Verwaltungsrecht

Pflicht zur Mitteilung einer ladungsfähigen Anschrift

Aktenzeichen  M 1 S 19.50543

Datum:
2.6.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 11258
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5, § 82 Abs. 1 S. 1, § 173 S. 1
AsylG § 10 Abs. 1, § 81 S. 1
GG Art. 19 Abs. 4

 

Leitsatz

In den Fällen, in denen ein Ausländer untergetaucht ist, fehlt es am Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag im vorläufigen Rechtsschutz gegen die Anordnung der Abschiebung (ebenso BayVGH BeckRS 2009, 40807). (Rn. 12 – 16) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Anordnung der Abschiebung nach Italien im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
Der am … 2018 in Deutschland geborene Antragsteller ist nigerianischer Staatsangehöriger. Seine Geburt wurde am … 2018 gegenüber dem Bundesamt für … (Bundesamt) angezeigt.
Mit Bescheid vom 20. Mai 2019, zugestellt am 27. Mai 2019, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3) und setzte ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von sechs Monaten ab dem Tag der Abschiebung nach § 11 Abs. 1 AufenthG fest (Nr. 4).
Am 27. Mai 2019 hat die Bevollmächtigte des Antragstellers Klage (M 1 K 19.50542) zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben. Gleichzeitig beantragt sie in diesem Verfahren,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des Bescheides vom 20. Mai 2019 anzuordnen.
Nachdem das Bundesamt mit Schreiben vom 19. Februar 2020 im Klageverfahren mitteilte, dass die Familie des Antragstellers nach unbekannt verzogen sei, forderte das Gericht die Antragsbevollmächtigte mit Schreiben vom 30. März 2020, zugestellt am 6. April 2020, nach § 81 AsylG auf, die derzeitige Anschrift des Antragstellers mitzuteilen.
Ein Auszug aus dem Ausländerzentralregister (AZR) vom 2. Juni 2020 ergab, dass die Familie des Antragstellers seit dem 6. Februar 2020 nach unbekannt verzogen ist.
Mit Beschluss vom 2. Juni 2020 hat das Gericht das Klageverfahren gemäß § 81 Satz 1 AsylG eingestellt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte in beiden Verfahren sowie die vorgelegte Asylakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) unzulässig.
Das Hauptsacheverfahren wurde mit deklaratorischem Beschluss vom heutigen Tag nach § 81 Satz 1 AsylG eingestellt. Das Klageverfahren ist durch die fiktive Klagerücknahme formell abgeschlossen (vgl. Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 81 AsylG Rn. 18). Für das Eilverfahren fehlt es somit an einer Klage, deren aufschiebende Wirkung angeordnet werden kann. Da dies jedoch im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag Voraussetzung für dessen Zulässigkeit ist (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 80 Rn. 81 m.w.N.), ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO bereits deshalb unzulässig.
Dem Antrag fehlt darüber hinaus das Rechtsschutzbedürfnis, weil der Antragsteller unbekannten Aufenthalts ist.
In Fällen, in denen ein Ausländer untergetaucht ist, fehlt – ungeachtet der jeweiligen Gründe für das Untertauchen – das Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag (vgl. BayVGH, B.v. 6.6.2006 – 24 CE 06.1102 – juris Rn 14 m.w.N.; B.v. 10.12.2001 – 21 B 00.31685 – juris Rn 19 ff.).
In Einklang mit Art. 19 Abs. 4 GG setzt jede an einen Antrag gebundene gerichtliche Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraus. Nur derjenige, der mit dem von ihm angestrengten gerichtlichen Rechtsschutzverfahren ein rechtsschutzwürdiges Interesse verfolgt, hat einen Anspruch auf die gerichtliche Sachentscheidung. Fehlt es daran, so ist das prozessuale Begehren als unzulässig abzuweisen (vgl. BVerfG, B.v. 27.10.1998 – 2 BvR 2662/95 – juris Rn. 16 m.w.N.).
Das erforderliche Rechtsschutzinteresse kann auch im Laufe eines gerichtlichen Verfahrens entfallen. Vom Wegfall eines ursprünglich gegebenen Rechtsschutzbedürfnisses kann das Gericht im Einzelfall ausgehen, wenn das Verhalten eines rechtsschutzsuchenden Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an der Sachentscheidung des Gerichts nicht mehr gelegen ist (vgl. BVerfG, B.v. 27.10.1998 – 2 BvR 2662/95 – juris Rn. 17; BayVGH, B.v. 20.12.1999 – 10 ZC 99.1418 – juris Rn. 3; OVG NRW, B.v. 1.2.2002 – 21 A 1550/01.A – juris Rn. 5). Aus dem Untertauchen eines Antragstellenden, dessen Antrag darauf gerichtet ist, weiter im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, ist der Schluss zu ziehen, dass er an der Weiterverfolgung des gerichtlichen Verfahrens kein Interesse mehr hat (vgl. BayVGH, B.v. 6.3.2014 – 10 ZB 13.1862 – juris Rn. 4 m.w.N.).
So verhält es sich hier. Der Antragsteller ist ausweislich eines Auszugs aus dem AZR seit dem 6. Februar 2020 nach unbekannt verzogen. Da der Antragsteller mit seiner Familie somit seit fast vier Monaten untergetaucht ist, haben diese zu erkennen gegeben, dass sie an einer gerichtlichen Entscheidung nicht (mehr) interessiert sind.
Im Übrigen stellt das Fehlen einer ladungsfähigen Anschrift einen Verstoß gegen die zwingende Verfahrensvorschrift des § 82 Abs. 1 Satz 1, § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 130 Nr. 1 ZPO dar, wonach dem Gericht zur Bezeichnung des Antragstellenden dessen aktuelle ladungsfähige Anschrift bekannt sein muss (vgl. BayVGH, B.v. 5.12.2007 – 19 ZB 06.2329 – juris Rn. 6 m.w.N.). Die Vorschrift ist auch im vorläufigen Rechtsschutzverfahren anwendbar (vgl. VGH BW, B.v. 25.10.2004 – 11 S 1992/04 – juris Rn. 4; Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 82 Rn. 1) und gilt selbst dann, wenn der Antragstellende anwaltlich vertreten ist (vgl. BVerwG, U.v. 13.4.1999 – 1 C 24/97 – juris, Rn. 39; Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 82 Rn. 3).
Der Pflicht zur Mitteilung einer ladungsfähigen Anschrift ist der Antragsteller, gesetzlich vertreten durch seine Eltern, im für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt nicht nachgekommen. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Pflicht ausnahmsweise entfallen sein könnte, weil dessen Erfüllung unmöglich oder unzumutbar ist (vgl. Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 82 Rn. 4). Der Antragsteller hat sich, gesetzlich vertreten durch seine Eltern, der Pflicht aus § 10 Abs. 1 AsylG, wonach der Wechsel der Anschrift dem angerufenen Gericht unverzüglich anzuzeigen ist, entzogen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.


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