Verwaltungsrecht

Obdachlosenrechtliche Räumungsverfügung

Aktenzeichen  W 5 E 16.1105

Datum:
11.11.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5, § 123
LStVG LStVG Art. 6, Art. 7 Abs. 2 Nr. 3
SGB XII SGB XII § 67

 

Leitsatz

1. Eine obdachlosenrechtliche Räumungsverfügung nach Ablauf einer befristeten Einweisung in eine Notunterkunft ist rechtswidrig, wenn nach der Räumung eine unfreiwillige Obdachlosigkeit droht. (redaktioneller Leitsatz)
2. In einem solchen Fall kann im Wege der einsweiligen Anordnung die Verlängerung der Zuweisung einer Notunterkunft verlangt werden, ohne dass ein Rechtsanpruch auf eine dauerhafte Unterbringung in einer bestimmten Unterkunft bestünde; ausreichend ist vielmehr eine vorübergehende Unterbringung, die den Mindestanforderungen an eine menschenwürdige Unterkunft genügt. (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Gewährung und Sicherung einer dauerhaften Unterbringung eines Hilfsbedürftigen ist grundsätzlich Aufgabe der zuständigen Träger der Leistungen der Grundsicherung, nicht aber der Polizeibehörden. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe gewährt.
II. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Ziffer 1 des Bescheids der Stadt Haßfurt vom 10. Oktober 2016 wird wiederhergestellt, die aufschiebende Wirkung gegen Ziffer 4 dieses Bescheids wird angeordnet.
III. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, den Antragsteller im Rahmen der Obdachlosenfürsorge weiterhin vorläufig unterzubringen.
IV. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
V. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die sofortige Vollziehbarkeit einer Räumungsverfügung und begehrt im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes die Verpflichtung der Antragsgegnerin, die Überlassung der zugewiesenen Notunterkunft zu verlängern.
1. Der Antragsteller wurde mit Einweisungsbescheid der Antragsgegnerin vom 3. Juni 2015 zur Beseitigung unfreiwilliger Obdachlosigkeit in die Notunterkunft in H …, … 5, EG-links eingewiesen. In der Folgezeit wurde die Einweisung immer wieder verlängert, zuletzt mit Bescheid vom 22. Juli 2016 bis zum 30. September 2016. In sämtlichen Bescheiden wurde er aufgefordert, sich fortlaufend auf dem Wohnungsmarkt um Wohnraum zu bemühen und Nachweise hierfür vorzulegen.
Mit Bescheid vom 10. Oktober 2016 verpflichtete die Antragsgegnerin den Antragsteller, die ihm zugewiesene Notunterkunft in H …, … 5, EG-rechts, bestehend aus einem Zimmer zu räumen und den Schlüssel im Bürgerbüro abzugeben (Ziffer 1), für die Räumung wurde eine Frist bis spätestens 11. November 2016 um 12:00 Uhr festgesetzt (Ziffer 2), die sofortige Vollziehung der Maßnahme nach Ziffer 1 wurde angeordnet (Ziffer 3) und dem Antragsteller für den Fall der nicht fristgerechten Räumung unmittelbarer Zwang (Zwangsräumung) angedroht (Ziffer 4). Auf die Begründung wird Bezug genommen.
2. Am 28. Oktober 2016 erhob der Antragsteller Klage (W 5 K 16.1104) gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 10. Oktober 2016 und stellte im hiesigen Verfahren den Antrag,
„auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (…) gegen den Bescheid vom 10.10.2016 in der Form, dass die Stadt Haßfurt dazu verpflichtet wird, die Überlassung der zugewiesenen Notunterkunft zu verlängern und die beabsichtigte Räumung am 11.11.2016 um 12.00 Uhr nicht durchzuführen“, sowie auf Gewährung von Prozesskostenhilfe.
Zur Begründung trug der Antragsteller vor, dass ein individueller Anspruch auf Hilfe nach §§ 67 ff. SGB XII ausgelöst werde, wenn besondere Lebensverhältnisse bei einer Person derart mit sozialen Schwierigkeiten verbunden seien, dass die Überwindung der besonderen Lebensverhältnisse auch die Überwindung der sozialen Schwierigkeiten erfordere. Da er gesundheitlich stark eingeschränkt sei, er sich nur mit einer Gehhilfe über kurze Strecken fortbewegen könne und sein Augenlicht an manchen Tagen sehr verschwommen sei, könne er nicht wöchentlich im Bürgerbüro Nachweise vorlegen. Er sei seit Februar 2016 bei der Sozialen Wohnungsbörse Fairmieten des Caritasverbandes für den Landkreis Haßberge gemeldet. Weiterhin habe er im Rahmen des Projekts „Alltag und Organisation“ der Caritas eine Begleitung im Alltag, die sich zusätzlich auf dem freien Wohnungsmarkt umschaue. Ihm sei die Problematik bewusst und er sei bestrebt, eine Wohnung zu finden. Aufgrund der bevorstehenden winterlichen Witterungsverhältnisse und seiner gesundheitlichen Einschränkungen fürchte er um sein Leib und Leben, wenn er auf die Straße gesetzt werde.
Der Antragsteller legte u.a. eine Bestätigung des Caritasverbandes für den Landkreis Haßberge e.V. vom 24. Oktober 2016 vor, wonach er seit Februar 2016 bei der Wohnungsbörse gemeldet ist sowie eine ärztliche Bescheinigung vom 9. November 2016, wonach bei dem Antragsteller schwere chronische Erkrankungen bestehen, die es ihm unmöglich machen, selbständig sein Leben zu organisieren. Er sei daher dringend auf die derzeit bereitgestellte Wohnung angewiesen. Ein Wohnungsauszug würde eine gesundheitliche Verschlechterung bis hin zur Lebensgefahr hervorrufen.
3. Die Antragsgegnerin stellte durch ihre Bevollmächtigte den Antrag,
den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
Zur Begründung wurde vorgetragen: Der Antragsteller habe weder einen Anordnungsanspruch noch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Soweit er sich auf Ansprüche gemäß §§ 67 ff. SGB XII berufe, sei dies als Anordnungsanspruch schon nicht geeignet, da sich derartige Ansprüche gegen den Sozialhilfeträger richteten, hier es aber um Gefahrenabwehr gehe. Ein Anspruch auf Verlängerung der Zuweisung für die Notunterkunft bestehe nicht. Der Antragsteller sei der Auflage, sich fortlaufend auf dem Wohnungsmarkt um Wohnraum zu bemühen, nicht nachgekommen. Eine Teilnahme am Projekt des Caritasverbandes und eine Listung bei der Wohnungsbörse stellten noch keine konkreten Bemühungen dar. Er müsste vielmehr nachvollziehbar darlegen, dass es kein einziges Wohnungsangebot für ihn gebe oder er müsste konkrete Absagen nachweisen können. Der Antragsgegnerin sei auch nicht bekannt, dass der Antragsteller aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen nicht in der Lage sei, eigene Bemühungen zur Wohnungssuche durchzuführen. Er sei aber offenbar in der Lage, sich selbst zu versorgen und auch Termine beim Caritasverband wahrzunehmen. Somit sei nicht glaubhaft, dass er nicht in der Lage sei, auf Wohnungssuche zu gehen. Zur rechtlichen Beurteilung werde auf die Entscheidung des OVG Greifswald vom 21. Juli 2009, 3 M 92/09 verwiesen, wonach der Antragsteller u.a. glaubhaft machen müsse, dass keine Möglichkeit bestehe, anderweitig eine Wohnung zu finden, ohne die Antragsgegnerin in Anspruch nehmen zu müssen. Hierzu habe der Antragsteller aber nichts vorgetragen. Selbst für den Fall, dass der Antragsteller einen Anordnungsanspruch glaubhaft mache, wäre im Verfahren nach § 123 VwGO prognostisch zu beurteilen, wie lange es voraussichtlich dauern werde, bis der Antragsteller bei Ausnutzung aller sich bietenden Möglichkeiten eine geeignete Unterkunft finden werde. Insoweit sei der Antrag auf unbefristete Verlängerung unbegründet. Auch ein Anordnungsgrund sei nicht glaubhaft gemacht, da eine besondere Eilbedürftigkeit im Rahmen der einstweiligen Anordnung nicht erkennbar sei. Selbst für den Fall, dass der Antragsteller keine Lösung bis zum Räumungstermin erreichen könne, könne er die (befristete) Aussetzung der sofortigen Vollziehung beantragen.
4. Im Hinblick auf den weiteren Sach- und Streitstand wird auf den Inhalt der Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
Nach sachgerechter Auslegung, die sich am Rechtsschutzziel zu orientieren hat (§ 122 Abs. 1 i.V.m. § 88 VwGO), ist der Antrag des anwaltlich nicht vertretenen Antragstellers, der sich explizit gegen den Räumungsbescheid vom 10. Oktober 2016 wendet und den Ausspruch begehrt, dass die beabsichtigte Räumung am 11. November 2016 nicht durchgeführt wird, dahingehend zu verstehen, dass einstweiliger Rechtsschutz hinsichtlich dieses Räumungsbescheids, mithin ein Antrag auf Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 10. Oktober 2016 begehrt wird. Zum anderen ist der Antrag des Antragstellers aber auch so auszulegen, dass er eine einstweilige Anordnung i.S.v. § 123 VwGO gerichtet auf die weitere vorläufige Unterbringung begehrt, wenn von ihm der Erlass einer einstweiligen Anordnung in der „Form, dass die Stadt Haßfurt dazu verpflichtet wird, die Überlassung der zugewiesenen Notunterkunft zu verlängern“ beantragt wird.
1. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig und begründet.
1.1. Der Antrag ist zulässig, soweit der Antragsteller beantragt, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Ziffer 1 des Bescheids vom 10. Oktober 2016 wiederherzustellen. Denn die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die insoweit von der Antragsgegnerin getroffene Anordnung entfällt, weil diese in Ziffer 3 des Bescheids die unter Ziffer 1 getroffene Anordnung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO für sofort vollziehbar erklärt hat. In diesem Fall kann das Gericht der Hauptsache nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO die aufschiebende Wirkung wiederherstellen.
Soweit der Antrag gegen die in Ziffer 4 des streitgegenständlichen Bescheids verfügte Androhung unmittelbaren Zwangs gerichtet ist, ist er ebenfalls zulässig und insbesondere statthaft. Denn nach Art. 21a Satz 1 VwZVG haben Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung, soweit sie sich gegen Maßnahmen richten, die in der Verwaltungsvollstreckung getroffen werden. Gemäß Art. 21a Satz 2 VwZVG gelten § 80 Abs. 4, 5, 7 und 8 der VwGO entsprechend. Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Haupt-sache in einem solchen Fall auf Antrag die aufschiebende Wirkung anord-nen.
1.2. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist auch begründet.
Im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO prüft das Gericht, ob die formellen Vo-raussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung gegeben sind. Im Übrigen trifft es eine eigene Abwägungsentscheidung anhand der in § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO normierten Kriterien. Hierbei ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung gegen das Interesse des Antrag-stellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage bzw. seines Widerspruchs abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache dann von maßgeblicher Bedeutung, wenn nach summarischer Prüfung von der offensichtlichen Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Verwaltungsakts und der Rechtsverletzung des Antragstellers auszugehen ist. Jedenfalls hat das Gericht die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs bei seiner Entscheidung mit zu berücksichtigen, soweit diese sich bereits übersehen lassen (vgl. BVerfG, B.v. 24.2.2009 – 1 BvR 165/09 – NVwZ 2009, 581; BayVGH, B.v. 17.9.1987 – 26 CS 87.01144 – BayVBl. 1988, 369; Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 80 Rn. 68 und 73 ff.). Sind diese im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vollkommen offen, ist eine reine Interessenabwägung vorzunehmen.
Es bestehen keine Zweifel an der formellen Rechtmäßigkeit der Anordnung des Sofortvollzugs. Insbesondere hat die Antragsgegnerin die Anordnung der sofortigen Vollziehung in ausreichender Weise gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO begründet.
Eine summarische Prüfung der Hauptsache, wie sie im Sofortverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO erforderlich und ausreichend ist, anhand der Sach- und Rechtslage zu dem maßgeblichen Zeitpunkt der (letzten) Behördenentscheidung ergibt, dass diese voraussichtlich Erfolg haben wird. Es spricht einiges dafür, dass die in Ziffer 1 des Bescheids vom 10. Oktober 2016 getroffene Regelung rechtswidrig ist und der Antragsteller dadurch in seinen Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Im Einzelnen:
Es ist sehr fraglich, ob hier die Voraussetzungen für den Erlass einer Räumungsverfügung vorliegen. Die zuständige Gefahrenabwehrbehörde kann u.a. dann eine Räumungsverfügung erlassen, wenn nach Ablauf der Einweisungsfrist der Eingewiesene die ihm zugewiesene Unterkunft, nicht freiwillig räumt. Dies ist hier der Fall, denn die mit bestandskräftigem Bescheid vom 22. Juli 2016 erfolgte Zuweisung war bis zum 30. September 2016 befristet (vgl. Ziffer 2 dieses Bescheids). Eine weitere Verlängerung der Zuweisung ist nicht erfolgt. Der Antragsteller hat nach Ablauf der Frist die Unterkunft auch nicht freiwillig geräumt.
Droht allerdings einer Person unmittelbar nach der Räumung der Notunterkunft die unfreiwillige Obdachlosigkeit, so hat die zuständige Gefahrenabwehrbehörde die dadurch drohende Gefahr für die öffentliche Sicherheit durch den Erlass einer Einweisungsverfügung zu beseitigen (vgl. Ruder/Bätge, Obdachlosigkeit, S. 156). Denn nach Art. 6 und Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 LStVG sind die Gemeinden als untere Sicherheitsbehörden verpflichtet, Gefahren abzuwehren und Störungen zu beseitigen, die Leben, Gesundheit oder Freiheit von Menschen bedrohen oder verletzen. Dazu gehört die Unterbringung unfreiwillig Obdachloser. Wenn der Antragsteller hier die Notunterkunft in Haßfurt verlassen muss, droht ihm die Obdachlosigkeit. Dann müsste die Antragsgegnerin nach einer Räumung erneut sicherheitsrechtlich gegen die eintretende Obdachlosigkeit des Antragstellers einschreiten. Denn dem Antragsteller steht keine anderweitige Wohnmöglichkeit oder Unterkunft zur Verfügung und es ist ihm auch nicht möglich, die Wohnungslosigkeit aus eigener Kraft zu beseitigen. Wie die den Antragsteller seit Jahren behandelnde Ärztin Dr. G. bestätigt hat, bestehen bei dem Antragsteller mehrere chronische Erkrankungen, die es ihm unmöglich machen, selbständig sein Leben zu organisieren. Er ist daher – so die Ärztin – dringend auf die bereitgestellte Unterkunft angewiesen und ein Wohnungsauszug würde eine gesundheitliche Verschlechterung bis hin zur Lebensgefahr hervorrufen.
Selbst wenn hier von einer Beurteilung der Erfolgsaussichten als offen auszugehen wäre – was nicht der Fall ist -, würde dies ausreichen, um dem streitgegenständlichen Antrag zum Erfolg zu verhelfen. Im Falle offener Erfolgsaussichten ist maßgeblich allein eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse, die Räumung der Wohnung durchzuführen und dem Interesse des Antragstellers, weiterhin in der Notunterkunft verbleiben zu dürfen. Angesichts der winterlichen Jahreszeit und den Aussagen in der vg. ärztlichen Bestätigung überwiegen hier eindeutig die privaten Interessen des Antragstellers an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage die Interessen der Antragsgegnerin an der Räumung.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen Ziffer 4 des Bescheids vom 10. Oktober 2016 ist ebenfalls begründet. Nach summarischer Prüfung hält die Kammer die in Ziffer 4 des streitgegen-ständlichen Bescheids ausgesprochene Androhung des unmittelbaren Zwangs für rechtswidrig. Mithin war dem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zu entsprechen und die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO anzuordnen.
2. Der Antrag des Antragstellers nach § 123 VwGO ist zulässig und auch begründet.
2.1. Nach § 123 VwGO kann das Gericht, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden, oder drohende Gewalt zu verhindern, oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Der Antragsteller hat demnach sowohl die Notwendigkeit der vorläufigen Regelung, den sog. Anordnungsgrund, als auch das Bestehen eines zu sichernden Rechts, den sog. Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO). Maßgeblich sind die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
Diese Voraussetzungen sind nach summarischer Prüfung gegeben.
Der Antragsteller hat insoweit einen Anordnungsanspruch gegen die Stadt Haßfurt glaubhaft gemacht. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung hat der Antragsteller einen Rechtsanspruch gegen die Antragsgegnerin auf Verlängerung der Zuweisung einer Unterkunft. Ein solcher Anspruch ergibt sich zwar – worauf die Antragsgegnerin zutreffender Weise hinweist – nicht aus §§ 67 ff. SGB XII. Allerdings sind – wie bereits dargelegt – die Gemeinden als untere Sicherheitsbehörden nach Art. 6 und Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 LStVG dazu verpflichtet, Gefahren abzuwehren und Störungen zu beseitigen, die Leben, Gesundheit oder Freiheit von Menschen bedrohen oder verletzen, wozu auch die Unterbringung unfreiwillig Obdachloser gehört. Örtlich zuständig ist nach Art. 3 Abs. 1 Nr. 4 BayVwVfG die Gemeinde, in der der Betroffene obdachlos wird bzw. in der die Obdachlosigkeit einzutreten droht (BayVGH, B.v. 21.9.2006 – 4 CE 06.2465 – BayVBl 2007, 439; B.v. 14.1.2002 – 4 ZE 02.72 – juris; B.v. 26.4.1995 – 4 CE 95.1023 – BayVBl. 1995, 729; Ruder/Bätge, Obdachlosigkeit, S. 33 f.: entscheidend ist allein der tatsächliche Aufenthaltsort, weil dort die Gefahr entsteht). Somit ist die Zuständigkeit der Antragsgegnerin im vorliegenden Fall gegeben. Nach allem ist die Antragsgegnerin als zuständige Behörde verpflichtet, den Antragsteller vorläufig obdachlosengerecht unterzubringen bzw. die Zuweisung einer Unterkunft vorläufig zu verlängern.
Allerdings – und darauf ist hier auch hinzuweisen – hat der Antragsteller keinen Anspruch auf eine bestimmte Unterkunft. Denn die Gemeinde verfügt bei der Auswahl unter den geeigneten Unterbringungsmöglichkeiten über ein sehr weites Ermessen, das nur bei Vorliegen ganz besonderer Umstände eingeschränkt ist. Die Anforderungen an die zur Verfügung zu stellende Unterkunft richten sich danach, was zur Abwendung der infolge der Obdachlosigkeit drohenden Gefahr erforderlich ist. Die zur Verfügung gestellte Unterkunft muss nicht den an eine Wohnung zu stellenden Anforderungen genügen, es besteht auch kein Anspruch des Obdachlosen auf Einweisung in eine bestimmte Unterkunft oder auf Einweisung in eine Pension. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (vgl. BayVGH, B.v. 19.2.2010 – 4 C 09.3073 und vom 10.10.2008 – 4 CE 08.2647 – beide juris) ist es auch unter Berücksichtigung der humanitären Zielsetzung des Grundgesetzes ausreichend, wenn obdachlosen Personen eine Unterkunft zugewiesen wird, die vorübergehend Schutz vor den Unbilden des Wetters bietet und Raum für die notwendigen Lebensbedürfnisse lässt. Da Obdachlosigkeit eine Störung der öffentlichen Ordnung darstellt, ist die Gemeinde als Sicherheitsbehörde verpflichtet, diese Störung zu beseitigen (Art. 57 Abs. 1 GO, Art. 6 LStVG). Die Unterbringung kann dabei immer nur eine Notlösung sein, so dass ein Obdachloser auch eine weitgehende Einschränkung seiner Wohnansprüche hinnehmen muss (vgl. Bengl/Berner/Emmering, LStVG, Stand. Sept. 2015, Art. 7 Rn. 184). Die Grenzen zumutbarer Einschränkungen liegen erst dort, wo die Anforderungen an eine menschenwürdige Unterbringung nicht mehr eingehalten sind (BayVGH, B.v. 26.4.1993 – 21 B 91.1461 – BayVBl. 1993, 569). Zur Mindestausstattung der zugewiesenen Räume gehört neben der Heizung ein Stromanschluss. Erforderlich sind außerdem ein Wasseranschluss bzw. eine Waschgelegenheit sowie die Möglichkeit der Mitbenutzung der Toilette bzw. einer Dusche oder eines Bades (vgl. Bengl/Berner/Emmering, LStVG, Art. 7 Rn. 185; Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, 4. Aufl., Nr. 10.5.4.4; jew. mit weiteren Nachweisen). Den Ansprüchen an eine Obdachlosenunterkunft genügen nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer (vgl. B.v. 27.4.2001 – W 5 E 01.408 28.3.1996 – W 5 S. 96.373 – beide juris) auch sog. Wohncontainer, wenn diese angemessenen Schutz vor der Witterung bieten (insbesondere also beheizbar sind) und die notwendigsten Bedürfnisse befriedigen, insbesondere die unerlässlichen Einrichtungen für die Körperhygiene vorhalten.
Hinzuweisen ist auch noch darauf, dass derjenige, der zur Vermeidung der Obdachlosigkeit in eine gemeindliche Notunterkunft eingewiesen ist, keinen Rechtsanspruch darauf hat, dauerhaft in dieser Unterkunft zu bleiben. Denn die Notunterkunft dient lediglich der vorübergehenden Unterbringung, um drohende oder bereits eingetretene Obdachlosigkeit abzuwenden. Die Gemeinde ist lediglich verpflichtet, nach pflichtgemäßem Ermessen zur Behebung unmittelbarer Gefahren für Leib und Leben des Obdachlosen eine den Mindestanforderungen an eine menschenwürdige Unterkunft genügende vorübergehende Unterbringung zu ermöglichen. Der durch polizeiliches Einschreiten geschaffene Zustand darf aber weder von der Verwaltung noch von dem Betroffenen als Dauerlösung betrachtet werden; die Gewährung und Sicherung einer Unterkunft auf Dauer ist, soweit sich ein Hilfebedürftiger nicht selbst helfen kann und die Hilfe nicht von anderen erhält, grundsätzlich Aufgabe der zuständigen Träger der Leistungen der Grundsicherung, nicht aber der Polizeibehörden (VGH Mannheim, B. v. 29.10.1992 – 1 S 1523/92 – NJW 1993, 1027 und OVG Greifswald, B.v. 23.7.2009, – 3 M 92/09 – juris).
Soweit die Antragsgegnerin im Übrigen auf die vg. Entscheidung des OVG Greifswald abstellt, kann dies ihr nicht zum Erfolg verhelfen. Denn im dortigen Verfahren hatte die Antragsgegnerin der Antragstellerin eine Vielzahl von Wohnungen vermittelt, die nach den sich in den Verwaltungsvorgängen befindlichen Unterlagen von der Antragstellerin alsbald hätten bezogen werden können. Dann ist es – so das OVG Greifswald – Sache der Antragstellerin darzulegen, dass diese Wohnungen, die nicht von vornherein als ungeeignet erscheinen, aus objektiven, rechtlich anzuerkennenden Gründen nicht in Betracht kommen. Von einer vergleichbaren Situation kann hier schon nach dem Vortag der Antragsgegnerin nicht ausgegangen werden.
Angesichts der Eilbedürftigkeit ist auch ein Anordnungsgrund gegeben.
Nach alledem war dem Antrag, die Antragsgegnerin im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten, den Antragsteller im Rahmen der Obdachlosenfürsorge weiterhin vorläufig unterzubringen, stattzugeben.
3. Dem Antragsteller war Prozesskostenhilfe zu bewilligen, weil er bedürftig ist und die beabsichtigte Rechtsverfolgung – wie sich aus den vorstehenden Gründen ergibt – hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO).
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf den §§ 53 Abs. 3 Nr. 1 und 2, 52 Abs. 2 und 63 Abs. 2 GKG i.V.m. Ziffern 35.3 und 1.5 des Streitwertkatalogs 2013.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben