurde und ein fiktiver Notenschutz zu einer Änderung der Deutschnote führen wurde. Da die Antragstellerin den gem. § 6 Abs. 5 GrSO erforderlichen Notendurchschnitt für einen Übertritt an die Realschule nur knapp verfehlt hat, ist bei summarischer Prüfung nicht auszuschließen, dass sie im Falle einer Gewährung von Nachteilsausgleich im erforderlichen Umfang die Eignung für den Bildungsweg der Realschule erlangt hätte.
Angesichts der hohen Bedeutung des Besuchs einer weiterführenden Schule für den schulischen und beruflichen Werdegang der Antragstellerin, für die aufgrund ihres Alters eine Aufnahme in die Realschule ab dem Schuljahr 2018/2019 nur im Falle einer Ausnahmebewilligung gem. § 2 Abs. 2 Nr. 2, 2.HS RSO in Betracht käme, fällt eine Abwägung der widerstreitenden Interessen zugunsten der Antragstellerin aus. Denn ihr würden schwerwiegende und letztlich irreparable Nachteile drohen, wenn sie den gegebenenfalls erst nach geraumer Zeit erfolgenden Eintritt der Rechtskraft eines Klageverfahrens in der Hauptsache abwarten müsste. Demgegenüber fällt nicht entscheidungserheblich ins Gewicht, dass die Antragstellerin aufgrund der einstweiligen Anordnung vorläufig – auf eigenes Risiko – am Unterricht an der Realschule teilnehmen und später in der Hauptsache (dennoch) unterliegen kann und sodann an die Mittelschule wechseln müsste.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 53 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG.
Dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe war gemäß § 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO stattzugeben, da die Antragstellerin nachgewiesen hat, dass sie nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, und die beabsichtigte Rechtsverfolgung, wie dargelegt, hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.


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