Verwaltungsrecht

Nigeria, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (verneint), keine drohende Reviktimisierung wegen Zwangsprostitution, keine Gefahr der Beschneidung (FGM) bei Rückkehr, subsidiärer Schutz (verneint), Abschiebungsverbote (verneint), fehlende Vorlage eines aktuellen ärztlichen Attests

Aktenzeichen  Au 9 K 19.31569

Datum:
13.1.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 4157
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 113 Abs. 5 S. 1
AsylG § 3
AsylG § 4
AufenthG § 60 Abs. 5
AufenthG § 60 Abs. 7

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen. 
II. Die Klägerinnen haben die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. 

Gründe

Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte trotz der Abwesenheit der Beteiligten im Termin zur mündlichen Verhandlung am 13. Januar 2022 über die Klage entscheiden, weil sowohl die Klägerinnen über ihren Bevollmächtigten als auch die Beklagte ordnungsgemäß zum Verhandlungstermin geladen wurden unter Hinweis darauf, dass auch in ihrer Abwesenheit verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Die Klage bleibt ohne Erfolg. Sie ist zwar zulässig, aber unbegründet.
Die Klägerinnen haben im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs.1 AsylG) keinen Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigte, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes bzw. auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots auf der Grundlage des § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Der mit der Klage angegriffene Bescheid des Bundesamts vom 18. November 2019 (Gz.: …) ist rechtmäßig. Es wird zunächst in vollem Umfang auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) Bezug genommen. Darüber hinaus wird das Folgende ausgeführt.
1. Die Klägerinnen besitzen keinen Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigte im Sinne von Art. 16a GG. Einem solchen Anspruch steht bereits die Einreise der Klägerinnen ausschließlich auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland über einen sicheren Drittstaat entgegen. Insoweit bestimmt § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylG, das einem Ausländer, der aus einem Drittstaat im Sinne des Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG (sicherer Drittstaat) eingereist ist, sich nicht auf Art. 16a Abs. 1 GG berufen kann. § 26a Abs. 1 Satz 2 AsylG schließt insoweit eine Anerkennung als Asylberechtigter aus. Ausweislich der im Verfahren beim Bundesamt vorgelegten Unterlagen und Erklärungen sind die Klägerinnen auf dem Landweg über Italien in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Auf den genauen Reiseweg kommt es insoweit nicht an.
2. Die Klägerinnen haben aber auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach §§ 3 ff. AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
Die Tatsache, dass der Ausländer bereits verfolgt oder von Verfolgung unmittelbar bedroht war, ist dabei ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, wenn nicht stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass er neuerlich von derartiger Verfolgung bedroht ist. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen eine Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dabei ist es Sache des Ausländers, die Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei genügt für diesen Tatsachenvortrag auf Grund der typischerweise schwierigen Beweislage in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
Wer bereits Verfolgung erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei der Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (kausal-) Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus (vgl. BVerfG, B.v. 12.2.2008 – 2 BvR 2141/06 – juris Rn. 20; VG Köln, U.v. 26.2.2014 – 23 K 5187/11.A – juris Rn. 26).
Gemessen an diesen Maßstäben konnte weder die Klägerin zu 1 noch die Klägerin zu 2 eine individuelle Verfolgung glaubhaft machen. Eine asylrechtlich-relevante Vorverfolgung bzw. Rückkehrgefährdung im Sinne der §§ 3, 3b AsylG ist bezogen auf die Klägerinnen nicht festzustellen.
Dies gilt insbesondere unter Berücksichtigung durch von der Klägerin zu 1 geltend gemachten Zwangsprostitution in Marokko bzw. Libyen.
Der Handel von nigerianischen Frauen und Kindern zu sexuellen Zwecken ist in Nigeria ein weit verbreitetes Phänomen und ein Problem großen, jedoch schwer bezifferbaren Ausmaßes. Die meisten Opfer des Menschenhandels stammen aus Benin City, der Hauptstadt des Bundesstaats Edo, sowie nahegelegenen Dörfern (vgl. Bericht des European Asylum Support Office – EASO – über Herkunftsländer – Informationen – Nigeria: Sexhandel mit Frauen, S. 14 ff. m.w.N.). Üblicherweise werden die Opfer in der Rekrutierungsphase durch Täuschung oder falsche Versprechungen dazu bewegt, nach Europa (überwiegend nach Italien und Spanien) zu gehen, um dort als Prostituierte zu arbeiten. Häufig wird den Frauen, die meist aus ärmlichen Verhältnissen stammen, in Aussicht gestellt, in Europa einen gut bezahlten Arbeitsplatz oder Bildungschancen zu erhalten, um dort ein besseres Leben führen zu können bzw. der in Nigeria zurückbleibenden Familie aus der Armut heraushelfen zu können. Zentrale Figuren und Anführer der Menschenhandelsnetzwerke sind in der Regel die sogenannten „Madams“, die oft selbst frühere Opfer der Zwangsprostitution sind. Die Madams rekrutieren die Opfer und überwachen den gesamten Prozess des Menschenhandels. Sie sind häufig auch die Personen, welche die Reise nach Europa finanzieren. Eine Aufklärung über die tatsächliche Schuldenhöhe erfolgt erst nach der Ankunft in Europa. Den zur Prostitution gezwungenen Frauen wird in der Regel ein Schuldenbetrag in Höhe von 35.000,00 EUR bis 50.000,00 EUR in Rechnung gestellt, den sie bei der Madame abbezahlen müssen (vgl. Bericht des European Asylum Support Office – EASO – über Herkunftsländerinformationen – Nigeria: Sexhandel mit Frauen, S. 26 m.w.N.). Um die Zwangslage der zur Prostitution gezwungenen Frauen zu verstärken, kommt Voodoo – Ritualen eine besondere Bedeutung zu. Der Glaube an Voodoo ist in Nigeria, insbesondere im Bundesstaat Edo, weit verbreitet. Bei Voodoo, zuweilen auch als „Juju“ bezeichnet, handelt es sich um eine traditionelle westafrikanische Glaubensrichtung, die durch schwarze Magie und rituelle Schwüre geprägt ist. Dies machen sich die Menschenhändler zunutze, um die Opfer aufgrund ihres Glaubens an die Madam und die Schleuser zu binden und psychischen Druck auf die Opfer auszuüben. Die betroffenen Frauen müssen in einer rituellen Zeremonie einen sogenannten Juju – Schwur ablegen, durch welchen sie sich dazu verpflichten, das geschuldete Geld zurückzuzahlen, die Identität der Menschenhändler nicht preiszugeben und sich diesen bedingungslos zu untergeben. Es wird daran geglaubt, dass der Bruch des Schwurs Krankheit, Wahnsinn oder den Tod der Frauen und deren Familien zur Folge habe (vgl. dazu auch ACCORD, Nigeria – Traditionelle Religion, Okkultismus, Hexerei und Geheimgesellschaften, Bericht vom 17.6.2011, S. 7 f.; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Nigeria: Zwangsheirat, Innerstaatliche Fluchtalternative für alleinstehende Frau, Einfluss von Voodoo – Praktiken, 16.3.2016).
Ob nach Nigeria zurückkehrende Frauen, die Opfer von Menschenhandel geworden sind und sich hiervon befreit haben, eine soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG darstellen, kann offen bleiben (vgl. VG Würzburg, U.v. 17.11.2015 – W 2 K 14.30213 – juris Rn. 29 f. m.w.N.; mit überzeugenden Argumenten hiergegen VG Gelsenkirchen, U.v. 15. 3.2013 – 9a K 3963/11.A – juris). Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.
Selbst bei Annahme einer sozialen Gruppe genügt alleine die Zugehörigkeit zu einer solchen nicht, um einen Anspruch der Klägerin zu 1 auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG zu begründen. Es gibt zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 VwGO) keine Anhaltspunkte dafür, dass der Klägerin zu 1 durch die Gesellschaft oder ihre Familie eine Stigmatisierung aufgrund ihrer Tätigkeit als Prostituierte in Marokko bzw. Libyen drohen würde. Das Gericht ist insbesondere aufgrund der persönlichen Erklärungen der Klägerin zu 1 im Verfahren beim Bundesamt der Überzeugung (§ 108 Abs. 1 VwGO), dass der Klägerin zu 1 bei einer Rückkehr nach Nigeria keine Gefahr der Reviktimisierung droht. Die Klägerin hat im behördlichen Verfahren beim Bundesamt ausgeführt, dass ihr letzter Kontakt mit der sie betreuenden Madame auf das Jahr 2015 zurückgeht. Es ist für das Gericht auch nicht ersichtlich, dass derzeit ein aktueller Kontakt der Klägerin zu 1 zu Menschenhandelsorganisationen besteht. Im Übrigen hat sich auch die Situation der Klägerin zu 1 mit der Geburt der Klägerin zu 2 im Jahr 2017 nachhaltig verändert. Weiter verweist das Gericht auf die Gründe im angefochtenen Bescheid des Bundesamts vom 18. November 2019. Weiterer Sachvortrag der Klägerin zu 1 liegt nicht vor, nachdem diese zur mündlichen Verhandlung am 13. Januar 2022 nicht erschienen ist.
Auch die Klägerin zu 2 konnte eine individuelle Verfolgung nicht glaubhaft machen. Eine Rückkehrgefährdung im Sinne der §§ 3, 3b AsylG ist bezogen auf die in Italien geborene Klägerin zu 2 nicht festzustellen.
Dies gilt insbesondere in Bezug auf die vorgetragene geschlechtsbezogene Verfolgung (§ 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG).
Zwar stellt die geltend gemachte zwangsweise Beschneidung einen asylerheblichen Eingriff dar, der vom Grundsatz her einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen kann.
Dabei geht das Gericht nach den vorliegenden Erkenntnissen grundsätzlich davon aus, dass die weibliche Genitalverstümmelung in allen bekannten Formen nach wie vor in Nigeria verbreitet ist. Schätzungen zur Verbreitung der weiblichen Genitalverstümmelung gehen jedoch weit auseinander und reichen von 19% bis zu 50% bis 60% (vgl. dazu etwa Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria – Lagebericht – vom 21. Januar 2018, Stand September 2017, Nr. II.1.8).
Es wird zwar teilweise von einem Rückgang der Beschneidungspraxis bzw. einem Bewusstseinswandel ausgegangen, dennoch ist die Beschneidungspraxis noch in den Traditionen der nigerianischen Gesellschaft verwurzelt. Nach traditioneller Überzeugung dient die weibliche Genitalverstümmelung der Sicherung der Fruchtbarkeit, der Kontrolle der weiblichen Sexualität, der Verhinderung von Promiskuität und der Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft der Frauen durch eine Heirat. Angesichts des Umstandes, dass teilweise nur eine beschnittene Frau als heiratsfähig angesehen wird, kann der Druck auf die Betroffenen als auch auf deren Eltern zur Durchführung einer Beschneidung erheblich sein. Zur Erreichung der „Heiratsfähigkeit“ sind häufig gerade weibliche Familienmitglieder bemüht, die Beschneidung durchführen zu lassen und mitunter erfolgt dies auch gegen den Willen der Eltern. Übereinstimmend wird davon ausgegangen, dass die weibliche Genitalverstümmelung besonders in ländlichen Gebieten und hierbei insbesondere im Süden bzw. Südwesten und im Norden des Landes verbreitet ist. Das Beschneidungsalter variiert von kurz nach der Geburt bis zum Erwachsenenalter und ist abhängig von der jeweiligen Ethnie. Auch nach der allgemein zugänglichen Stellungnahme „The Epidemiology of Female Genital Mutilation in Nigeria – A Twelve Year Review“ ist selbst innerhalb der Ethnie der Yoruba von 2013 bis 2016 die Beschneidungspraxis stark rückläufig (von 54,5 auf 45,4%). Gesamtbetrachtet lag der Anteil beschnittener Mädchen und Frauen in Nigeria im Jahr 2013 noch bei 24, 8%. 2017 waren es nur noch 18,4% (vgl. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich – BFA – Nigeria, Gesamtaktualisierung vom 20.5.2020 Nr. 17.1, S. 43 m.w.N.).
Für die Klägerin zu 2 besteht aus den nachfolgenden Gründen keine hinreichende Gefahr, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft infolge geschlechtsbezogener Verfolgung führen könne.
Hierbei ist insbesondere auch nach dem Informationsbrief des Informationszentrums Asyl und Migration – Weibliche Genitalverstümmelung – Formen – Auswirkungen – Verbreitung – Asylverfahren vom April 2010 maßgeblich auf die jeweilige Volkszugehörigkeit abzustellen. Die Klägerinnen sind Volkszugehörige der Volksgruppe der Edo. Bei Volkszugehörigen der Edo (bzw. Bini oder Benin) findet weibliche Genitalverstümmelung regelmäßig nur zwischen dem 7. und 14. Tag nach der Geburt statt. Das Auswärtige Amt hat bereits im Jahr 2005 darüber hinaus Zweifel daran erhoben, ob bei Volkszugehörigen der Edo überhaupt noch weibliche Genitalverstümmelung (FGM) stattfindet (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 7. Juni 2005 an das Bundesamt, Az.: 508-516.80/43807). Überdies ist darauf zu verweisen, dass die Ausführungen der gesetzlichen Vertreterin der Klägerin zu 2, von wem die Gefahr einer möglichen Beschneidung ausginge, äußerst vage, inhaltsleer und oberflächlich sind. Hieraus vermag das Gericht keine hinreichend konkrete Gefahr für die Klägerin zu 2 bei einer Rückkehr nach Nigeria zusammen mit ihrer gesetzlichen Vertreterin (Klägerin zu 1) abzuleiten. Weiter ist darauf zu verweisen, dass auch die gesetzliche Vertreterin der Klägerin zu 2 eine Beschneidung ablehnt. Auch ist das Gericht der Überzeugung, dass es der Klägerin zu 1 gelingen würde, ausreichenden Schutz vor einer zwangsweisen Durchführung einer FGM zu gewähren und sicherzustellen. Bezüglich der Volksgruppe der Edo (Bini) wird mittlerweile häufig festgestellt, dass weibliche Genitalbeschneidungen gar nicht mehr vollzogen werden. Dies zugrunde gelegt ist die Gefahr einer weiblichen Genitalverstümmelung der Klägerin zu 2 bei einer erstmaligen Einreise nach Nigeria mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen bzw. nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Zum einen erschöpfen sich die Angaben der Klägerin zu 1 in einer bloßen Behauptung der Tradition der weiblichen Genitalverstümmelung im Bundesstaat Edo State. Von wem individuell eine Gefahr für die Klägerin zu 2 überhaupt drohen könnte, wird hingegen nicht aufgezeigt. Zur mündlichen Verhandlung am 13. Januar 2022 ist die Klägerin zu 1 nicht erschienen. Im Übrigen ist die Klägerin zu 1 durchaus in der Lage, bei einer Rückkehr nach Nigeria ausreichenden Schutz vor einem eventuellen sozialen Druck zur Durchführung einer FGM sicherzustellen. Die Klägerin zu 1 ist bei einer Rückkehr nach Nigeria nicht gezwungen, an ihre vormaligen Aufenthaltsorte zurückzukehren. Der Klägerin zu 1 ist es durchaus zumutbar, eine anderweitige Relokationsmöglichkeit im Sinne des § 3e AsylG zu ergreifen und sich dort niederzulassen.
Da Genitalverstümmelungen in ländlichen Gebieten weiter verbreitet sind als in den Städten, ist es der gesetzlichen Vertreterin der Klägerin im Fall einer tatsächlichen Bedrohung möglich, sich außerhalb von Benin City in einem städtischen Gebiet niederzulassen, in welchem die Beschneidungspraxis nicht mehr derart verbreitet ist. So gilt die Durchführung der weiblichen Genitalverstümmelung beispielsweise in Lagos mittlerweile sogar als absolute Ausnahme (vgl. zum Gesamten: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Informationszentrum Asyl und Migration – weibliche Genitalverstümmelung – Formen, Auswirkungen, Verbreitung, Asylverfahren – April 2010, S. 44).
Nach allem war der Antrag der Klägerin zu 2 auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf der Grundlage der § 3 ff AsylG abzulehnen. Der Klägerin zu 2 steht ebenfalls kein diesbezüglicher Anspruch zur Seite.
3. Der beantragte (unionsrechtliche) subsidiäre Abschiebungsschutz nach § 4 AsylG kommt ebenfalls nicht in Betracht.
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt dabei auch die Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG). Die Art der Behandlung oder Bestrafung muss eine Schwere erreichen, die dem Schutzbereich des Art. 3 EMRK zuzuordnen ist und für den Fall, dass die Schlechtbehandlung von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht, muss der Staat erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sein, Schutz zu gewähren (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3 c Nr. 3 AsylG).
Die Klägerinnen sind im Falle einer erstmaligen Einreise bzw. Rückkehr nach Nigeria nicht einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG) ausgesetzt, auch nicht wegen ihres christlichen Glaubens. Die immer wieder aufkommenden, gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen christlichen und muslimischen Gruppen, bzw. die Angriffe und Auseinandersetzung mit der Gruppierung „Boko Haram“ sind überwiegend regional begrenzt und weisen nicht die Merkmale eines innerstaatlichen Konflikts i.S. der Vorschrift und der dazu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung auf (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 2013 -, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13/10 -, U.v. 27. 4.2010 – 10 C 4/09 -, U.v. 14.7.2009 – 10 C 9/08 und U.v. 24.6.2008 – 10 C 43/07 – sowie B.v. 14.11.2012 – 10 B 22/12 – jeweils juris). Das Ausmaß dieser Konflikte ist in Intensität und Dauerhaftigkeit nicht mit Bürgerkriegsauseinandersetzungen, die in Nigeria (noch) nicht festzustellen sind, vergleichbar. Nach den allgemein zugänglichen Erkenntnismitteln (Tagespresse, Medien) und Erkenntnissen des Gerichts kam es zwar auch im Jahr 2017 und 2018 sehr häufig zu Anschlägen der Gruppe „Boko Haram“ und sind auch die Einsätze der nigerianischen Sicherheitskräfte mit Gewaltexzessen und willkürlichen Verhaftungen verbunden. Allerdings konzentrieren sich die Anschläge von „Boko Haram“ und die daraus folgenden Auseinandersetzungen immer noch hauptsächlich auf den Norden bzw. Nordosten Nigerias, während es im Süden und Südwesten des Landes nur vereinzelt zu Anschlägen bzw. Terrorakten gekommen ist. Eine landesweite Verübung von Terrorakten durch die Organisation „Boko Haram“ findet nicht statt (vgl. dazu: AA, Lageberichte von Nigeria vom 10. Dezember 2018, 21. Januar 2018, 26. November 2016, 28. November 2014, jew. Zusammenfassung S. 5 sowie II, 1.4., vom 28. August 2013, vom 6. Mai 2012, 7. März 2011, 11. März 2010 und vom 21. Januar 2009, jeweils Ziffer II.1.4). In Nigeria findet kein Bürgerkrieg statt. Bürgerkriegsparteien sind nicht vorhanden.
Die Klägerinnen sind bei einer Rückkehr bzw. erstmaligen Einreise nach Nigeria in der Lage, diesen Konflikten durch Rückkehr in weniger gefährdete Gebiete im Sinne eines internen Schutzes (§ 4 Abs. 3, § 3e AsylG) aus dem Wege zu gehen. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerin zu 1 selbst aus dem Süden Nigerias (Edo State) stammt. Dies zugrunde gelegt, kommt auch eine Rückkehr nach Lagos bzw. Abuja als innerstaatliche Fluchtalternative, die den Klägerinnen auch zuzumuten ist, in Betracht.
4. Auch (zielstaatsbezogene) Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind nicht erkennbar.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die schlechte wirtschaftliche Situation in Nigeria – hier leben immer noch ca. 70% der Bevölkerung am Existenzminimum und sind von informellem Handel und Subsistenzwirtschaft abhängig (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria – Lagebericht – a.a.O. Nr. I.2.) – ebenso wie die Situation hinsichtlich der verschiedenen gewalttätigen Auseinandersetzungen und Übergriffe, z.T. auch durch die Sicherheitskräfte, und die damit zusammenhängenden Gefahren (s.o. und Lagebericht a.a.O. Nr. II.2 und 3.) grundsätzlich nicht zu einer individuellen, gerade den Klägerinnen drohenden Gefahr führt, sondern unter die allgemeinen Gefahren zu subsumieren ist, denen die Bevölkerung oder relevante Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt ist und die gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG durch Anordnungen gemäß § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind.
Der Umstand, dass im Falle einer Aufenthaltsbeendigung die Lage eines Betroffenen erheblich beeinträchtigt würde, reicht allein nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen; anderes kann nur in besonderen Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen, wie zum Beispiel im Falle einer tödlichen Erkrankung in fortgeschrittenen Stadium, wenn im Zielstaat keine Unterstützung besteht (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – BVerwGE 146, 12-31, juris, Rn. 23 ff. m.w.N.). Im Hinblick auf die Bewertung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK gelten dabei bei der Beurteilung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG die gleichen Voraussetzungen wie bei der Frage der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – a.a.O. – juris Rn. 22, 36).
Auch eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben (§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) für einen Betroffenen aufgrund allgemein für die Bevölkerung bestehender Gefahren, die über diese allgemein bestehenden Gefahren hinausgeht ist, nur im Ausnahmefall im Sinne eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen (BVerwG, U. v. 31.1.2013 – a.a.O., juris Rn. 38). Ein Ausländer kann im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser allgemein bestehenden Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für die Betroffenen die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Betroffenen daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren (zum Ganzen BVerwG, U. v. 31.1.2013 a.a.O., juris Rn. 38).
Für derartige besondere Gefahren aufgrund schlechter humanitärer oder wirtschaftlicher Verhältnisse ist hier nichts ersichtlich. Insbesondere kann im Falle der Klägerinnen nicht davon ausgegangen werden, dass die schlechte wirtschaftliche Situation in Nigeria zu einem Abschiebungsverbot aufgrund schlechter humanitärer Verhältnisse führt, die im Ausnahmefall als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK qualifiziert werden könnten. Dies ergibt sich insbesondere daraus, dass die Klägerin zu 1 im behördlichen Verfahren vorgetragen hat, in Nigeria bereits als Näherin beschäftigt gewesen zu sein. In ihrem Heimatland kann die Klägerin zu 1 voraussichtlich auch auf familiäre Unterstützung zählen, da sie im behördlichen Verfahren vorgetragen hat, dass in Nigeria noch ihre Eltern sowie ihre Geschwister lebten. Abweichende Erkenntnisse hiervon liegen dem Gericht nicht vor, zumal die Klägerin zu 1 zur mündlichen Verhandlung am 13. Januar 2022 nicht erschienen ist.
Für die geltend gemachte HIV-Erkrankung der Klägerin zu 1 fehlt es im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an einem erforderlichen aktuellen ärztlichen Attest. Die letzte bekannte ärztliche Bescheinigung datiert vom 27. Dezember 2019. Weitergehende Erkenntnisse liegen dem Gericht nicht vor. Aktuelle Aussagen zu Behandlungsbedürftigkeit, Viruslast, Medikation fehlen. Dies geht zu Lasten der Klägerin zu 1. Überdies können Medikamente gegen HIV in Nigeria teilweise auch kostenlos in Anspruch genommen werden. Die Fortführung einer retroviralen Therapie ist nicht ausgeschlossen (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Nigeria, a.a.O., Nr. 21.1 S. 61).
Nennenswerte gesundheitliche Einschränkungen der Klägerin zu 2 sind im Verfahren nicht bekannt geworden.
Nach allem war der Antrag der Klägerinnen auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes auf der Grundlage des § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG abzulehnen.
5. Die auf § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG gestützte Abschiebungsandrohung ist ebenfalls rechtmäßig.
Gegen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG sind keine substantiierten Einwände erhoben worden und solche sind auch nicht ersichtlich. Die Beklagte hat bezüglich der Befristung das ihr zustehende Ermessen erkannt und im Rahmen der gerichtlich gemäß § 114 Satz 2 VwGO beschränkten Prüfung ordnungsgemäß ausgeübt.
6. Die Klage war mithin mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1, § 159 Satz 2 VwGO abzuweisen. Als im Verfahren unterlegen haben die Klägerinnen die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
7. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO.


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