Verwaltungsrecht

Pflegeerlaubnis – Keine Aufnahme eines weiteren Kindes bei Überforderung der Pflegeperson

Aktenzeichen  Au 3 E 16.795

Datum:
29.6.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII SGB VIII § 36 Abs. 1 S. 4, § 44 Abs. 2 S. 1, § 49
AGSG AGSG Art. 35 S. 2 Nr. 2

 

Leitsatz

Die landesgesetzliche Regelvermutung, wonach von einer Überforderung der Pflegeperson auszugehen ist, wenn sich bereits drei Pflegekinder in der Pflegefamilie befinden, so dass die Pflegeerlaubnis für weitere Kinder zu versagen ist, steht mit Bundesrecht im Einklang (VGH München BeckRS 2009, 43583). Für die Prognose, ob das Wohl des Kindes gewährleistet ist, muss eine positive Entwicklung des Kindes mit großer Sicherheit zu erwarten sein.    (redaktioneller Leitsatz)
Die Regelvermutung ist bei Aufnahme eines vierten Kindes nicht widerlegt, wenn bei zwei der drei bereits aufgenommenen Kinder sowie bei dem vierten Kind ein erhöhter Förderbedarf besteht. Bei der Beurteilung kommt der Stellungnahme eines mit besonderer Kompetenz ausgestatteten Fachdienstes, der auch die Situation vor Ort kennt, größeres Gewicht zu als Äußerungen von Privatpersonen.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Antrag wird abgelehnt.
II.
Die Antragsteller tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Die Antragsteller begehren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Erteilung einer Pflegeerlaubnis bis zur Entscheidung in der Hauptsache für ein viertes Pflegekind, das sie im Einvernehmen mit der sorgeberechtigten Mutter bereits in ihrem Haushalt aufgenommen haben. Zwei der drei bereits vorhandenen Pflegekinder haben ebenso wie das vierte Pflegekind einen erhöhten Förderbedarf. Zudem leben in der Familie zwei eigene leibliche Kinder.
Den Antrag der Antragsteller auf Erteilung einer Pflegeerlaubnis für das vierte Pflegekind lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 18. Mai 2016 ab. Das Kreisjugendamt sehe die Gefahr, dass sich die Familie mit der Aufnahme eines weiteren Kindes überfordere und damit die Gefahr bestehe, dass sich die Situation für alle Kinder deutlich verschlechtern könne.
Hiergegen haben die Antragsteller Verpflichtungsklage erhoben und um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht.
II.
Der Antrag nach § 123 VwGO hat keinen Erfolg.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO setzt voraus, dass die Antragsteller die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung durch das Gericht, den sog. Anordnungsgrund, und einen Anordnungsanspruch glaubhaft machen (§ 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO). Zumindest an letzterem fehlt es hier. Einem Anspruch auf Erteilung der begehrten Pflegeerlaubnis (§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII) steht die gesetzliche Regelvermutung des Art. 35 Satz 2 Nr. 2 Halbs. 2 AGSG entgegen, wonach in der Regel von einer Überforderung der Pflegeperson auszugehen ist, wenn sich bereits drei Pflegekinder in der Pflegestelle befinden. Den Antragstellern ist es nicht gelungen, diese Regelvermutung zu widerlegen.
1. Gemäß Art. 35 Satz 2 Nr. 2 Halbs. 1 Alt. 2 AGSG ist eine Pflegeerlaubnis insbesondere zu versagen, wenn eine Pflegeperson mit der Betreuung eines weiteren Kindes überfordert ist. Davon ist in der Regel auszugehen, wenn sich bereits drei Pflegekinder in einer Pflegefamilie befinden (Art. 35 Satz 2 Nr. 2 Halbs. 2 AGSG). Diese landesgesetzliche Regelvermutung steht mit Bundesrecht im Einklang (vgl. BayVGH, B.v. 19.8.2009 – 12 C 09.953 – juris Rn. 6). § 49 SGB VIII bestimmt ausdrücklich, dass das Landesrecht das Nähere über die Pflege eines Kindes in Familien und in Einrichtungen regelt. § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII ist nicht etwa so zu verstehen, dass das Wohl des Kindes nur dann nicht gewährleistet ist, wenn die Voraussetzungen einer konkreten Kindeswohlgefährdung gegeben sind (vgl. Mörsberger in Wiesner, SGB VIII, 5. Auflage 2015, § 44 Rn. 18a). Entgegen der Auffassung der Antragsteller ist deshalb nicht zu fordern, dass die Überforderung der Pflegeeltern tatsächlich belegt ist. Vielmehr ist aus der Formulierung des § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII zu folgern, dass bei der zu treffenden Prognoseentscheidung genügend Anhaltspunkte vorliegen müssen, die eine positive Entwicklung („Wohl des Kindes“) mit großer Sicherheit („Gewährleistung“) erwarten lassen (Mörsberger a. a. O. Rn. 10). Dies ist verfassungsrechtlich unbedenklich, weil das Aufenthaltsbestimmungsrecht der sorgeberechtigten Mutter dort seine Grenze findet, wo das Kindeswohl nicht gewährleistet ist. Abgesehen davon können sich die Antragsteller bei der Inanspruchnahme verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes nur auf die Verletzung eigener Rechte mit Erfolg berufen, nicht aber auf solche der sorgeberechtigten Mutter (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Die Antragsteller haben die gesetzliche Regelvermutung, dass sie durch die Aufnahme des vierten Pflegekindes überfordert sind, nicht widerlegt. Hierbei hat besonderes Gewicht, dass zwei der drei bereits aufgenommenen Pflegekinder einen erhöhten bzw. besonderen Förderbedarf haben (vgl. Stellungnahme des Fachdienstes Pflegekinderwesen vom 15.4.2016). Ein solcher qualifizierter Förderbedarf besteht auch bei dem vierten Pflegekind, das sich wegen traumatischer Erlebnisse (u. a. Tod des Vaters) in psychotherapeutischer Behandlung befindet (vgl. Psychotherapeutische Stellungnahme des Dr. … vom 15.3.2016). Es kommt hinzu, dass der Fachdienst Pflegekinderwesen, dem bei der Einschätzung der Situation vor Ort eine besondere Sachkompetenz zukommt, aufgrund der dargelegten einzelfallbezogenen Umstände die (konkrete) Gefahr sieht, dass sich die Antragsteller mit der Aufnahme eines weiteren Kindes überfordern und sich damit die Situation für alle Kinder in der Familie deutlich verschlechtert. Diese Einschätzung wurde nicht „vom grünen Tisch aus“ getroffen. Vielmehr haben regelmäßige Besuche im Haushalt der Antragsteller stattgefunden, bei denen sich das Jugendamt des Antragsgegners ein persönliches Bild der Familiensituation vor Ort machen konnte. Im Gegensatz dazu kennt die Mitarbeiterin des Jugendamts des Landkreises …, die den Kontakt zwischen den Antragstellern und der Kindsmutter vermittelte, die Verhältnisse vor Ort offenkundig nicht aus eigener Anschauung. Abgesehen davon teilt das Jugendamt des Landkreises … die Auffassung des Antragsgegners uneingeschränkt (siehe Bescheid vom 30.3.2016 über die Ablehnung des Antrags der sorgeberechtigten Mutter des Kindes auf Hilfe zur Erziehung in Form der Unterbringung des Kindes bei der Pflegefamilie der Antragsteller und Übernahme der dafür anfallenden Kosten).
Demgegenüber sind die vorgelegten Äußerungen, die überwiegend von Privatpersonen stammen, nicht geeignet, die fachkundige Einschätzung des Fachdienstes Pflegekinderwesen ernstlich in Zweifel zu ziehen oder gar zu widerlegen. Die Mutter des Kindes und das Kind selbst sind offenkundig nicht in der Lage, die Belastung der Antragsteller objektiv einzuschätzen. Schon deshalb war der Antragsgegner vor Erlass des streitgegenständlichen Bescheids nicht verpflichtet, sie anzuhören. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 36 Abs. 1 Satz 4 SGB VIII. Das dort geregelte Wunsch- und Wahlrecht des Personensorgeberechtigten und des Kindes erstreckt sich nur auf Pflegestellen, die in der Lage sind, die im Einzelfall gebotene Hilfe uneingeschränkt zu erbringen (vgl. BayVGH, U.v. 30.3.2006 – 12 B 04.1261 – juris Rn. 12). Auch die Stellungnahmen und Eindrücke von Verwandten, guten Bekannten und Nachbarn sind naturgemäß nur sehr eingeschränkt aussagekräftig. Selbst die psychotherapeutische Stellungnahme vom 15. März 2016, die nur wenige Tage nach der Aufnahme des vierten Pflegekindes abgegeben wurde, lässt nur sehr begrenzt Rückschlüsse auf die tatsächliche Belastung der Antragsteller durch die Betreuung der Pflegekinder und der eigenen Kinder zu. Gleiches gilt für die Stellungnahme des Förderzentrums … in … vom 1. Juni 2016, die sich ausschließlich mit dem Pflegekind … und seinem (sehr guten) Verhältnis zur Antragstellerin befasst, und die E-Mail einer Dipl. Pädagogin des Stadtjugendamts … vom 19. Mai 2016 an die Antragstellerin. Zwar lässt das Gesamtbild der vorgelegten Äußerungen darauf schließen, dass die Antragstellerin sehr engagiert sowie für die Betreuung von Pflegekindern qualifiziert ist und die Lage derzeit „im Griff“ hat. Dies besagt aber nicht, dass letzteres mittel- und langfristig so bleibt, zumal die aktuelle Situation und Motivation insbesondere durch das laufende Verfahren geprägt sein dürfte.
2. Darüber hinaus dürfte ein Anordnungsgrund nicht gegeben sein. Die Aufnahme des vierten Pflegekindes in den Haushalt der Antragsteller erfolgte ohne die gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII erforderliche Pflegeerlaubnis, was gemäß § 104 Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII eine Ordnungswidrigkeit darstellt. Es würde dieser gesetzlichen Wertung widersprechen, wenn man aus dem rechtswidrigen Verhalten der Antragsteller einen Anordnungsgrund herleiten würde. Letztlich kann das Vorliegen eines Anordnungsgrundes jedoch dahingestellt bleiben, weil es bereits an einem Anordnungsanspruch fehlt.
Die Antragsteller haben die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner zu tragen, weil sie unterlegen sind (§ 154 Abs. 1, § 159 Satz 2 VwGO).
Eine Streitwertfestsetzung ist nicht veranlasst, weil Gerichtskosten nicht erhoben werden (§ 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO).


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