Verwaltungsrecht

Notwendigkeit der informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung

Aktenzeichen  M 21 K 15.31526

Datum:
7.10.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3, § 3e, § 4, § 34 Abs. 1
AufenthG AufenthG § 11 Abs. 1 u. 2, § 59, § 60 Abs. 5 u. 7 S. 1, § 60a Abs. 2c S. 1, 2 u. 3
AufenthG

 

Leitsatz

Bietet der bisherige Vortrag eines Klägers keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine flüchtlingsrelevante Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG noch einen drohenden ernsthaften Schaden im Sinne von § 4 AsylG, ist eine informatorische Anhörung in der mündlichen Verhandlung nicht erforderlich. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Klage ist unter Berücksichtigung des erkennbar gewollten Rechtsschutzziels gemäß § 88 VwGO dahin auszulegen, dass sich der Klageantrag nicht auf die Aufhebung der Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots in Nr. 6 des Bescheids bezieht. Anhaltspunkte dafür, dass eine – mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässige isolierte Aufhebung der Befristungsentscheidung nach § 11 Abs. 2 AufenthG (ausführlich m.w.N. VG München, B.v. 19.1.2016 – M 21 S. 16.30019) mitumfasst sein soll, bestehen nicht.
Die insoweit zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, des subsidiären Schutzstatus oder die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Der Vortrag der Klägerin vor dem Bundesamt lässt weder eine flüchtlingsrelevante Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG noch einen drohenden ernsthaften Schaden im Sinne von § 4 AsylG erkennen.
Bei der Prüfung, ob dem Ausländer flüchtlingserhebliche Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG bzw. ein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 AsylG droht, ist der asylrechtliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalt die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechen den Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – NVwZ 2013, 936 = juris Rn. 32). Das Asylrecht beruht dabei auf dem Zufluchtgedanken und setzt daher grundsätzlich einen Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht voraus (BVerfG, B.v. 12. 2.2008 – 2 BVR 2141/06 NVwZ-RR 2008, 643 = juris Rn. 20).
Es obliegt dem Schutzsuchenden im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht, sein Verfolgungsschicksal glaubhaft darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen.
Dazu bedarf es, unter Angabe genauer Einzelheiten, einer stimmigen Schilderung des Sachverhalts (BVerwG, U.v. 8.5.194 – 9 C 141/83 – juris Rn. 11).
Die Klägerin hat vor dem Bundesamt im Wesentlichen mehrere Vergewaltigungen aus den Jahren 1984, 1986, 1994 und 2012 durch stets denselben Täter als Fluchtgrund angegeben. Eine in diesem Zusammenhang fortbestehende Gefährdungslage kommt schon deswegen nicht in Betracht, da die Klägerin den Täter laut eigenen Angaben vor ihrer Ausreise getötet hat. Abgesehen davon hätte vor dem Hintergrund, dass die Klägerin, die nach eigenen Angaben in Nigeria in einer Stadt lebte (B* … City), dort einer Tätigkeit nachging (Verkauf von Holz für den Hausbau) und über eine ausreichende Lebensgrundlage und Einkommen verfügte, die Möglichkeit bestanden, sich einer möglichen Bedrohung durch Umzug in eine andere Stadt in Nigeria zu entziehen (vgl. § 3e AsylG). Die Situation der Klägerin ist insofern nicht vergleichbar mit der problematischen Situation alleinstehender Frauen aus ländlichen Regionen ohne eigenes Einkommen. Soweit die Klägerin noch auf eine Vergewaltigung durch eine zweite Person im Jahr 1984 hingewiesen hat, lässt sich hieraus eine Bedrohungslage mit der asylrechtlich erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit schon im Hinblick auf die lange Zeit zwischen dieser Tat und der Ausreise der Klägerin nicht herleiten. Anhaltspunkte für eine Lebensgefahr ergeben sich aus der von der Klägerin geäußerten pauschalen Vermutung einer Verfolgung durch eine nicht näher beschriebene Gruppe nicht.
Auch unter Berücksichtigung des erst im Klageverfahren schriftsätzlich unter Hinweis auf eine schriftliche Stellungnahme der Klägerin sowie eine Stellungnahme des Caritas-Zentrums …, sozialpsychiatrische Dienste, vom … Februar 2016 ergänzten Sachvortrags hat die Klägerin keine Verfolgung oder einen drohenden ernsthaften Schaden glaubhaft dargelegt. Soweit die Klägerin nunmehr geltend gemacht hat, sie habe als „Beute“ eines Kämpfers gelebt, der sie wie eine Leibeigene gehalten habe, lässt sich zu Gunsten der Klägerin auch dann nichts ableiten. Denn auch dieser Vortrag ändert zum einen nichts daran, dass die Klägerin laut eigenem Bekunden den Täter ihres sexuellen Mißbrauchs vor ihrer Ausreise getötet und damit ihre Bedrohungslage beendet haben will, und zum anderen, dass die Klägerin laut eigener Aussage über eine ausreichende Lebensgrundlage und Einkommen verfügte und damit einer Bedrohungslage durch einen Umzug in eine andere Stadt hätte entgehen können. Soweit die Klägerin unter Bezug auf ein in der Asylakte nicht aktenkundiges Schreiben vom 14. September 2015 erstmals im Klageverfahren vorträgt, der Schlepper habe in Deutschland versucht, sie zur Prostitution zu zwingen, lässt sich hieraus eine Bedrohungslage ebenfalls nicht herleiten. Anhaltspunkte für eine Gefährdungslage, wie sie teilweise bei alleinstehenden Frauen, die Opfer von Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung geworden sind und sich hiervon befreit haben, angenommen wird, lassen sich aus dem unsubstantiierten und im Übrigen lebensfremden Hinweis, der Schlepper, der mit der Klägerin bei der Ausreise in Nigeria nicht über Geld gesprochen habe, habe nach der Einreise plötzlich versucht, sie zur Prostitution zu zwingen, um damit Kosten in Höhe von 50.000 EUR zurückzuzahlen, nicht entnehmen. Die Klägerin ist weder Opfer von Zwangsprostitution geworden noch gehört sie im Hinblick auf ihre Angaben zu ihrer Lebensgrundlage und ihrem Einkommen in Nigeria zu einem Personenkreis, bei dem im Falle einer durch Flucht beendeten Zwangsprostitution eine erhöhte Gefährdung bei einer Rückkehr nach Nigeria in Betracht gezogen werden könnte.
Eine informatorische Anhörung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 7. Oktober 2016 war nicht erforderlich, da der bisherige Vortrag der Klägerin keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine flüchtlingsrelevante Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG noch einen drohenden ernsthaften Schaden im Sinne von § 4 AsylG bot. Die informatorische Anhörung dient im Rahmen der Amtsermittlungspflicht der Schließung von Lücken und Unvollständigkeiten eines im Übrigen glaubhaften Vortrags ei nes Schutzssuchenden über eine Verfolgungs- oder Bedrohungslage. Die Amtsermittlungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO findet ihre Grenze an der Mitwirkungspflicht des Schutzsuchenden. Bleibt dieser hinsichtlich seiner eigenen Erlebnisse konkrete Angaben schuldig, so ist das Gericht nicht verpflichtet, insofern eigene Nachforschungen durch weitere Fragen anzustellen. Eine nicht erschöpfende Klärung des Sachverhalts fällt vielmehr dem Kläger zur Last (BVerwG, U.v. 8.5.1984 a.a.O. – juris Rn. 11).
Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Zusammenhang mit den von ihr geltend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen.
Im Hinblick auf § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK reicht der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen. Anderes kann nur in besonderen, hier nicht vorliegenden, Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 23 ff.).
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von einer Abschiebung abgesehen werden, wenn im Zielstaat für den Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG).
Nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen (§ 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG). Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlichmedizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten (§ 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG).
Entsprechend diesem Maßstab liegen die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen nicht vor.
Die im Asylverfahren sowie im Klageverfahren vorgelegten ärztlichen Berichte und Atteste, u.a. das in der Klagebegründung nochmals in Bezug genommene Attest vom … August 2014 und der Befundbericht vom … Oktober 2014 beinhalten bereits keine Diagnose einer lebensbedrohlichen oder ähnlich schwerwiegenden Erkrankung. Das Attest vom … August 2014, das auf der Grundlage eines anamnestisch angegebenen Missbrauchs (für dessen Vorliegen entsprechend dem diagnostischen vaginalen Befund, u.a. im ärztlichen Befundbericht vom …10.2014, auch tatsächlich Anhaltspunkte bestehen) und im Hinblick auf Schwindel, Schlafstörungen und Kopfschmerzen ohne jegliche Angabe von ICD-Kriterien zur Klassifikation von Krankheiten und eine entsprechende Zuordnung von Beschwerden zu einer Verdachtsdiagnose posttraumatische Belastungsstörung gelangt, genügt den Anforderungen an eine qualifizierte Bescheinigung im Sinne von § 60a Abs. 2c AufenthG ersichtlich nicht. Entsprechendes gilt für die vorgelegte Stellungnahme des Caritas-Zentrums … sozialpsychiatrische Dienste, vom … Februar 2016, die im Übrigen bereits keine ärztliche Bescheinigung darstellt.
Nachdem auch die nach Maßgabe von § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG erlassene Abschiebungsandrohung nicht zu beanstanden ist, war die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung: § 167 VwGO, § 708 Nr. 11 ZPO


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