Verwaltungsrecht

Neubewertung der Verfolgungsgefahr für exilpolitisch tätige Äthiopier

Aktenzeichen  W 3 K 16.30710

Datum:
17.7.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
VwGO VwGO § 166
ZPO ZPO § 114 Abs. 1
AsylG AsylG § 3 Abs. 1, § 3a, § 3c, § 3e

 

Leitsatz

1 Es ist davon auszugehen, dass dem äthiopischen Geheimdienst die exilpolitischen Tätigkeiten seiner Staatsangehörigen in Deutschland bekannt sind. (Rn. 20 – 23) (redaktioneller Leitsatz)
2 Auf Grund der jüngsten Entwicklung in Äthiopien hat sich die Gefahrenlage exilpolitisch tätiger Flüchtlinge verschärft. Dies gilt insbesondere für Anhänger vom äthiopischen Staat als terroristisch eingestufter Organisationen. Eine Differenzierung zwischen bloßen Mitläufern und erst zu nehmenden Regimegegnern ist deshalb nicht mehr möglich. (Rn. 43) (redaktioneller Leitsatz)
3 Die EPPFG steht der von der äthiopischen Regierung als terroristische Vereinigung eingestuften EPPF nahe; es ist wahrscheinlich, dass auch sie als Terrorgruppe eingestuft wird. (Rn. 46) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

Der Klägerin wird für das Verfahren W 3 K 16.30710 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Frau Rechtsanwältin …, bewilligt.
Die Prozesskostenhilfebewilligung erfolgt nur im Umfang der Kosten, die auch bei Wahl eines anwaltlichen Bevollmächtigten mit Sitz im Gerichtsbezirk des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg angefallen wären.

Gründe

I.
Die zur Person nicht ausgewiesene Klägerin, nach ihren eigenen Angaben eine am … … 1977 geborene äthiopische Staatsangehörige amharischer Volkszugehörigkeit und christlich-orthodoxen Glaubens, beantragte am 27. Mai 2013 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) die Gewährung politischen Asyls.
Im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt am 21. Mai 2014 gab sie an, sie sei Sympathisantin von Ginbot 7, sie sei jedoch kein Mitglied. Sie habe in Äthiopien ab und zu Flugblätter verteilt, deshalb sei sie von der Regierung verfolgt worden und darum habe sie sich entschieden, das Land zu verlassen. Sie sei von den Sicherheitsbehörden für zwei Monate ins Gefängnis gesteckt, geschlagen und misshandelt worden. Mit Hilfe eines Onkels, der Bestechungsgeld gezahlt habe, sei sie freigelassen worden. Danach habe sie keine Ruhe gehabt und sei ständig verfolgt worden.
In Deutschland sei sie exilpolitisch tätig und kämpfe gegen die äthiopische Regierung. Sie mache Aufklärungsarbeit hinsichtlich der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Sie sei für die EPPFG aktiv.
Die Klägerin ließ eine Mitgliedsbescheinigung der EPPFG in Kopie, einen Mitgliedsausweis der EPCOU in Kopie und diverse Bescheinigungen der EPPFG über die Teilnahme an verschiedenen Versammlungen in verschiedenen Städten und über die Teilnahme an diversen Demonstrationen in verschiedenen Städten, jeweils organisiert von der EPPFG oder von der EPCOU, vorlegen.
Mit Bescheid vom 23. Mai 2016 erkannte das Bundesamt der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1.) und den subsidiären Schutzstatus (Ziffer 3.) nicht zu und lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2.). Zudem wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Ziffer 4.). Die Klägerin wurde unter Abschiebungsandrohung nach Äthiopien zur Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung aufgefordert (Ziffer 5.). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6.). Zur Begründung wurde ausgeführt, der komplette Sachvortrag der Klägerin sei vollkommen unsubstantiiert und detailarm. Das Vorfluchtvorbringen könne ihr nicht geglaubt werden. Die exilpolitische Betätigung begründe keinen Flüchtlingsschutz. Es lägen keine Informationen vor, wonach Mitglieder der EPPF in Deutschland bei ihrer Rückkehr staatlichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt worden seien. Etwas anderes gelte nur für Mitglieder des Führungskomitees der EPPF, die nach außen hin erkennbar auf die Beseitigung der gegenwärtigen Regierung hinarbeiteten und dafür wesentliche Tatbeiträge leisteten. Dies sei vorliegend nicht der Fall, da die Klägerin lediglich angegeben habe, an Veranstaltungen teilgenommen und sich für die Rechte von Frauen eingesetzt zu haben. Diese Tätigkeit gehe nicht über die eines einfachen Mitglieds hinaus. Auf die weitere Begründung des Bescheides, der am 31. Mai 2016 als Einschreiben zur Post gegeben worden ist, wird Bezug genommen.
Am 8. Juni 2016 ließ die Klägerin im vorliegenden Verfahren Klage zum Verwaltungsgericht Würzburg erheben und beantragen, die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 1, 3, 4, 5 und 6 des Bescheides vom „6. Oktober 2015“ (gemeint wohl: 23. Mai 2016) zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen. Zugleich wurde beantragt,
der Klägerin Prozesskostenhilfe zu gewähren und ihr die Unterzeichnerin zur Wahrnehmung ihrer Rechte beizuordnen.
Zur Begründung wurde ausgeführt, die Klägerin sei bereits in Äthiopien politisch aktiv gewesen, sie habe Flugblätter für die verbotene Organisation Ginbot 7 verteilt. In der Bundesrepublik Deutschland setze die Klägerin ihre politische Betätigung fort. Sie sei aktives Mitglied der EPPFG und zuständig für „womens relations“. Sie nehme weiterhin an den Versammlungen der EPPFG sowie an sonstigen politischen Veranstaltungen gegen die äthiopische Regierung teil. Zudem habe sie verschiedene regierungskritische Artikel in diversen äthiopischen Magazinen veröffentlicht, darunter auch im Magazin „Goh“, welches der EPPFG zuzuschreiben sei. Aufgrund ihrer Vorfluchtgründe und ihrer exilpolitischen Aktivitäten sei die Klägerin bei einer Rückkehr nach Äthiopien der Gefahr politischer Verfolgung ausgesetzt. Dies ergebe sich auch aus der neuesten politischen Entwicklung in Äthiopien, wo am 9. Oktober 2016 der Ausnahmezustand ausgerufen worden sei. Zugleich ließ die Klägerin weitere Bescheinigungen der EPPFG über die Teilnahme an verschiedenen Versammlungen und Demonstrationen einschließlich entsprechender Lichtbilder vorlegen, dazu die Zeitschrift Goh, Ausgabe März 2014 und die Zeitschrift Meleket, Ausgabe Juli 2014, in welchen in amharischer Schrift Beiträge abgedruckt sind, welche mit dem in lateinischer Schrift geschriebenen Namen der Klägerin unterzeichnet sind.
Das Gericht gab dem Bundesamt unter Fristsetzung Gelegenheit zur Stellungnahme zur Zuspitzung der politischen Verhältnisse in Äthiopien. Eine Stellungnahme erfolgte nicht.
Im Übrigen wird auf das weitere schriftsätzliche Vorbringen der Parteien sowie auf den Inhalt der einschlägigen Verwaltungsakten des Bundesamtes, welche Gegenstand des Verfahrens waren, Bezug genommen.
II.
Der Klägerin ist Prozesskostenhilfe zu bewilligen, da die vorliegende Klage hinreichende Erfolgsaussichten hat und eine wirtschaftliche Bedürftigkeit der Klägerin vorliegt.
Nach § 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Die dabei anzustellende Prognose über die hinreichenden Erfolgs-aussichten verlangt keine Gewissheit, sondern lediglich eine gewisse Wahrscheinlichkeit. Tatsächliche und rechtliche Streitfragen können auf der Grundlage des bisherigen Vortrags nur summarisch beurteilt und deshalb nicht abschließend entschieden werden (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, § 166 Rn. 1; Olbertz in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 32. Ergänzungslieferung 2016, § 166 Rn. 6).
Hiervon ausgehend ist dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, B.v. 10.8.2001 – 2 BvR 569/01 – DVBl. 2001, 1748) stattzugeben.
Die Klage hat hinreichende Erfolgsaussichten.
Bezüglich der Beurteilung der Erfolgsaussichten der Klage ist auf den Zeitpunkt der Bewilligungsreife abzustellen. Als Zeitpunkt der Bewilligungsreife ist hier auf den Ablauf der der Beklagtenseite mit Schreiben vom 18. Januar 2017 gesetzten sechswöchigen Frist zur Stellungnahme zu der von der Klägerseite vorgetragenen Zuspitzung der politischen Verhältnisse in Äthiopien abzustellen, also auf Mitte März 2017. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Klage hinreichende Aussicht auf Erfolg. Dies ergibt sich aus Folgendem:
Rechtsgrundlage für die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) i.d.F. d. Bek. vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798), zuletzt geändert durch Gesetz vom 13. April 2017 (BGBl I S. 872). Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, gemäß § 3 Abs. 4 AsylG die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention – GK -), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung u.a. wegen seiner politischen Überzeugung außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
Schutz nach § 3 Abs. 1 AsylG wird gewährt, wenn dem Schutzsuchenden bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Merkmale Rechtsverletzungen aufgrund von Handlungen im Sinne von § 3a AsylG durch einen Akteur im Sinne von § 3c AsylG in seinem Herkunftsland drohen, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung des Staates ausgrenzen, so dass ihm nicht zuzumuten ist, in sein Herkunftsland zurückzukehren (BVerfG, B.v. 10.7.1989 – 2 BVR 502, 1000, 961/86 – NVwZ 1990, 151 f.; BVerwG, U.v. 29.11.1987 – 1 C 33.71 – BVerwGE 55, 82, 83 m.w.N.).
Die Voraussetzungen von § 3 Abs. 1 AsylG decken sich mit denen nach Art. 16a Abs. 1 GG hinsichtlich der geschützten Rechtsgüter und des politischen Charakters der Verfolgung, wobei § 3 Abs. 1 AsylG insofern einen weitergehenden Schutz bietet, als auch selbstgeschaffene subjektive Nachfluchtgründe die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen können. Ein Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung, Flucht und Asylantrag wird dabei nicht vorausgesetzt (vgl. BVerwG, B.v. 13.8.1990 – 9 B 100/90 – NVwZ-RR 1991, 215; BVerfG, B.v. 26.5.1993 – 2 BVR 20/93 – BayVBl 1993, 623).
Dies zugrunde gelegt sind die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG zur Überzeugung des Gerichts im Falle der Klägerin erfüllt. Sie muss bei einer Rückkehr nach Äthiopien mit staatlichen Verfolgungshandlungen rechnen. Diese knüpfen an ihre politische Überzeugung an und drohen ihr landesweit.
Dabei kann dahinstehen, ob die Klägerin vor ihrer Ausreise bereits Verfolgungsmaßnahmen erlitten hat oder von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war. Denn ungeachtet des Vorfluchtgeschehens drohen der Klägerin die in § 3 Abs. 1 AsylG beschriebenen Gefahren jedenfalls aufgrund ihrer exilpolitischen Aktivitäten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.
Das Gericht geht auf der Grundlage der ihm vorliegenden Erkenntnismittel davon aus, dass staatliche äthiopische Stellen Kenntnis von den oppositionellen Tätigkeiten im Ausland lebender äthiopischer Staatsangehöriger zu erlangen suchen.
Die von der äthiopischen Regierung erstellte Direktive „Richtlinie für den Aufbau der Wählerschaft für den Rest des Jahres 2005/2006“ (vgl. amnesty international, Auskunft an das VG Köln vom 28.4.2008 mit einer auszugsweisen Übersetzung des Wortlauts der Direktive) zielt darauf, möglichst umfassend alle im Ausland lebenden Äthiopier namentlich zu erfassen und zu registrieren (vgl. im Einzelnen OVG NW, U.v. 17.8.2010 – 8 A 4063/06.A – juris Rn. 57). Die Informationsbeschaffung erfolgt u.a. durch den Einsatz nachrichtendienstlicher Methoden, insbesondere mit Hilfe von Spitzeln. Dabei richtet sich das besondere Augenmerk auf die Aktivitäten der Auslands-CUD, deren Nachfolgeorganisation UDJ und Ginbot 7, der OLF, der ONLF und der EPRP (vgl. Günter Schröder, Auskunft vom 11.5.2009 an das VG Köln, S. 19). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die äthiopische Exilgemeinde in Deutschland so klein ist, dass auch Organisationen mit örtlich begrenztem Wirkungskreis einer Beobachtung durch staatliche äthiopische Stellen ausgesetzt sind. Dabei bezieht sich das Interesse des äthiopischen Staates nicht nur auf die Mitglieder der beobachteten Parteien, sondern auch auf deren Sympathisanten (BayVGH, Ue.v. 25.2.2008 – 21 B 07.30363 und 21 B 05.31082 – jeweils juris; OVG NW, a.a.O. – juris Rn. 64; Institut für Afrika-Kunde, GIGA, Auskunft vom 24.04.2008 an das VG Köln). Hierzu verfügt die äthiopische Regierung über die zur Überwachung von Festnetz, Internet und Radioprogrammen sowie zur Gesichtserkennung erforderliche Technologie (Günter Schröder, Stellungnahme an das VG Gießen vom 23.2.2017, Rn. 179).
Nach Ansicht von Günter Schröder (a.a.O., Rn. 196) ist eindeutig belegt, dass Botschaftsmitarbeiter oppositionelle Tätigkeiten im Ausland erfassen, weitergeben und geeignete Gegenmaßnahmen durchführen. Hierbei werden zunehmend auch Personen erfasst, die im Ausland nur periphär oder gänzlich zufällig mit oppositionellen Aktivitäten in Berührung gekommen sind (Günter Schröder, a.a.O., Rn. 200).
Auf dieser Grundlage geht das Gericht davon aus, dass die Klägerin aufgrund ihrer exilpolitischen Tätigkeit dem äthiopischen Geheimdienst bekannt ist.
Die Klägerin ist wegen ihres regierungskritischen politischen Engagements Gefahren im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG ausgesetzt.
Unter welchen Voraussetzungen ein exilpolitisches Engagement eine beachtliche Verfolgungsgefahr auslöst, insbesondere, ob schon die schlichte Mitgliedschaft in einer oder die einfache Tätigkeit für eine exilpolitische Organisation dazu ausreicht, wird in den vorliegenden Auskünften unterschiedlich eingeschätzt.
Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes (Lagebericht vom 6.3.2017, II., 1.9) liegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass allein die Betätigung für eine oppositionelle Organisation im Ausland bei Rückkehr nach Äthiopien zu staatlichen Repressionen führt. Grundsätzlich komme es auf den Einzelfall an, also z.B. darauf, ob eine Organisation von den äthiopischen Stellen als terroristisch angesehen werde oder welche Art exilpolitischer Aktivität festgestellt werde (führende Opposition; Organisation gewaltsamer Aktionen). Von Bedeutung sei auch, ob und wie sich eine zurückgeführte Person anschließend in Äthiopien politisch betätige.
Demgegenüber vertritt Günter Schröder (Auskunft vom 11.5.2009 an das VG Köln, Rn. 198 ff.) die Auffassung, dass im heutigen Äthiopien die eine staatliche Verfolgung auslösenden Momente in der Regel vielschichtig seien. Eine qualifizierte Verfolgungsprognose könne in der Regel nur aufgrund einer Gesamtbetrachtung all der in der Person der Betroffenen vorhandenen Merkmale, die für sich genommen vielleicht noch keine Verfolgung begründeten, aber bei kumulativem Vorliegen durchaus geeignet seien, staatliche Zwangsmaßnahmen auszulösen, erfolgen. Den handelnden äthiopischen Sicherheitsbehörden sei ein hohes Maß an Beliebigkeit und Willkür eigen. Dies erlaube nicht, exakte Voraussagen über eine Verfolgungswahrscheinlichkeit zu treffen, die an den Umfang der politischen Aktivitäten von oppositionell Eingestellten oder Oppositionsbewegungen angehörenden Personen und deren Funktionen in einer Organisation anknüpften. Eine Unterscheidung in unbedeutende oder herausgehobene Tätigkeiten sei für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsgefahr als nicht relevant zu sehen.
Das Institut für Afrika-Kunde (GIGA, Auskunft vom 24.4.2008 an das VG Köln) ist in einer sich speziell auf einen Unterstützer der OLF beziehenden Auskunft der Auffassung, es könne nicht sinnvoll differenziert werden, zu welchen Maßnahmen die bloße Mitgliedschaft, die Teilnahme an Demonstrationen oder die exponierte Mitgliedschaft in der UOSG führen werde; hier sei ein hohes Maß an Willkür der äthiopischen Behörden einzukalkulieren.
Zu berücksichtigen ist auch die oben genannte Direktive zum Aufbau einer Wählerschaft einschließlich eines Zusatzdokuments vom 31. Juli 2006. Hier heißt es, dass eine Namensliste der Oppositionsführer weitergeleitet werden soll, um das „radikale Oppositionslager zu schwächen“. Beabsichtigt ist insbesondere, Oppositionsführer mit Hilfe von Informanten öffentlich bloß zu stellen (Direktive III, 3.1.3 Hauptaufgaben, Unterpunkte 1 und 2). Gleiches legt das Zusatzpapier vom 31. Juli 2006 fest (vgl. einleitendes Anschreiben an die Botschaften, Konsulatgenerale und ständigen Vertretungen der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien, 1. Absatz). Zudem findet sich im Vorwort dieses Papiers die Bemerkung, es sei nicht genug getan worden, um die extremistischen Oppositionsgruppen politisch zu lähmen. Der Unterabschnitt „Fahrplan zum Aufbau einer Wählerschaft für das verbleibende Haushaltsjahr 1998“, Ziffer III 3.1.3, gibt die Anweisung, Namenslisten von Organisatoren extremistischer Oppositionsgruppen an die Zentrale zu schicken, um das Oppositionslager schwächen zu können.
Aus der Zusammenschau dieser Unterlagen ergibt sich, dass die Toleranzschwelle des äthiopischen Staates gegenüber exilpolitischen Aktivitäten seiner Staatsangehörigen sehr gering ist, so dass nicht nur medienwirksam exponierte Führungspersönlichkeiten der als terroristisch angesehenen illegalen Opposition bedroht sind. Die Gefahrenabschätzung des Auswärtigen Amtes, dass nur erheblich exponierte Mitglieder von als terroristisch angesehenen Parteien verfolgt würden, lässt sich nicht durch tatsächliche Erkenntnisse belegen, zumal es kaum zu Abschiebungen von äthiopischen Staatsangehörigen in ihr Heimatland kommt.
Aufgrund der oben dargestellten Erkenntnisse ist die Kammer bislang – im Anschluss an die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH, U.v. 25.2.2008 – 21 B 05.31082 – juris) – davon ausgegangen, dass jedenfalls Personen, die sich exponiert politisch betätigt haben, mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen haben, dies aufgrund der niedrigen Toleranzschwelle des äthiopischen Staates, so dass bei der gebotenen Gesamtbetrachtung der Umstände des Einzelfalls von einer Verfolgungsgefahr bereits dann ausgegangen wurde, wenn sich der Asylsuchende aus dem Kreis der bloßen Mitläufer als ernsthafter Oppositioneller hervorhob (BayVGH, U.v. 25.2.2008 – 21 B 07.30363 – juris; OVG NW, U.v. 17.8.2010 – 8 A 4063/06.A – juris Rn. 94; VG Würzburg, U.v. 13.2.2012 – W 3 K 10.30350 – juris; VG Bayreuth, U.v. 18.1.2013 – B 3 K 11.30156 – juris; VG Ansbach, U.v. 29.8.2011 – AN 18 K 10.30507 – juris; VG München, U.v. 9.8.2012 – M 12 K 12.30434 – juris).
Nach der bisherigen Rechtsprechung galt dies jedoch nicht für bloße „Mitläufer“. In Zusammenhang mit der erwähnten Direktive einschließlich des Zusatzpapiers, die auf Oppositionsführer und Organisatoren abstellt, war das Gericht bislang in ständiger Rechtsprechung der Auffassung, dass ausschlaggebend nicht allein das Innehaben eines Amtes oder das Verfassen eines Artikels ist, sondern das tatsächliche politische Engagement, das den Asylsuchenden als eine von der Masse der äthiopischen Asylsuchenden abhebende Person darstellt (vgl. VG Würzburg, U.v. 17.3.2014 – W 3 K 14.30042 – juris; U.v. 31.7.2011 – W 3 K 11.30081 – juris).
Diese Rechtsprechung hält die Kammer so nicht mehr aufrecht, dies aufgrund der neuesten politischen Entwicklung in Äthiopien, welche auch zu Änderungen hinsichtlich der Gefahrenlage für exilpolitisch tätige Flüchtlinge führt.
Nach den im Mai 2015 durchgeführten Wahlen, die zu einem vollständigen Sieg der EPRDF geführt hatten, begannen ohne erkennbaren Anlass im Herbst 2015 massive Proteste der Oromos gegen die angebliche Absicht der Regierung, Teile Oromias an Addis Abeba zu übertragen. Diese wurden gewaltsam niedergeschlagen. Anfang Dezember 2015 eskalierte in der Region Amhara ein langjähriger Konflikt um die lokale Kemant-Nationalität, der von der regionalen Polizei niedergeschlagen wurde. Im Juli 2016 kam es zu Unruhen in der Amhara-Region mit gewalttätigen Protesten, mit denen sich protestierende Oromos in Oromia solidarisch erklärten. Anlässlich des jährlichen Irreecha-Fests der Oromos im Bishoftu kam es am 2. Oktober 2016 erneut zu massiven Protesten mit mindestens 50 Toten, was zu weiteren gewalttätigen Massenprotesten in ganz Oromia führte. Daraufhin verhängte die Regierung am 9. Oktober 2016 den Ausnahmezustand, was zur Verhaftung von mehr als 10.000 Personen führte. Diese wurden teilweise wieder freigelassen, jedoch kam es seitdem zu verschärftem Vorgehen der äthiopischen Sicherheitskräfte gegen die Oromogemeinschaft und gegen vermutete Unterstützer und Mitglieder von von der äthiopischen Regierung als terroristisch eingestuften Vereinigungen wie Ginbot 7. Es ist verboten, Fernsehsender aus der „Diaspora“ anzusehen, das Internet wurde zeitweilig blockiert, Verdächtige können ohne Verfahren festgehalten werden. Der Grad an Repression hat nach Verhängung des Ausnahmezustand nochmals stark zugenommen. Die Regierung versucht derzeit, die bestehenden Probleme nicht durch Dialog, sondern durch die Verbreitung eines Klimas der Angst zu lösen (vgl. Günter Schröder, Stellungnahme an das VG Gießen vom 23.2.2017, Rn. 93 ff.; AA, Lagebericht vom 6.3.2017, Ziffer I 1; FAZ vom 19.10.2016, Repression und noch mehr Repression; Entschließung des Europäischen Parlaments vom 21.1.2016 zur Lage in Äthiopien [2016/2520, {RSP}], Erwägungen A bis M und Ziffern 1 bis 4 und 6 bis 11; GIGA, Auskunft an das VG Gießen vom 30.1.2017; Dr. Reinhard Kees, Bericht vom März 2017, Beirat Horn – von – Afrika des Berliner Missionswerkes; Missionswerk der EKBO, Offene Briefe an Frau Bundeskanzlerin Merkel vom 29.9.2016 und vom Januar 2017; SZ vom 5.7.2017, Reifeprüfung).
Nach einem Bericht über einen Besuch in Oromia ist es komplett verboten, über Politik zu sprechen. Soldaten dringen nachts in die Häuser ein. Jeder wird verdächtigt, der jung und männlich ist, gebildet oder sogar Student. Verhaftungen und Demütigungen sind an der Tagesordnung. Es gibt ein komplettes Versammlungs- und Demonstrationsverbot, ebenso ist das Tanzen und Singen auf der Straße verboten. Niemand weiß, „wer wen verpfeift“ (Gesellschaft für bedrohte Völker, Eindrücke vom Besuch bei Freunden im Ausnahmezustand, Begegnungen mit Menschen im Hochland Äthiopiens, Bundesland Oromia, Oktober 2016).
Zwar lief im Februar 2017 das Leben auf dem ersten Blick wieder normal, doch ist das Militär ständig präsent und beobachtet flächendeckend das alltägliche Geschehen (Dr. Reinhard Kess, a.a.O.).
Während dieser in Äthiopien stattfindenden Entwicklung schürte die externe Opposition massiv vom Ausland und mit Hilfe von Eritrea die Agitation gegen die EPRDF-Herrschaft (Günter Schröder, a.a.O., Rd. 129). Deshalb richten sich die Vorschriften zum Ausnahmezustand explizit auch gegen die vom Ausland her operierenden Oppositionen und Medien, die als terroristisch eingestuft werden (Günter Schröder, a.a.O., Rn. 122).
Diese politische Entwicklung führt zu einer neuen Einschätzung der Gefahrensituation für äthiopische Staatsbürger, die sich in der Bundesrepublik Deutschland exilpolitisch betätigen.
Nach der Einschätzung von Günter Schröder (a.a.O., Rn. 200) kommen aufgrund der oben dargestellten Kenntnis des äthiopischen Sicherheitsdienstes hinsichtlich exilpolitischer Tätigkeiten von im Ausland lebenden Äthiopiern solche Personen „unter einen niemals abzuschüttelnden Generalverdacht politischer Unzuverlässigkeit, der ihnen künftig in jedem Kontakt mit äthiopischen Behörden anhängt und zur Gefährdung werden kann“.
Unter diesem Blickwinkel hält Günter Schröder generell die Unterscheidung in unbedeutende und herausgehobene bzw. exponierte Tätigkeiten und Stellungen in einer Oppositionsorganisation als nicht relevant für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsgefahr. Es ist davon auszugehen, dass für die äthiopischen Sicherheitsorgane die Motivation für eine äthiopische Person, im Ausland als Unterstützung einer terroristischen Organisation auslegbare Handlungen zu begehen, unerheblich ist. Selbst wenn solche Handlungen nur aus opportunistischen Überlegungen zum Zwecke der Asylsicherung erfolgten, so stellten sie – so Schröder – in den Augen der äthiopischen Sicherheitsorgane dennoch objektiv eine Unterstützung terroristischer Organisationen dar und wären entsprechend zu ahnden (Günter Schröder, a.a.O., Rn. 228 und Rn. 232).
Für das Auswärtige Amt (Auskunft vom 9.12.2016 an das VG Gießen) ist es wahrscheinlich, dass für Personen, bei denen eine Mitgliedschaft in einer von der äthiopischen Regierung als terroristisch eingeschätzten Gruppe vermutet wird, bei einer Rückkehr nach Äthiopien Haft für unbestimmte Zeit oder Misshandlung droht, da Bestandteil der Regelungen zum Ausnahmezustand auch ein Kommunikationsverbot mit Terrorgruppen ist.
Nach Ansicht von GIGA (Auskunft an das VG Gießen vom 30.1.2017) ist es keinesfalls auszuschließen, dass Äthiopiern, die sich zuvor im Ausland politisch betätigt bzw. regierungskritisch geäußert hatten, die Verhaftung für unbestimmte Zeit droht, selbst wenn sie keine führende Stellung in der EPPFG inne hatten. Die Messlatte für Verhaftungen liege – so GIGA – derzeit sehr niedrig, es sei zu Verhaftungen schon aufgrund bloßer regierungskritischer Äußerungen im privaten Rahmen gekommen.
Auf der Grundlage dieser Auskünfte und mit Blick auf das verschärfte Vorgehen der äthiopischen Sicherheitskräfte gegen jegliche Art oppositioneller Tätigkeit in Äthiopien selbst sowie unter Berücksichtigung des von der äthiopischen Regierung verhängten strikten Kontaktverbots zu von ihr als terroristisch bewerteten Gruppen ist das Gericht der Auffassung, dass sich auch die Gefahrensituation für in Deutschland exilpolitisch tätige äthiopische Staatsangehörige verschärft hat. Dies gilt zumindest für Mitglieder und Anhänger von Organisationen, die vom äthiopischen Staat als terroristisch eingeordnet werden. Aus den dargestellten Auskünften wird deutlich, dass der äthiopische Sicherheitsdienst unterschiedslos jegliche von ihm beobachtete oppositionelle Tätigkeit im Ausland meldet; zudem wird deutlich, dass hierbei nicht (mehr) differenziert wird zwischen bloßen Mitläufern, die auf der Grundlage einer Risikoeinschätzung nicht zu einer realen Gefahr für das äthiopische Regime werden, und Personen, die sich aus den Kreis der bloßen Mitläufer herausheben und aufgrund ihres politischen Denkens und Handelns tatsächlich als Gefahr für das äthiopische Regime ernst zu nehmen sind. Damit besteht nunmehr auch für äthiopische Staatsangehörige, die sich zu Organisationen bekennen, die vom äthiopischen Staat als terroristisch eingestuft werden, und die ein Mindestmaß an Aktivität im Rahmen dieser Organisationen vorweisen können, eine konkrete Gefahr bei einer Rückführung nach Äthiopien. Dies ist auch unter dem Blickwinkel des § 3b Abs. 2 AsylG zu sehen, wonach es unerheblich ist, ob der Asylsuchende tatsächlich die politischen Merkmale aufweist, die zu seiner Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
Angesichts der Unberechenbarkeit der äthiopischen Sicherheitsbehörden haben solche Personen mit einer längeren Inhaftierung, verbunden mit intensiver Befragung und Misshandlung unter inhumanen Haftbedingungen zu rechnen (Günter Schröder, a.a.O., Rn. 237; AA, Auskunft an das VG Gießen v. 9.12.2016; GIGA, Auskunft an das VG Gießen v. 30.1.2017).
Dies stellt eine Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 AsylG aufgrund einer politischen Überzeugung im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG dar. Eine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG ist für solche Personen angesichts der umfassenden Präsenz der äthiopischen Sicherheitsbehörden im ganzen Land nicht erkennbar.
Auf dieser Grundlage ist der Klägerin Prozesskostenhilfe zu gewähren, da ihre Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfolgreich sein wird. Die Klägerin hat mittels diverser Bescheinigungen und Lichtbilder glaubhaft dargelegt, dass sie an vielen verschiedenen Versammlungen der EPPFG und von dieser Gruppierung organisierten Demonstrationen teilgenommen hat. Die EPPFG steht der von der äthiopischen Regierung als terroristische Vereinigung eingestuften EPPF nahe; es ist wahrscheinlich, dass auch sie als Terrorgruppe eingestuft wird (AA, Auskunft vom 9.12.2016 an das VG Gießen). Zudem hat die Klägerin die Zeitschriften Gho und Meleket jeweils im Original vorgelegt, aus denen sich ergibt, dass dort jeweils unter ihrem Namen und einmal mit Wohnortangabe ein regierungskritischer Artikel erschienen ist.
Wie oben ausgeführt, muss davon ausgegangen werden, dass diese exilpolitischen Tätigkeiten dem äthiopischen Geheimdienst bekannt geworden sind und dass sich hieraus eine konkrete Verfolgungsgefahr bei einer Rückführung der Klägerin nach Äthiopien ergibt, die eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen würde.
Die Klägerin hat auch genügend glaubhaft gemacht, dass sie lediglich Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bezieht (dies gilt nach telefonischer Auskunft der Stadt A* … vom 5.7.2017 auch derzeit noch) und sonstiges Vermögen nicht vorhanden ist. Die Beschränkung der Prozesskostenhilfe auf die Kosten, die angefallen wären, wenn ein im Bezirk des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg niedergelassener Rechtsanwalt gewählt worden wäre, beruht auf § 166 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 3 ZPO.
Damit war der Klägerin die beantragte Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Frau Rechtsanwältin … zu bewilligen.


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