Verwaltungsrecht

Rechtswidrige Einstellung des Asylverfahrens, da Voraussetzungen der Zustellungsfiktion nach § 10 Abs. 2 AsylG nicht vorliegen

Aktenzeichen  M 17 K 17.35748

Datum:
15.5.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 10 Abs. 2, § 33

 

Leitsatz

1 Macht das Bundesamt von der in §§ 32, 33 AsylG eingeräumten Möglichkeit der Verfahrenseinstellung Gebrauch, darf das Verwaltungsgericht mit der Aufhebung der Entscheidung nicht zugleich über die Begründetheit des Asylantrags entscheiden. Vielmehr ist die Sachentscheidung nach den Regelungen des Asylgesetzes zunächst dem Bundesamt vorbehalten (vgl. BVerwG BeckRS 2013, 57598). (Rn. 15) (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Trotz der in § 33 Abs. 5S. 2 AsylG eingeräumten Möglichkeit, die Wiederaufnahme des Asylverfahrens beim Bundesamt zu beantragen, besitzt der Betroffene für die Anfechtungsklage gegen die Einstellungsentscheidung das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Der Wortlaut von § 33 Abs. 5 S. 6 Nr. 2 AsylG legt insoweit nahe, dass eine erste Wiederaufnahmeentscheidung nach § 33 Abs. 5 S. 2 AsylG ein späteres erneutes Wiederaufnahmebegehren selbst dann sperrt, wenn die erste Verfahrenseinstellung nach § 33 Abs. 5 S. 1 AsylG rechtwidrig gewesen ist, sodass der Wiederaufnahmeantrag keinen gleichwertigen Rechtsschutz vermittelt (vgl. BVerfG BeckRS 2016, 49618). (Rn. 16) (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Die Fiktion einer wirksamen Zustellung nach § 10 Abs. 2 S. 4 AsylG setzt einen ordnungsgemäßen Zustellversuch voraus. Sie greift dann nicht ein, wenn das Bundesamt die Zustellung irrtümlich und auf eigene Initiative an eine unzutreffende Adresse veranlasst, die auf dem veralteten Stand des Ausländerzentralregisters beruht. (Rn. 19) (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 9. März 2017 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 101 Abs. 2 VwGO). Die Beklagte hat ihr Einverständnis zu einer schriftlichen Entscheidung allgemein erteilt.
Die zulässige Klage hat Erfolg.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat im Hauptantrag richtigerweise eine Anfechtungsklage erhoben. Der Gesetzgeber hat mit der in §§ 32, 33 AsylG geregelten Verfahrenseinstellung durch Verwaltungsakt dem Bundesamt eine Handlungsmöglichkeit zur Verfügung gestellt, gegen die der Betroffene nur im Wege der Anfechtungsklage Rechtsschutz erlangen kann. Macht das Bundesamt von dieser gesetzlichen Ermächtigung fehlerhaft Gebrauch, darf das Gericht mit der Aufhebung der nach §§ 32, 33 AsylG getroffenen Entscheidung nicht zugleich über die Begründetheit des Begehrens auf Gewährung von Asyl und Zuerkennung der Flüchtlingsanerkennung entscheiden. Vielmehr ist die Sachentscheidung nach den Regelungen des Asylgesetzes zunächst dem Bundesamt vorbehalten. Der Asylsuchende muss die Aufhebung dieses Bescheides erreichen, wenn er eine Entscheidung über seinen Asylantrag erhalten will (vgl. BVerwG, U.v. 5.9.2013 – 10 C 1.13 – juris Rn. 14).
Dem Kläger fehlt auch nicht das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Das Interesse an gerichtlichem Rechtsschutz kann erst dann entfallen, wenn das mit dem Rechtsschutzbegehren verfolgte Ziel durch ein gleich geeignetes, keine anderweitigen rechtlichen Nachteile mit sich bringendes behördliches Verfahren ebenso erreicht werden kann wie in dem angestrebten gerichtlichen Verfahren. Hingegen reicht es nicht, wenn der Gesetzgeber die Möglichkeit eröffnet, einen Antrag an die zuständige Behörde zu stellen, der andere Rechtsfolgen als eine gerichtliche Aufhebung des belastenden Verwaltungsakts zeitigt (BVerfG, B.v. 20.7.2016 – 2 BvR 1385/16 – juris Rn. 8). Zwar kann der Asylsuchende, dessen Verfahren nach § 33 Abs. 1 AsylG eingestellt worden ist, die Wiederaufnahme des Verfahrens beim Bundesamt beantragen (§ 33 Abs. 5 Satz 2 und 3 AsylG). Dem Asylbewerber soll hiermit die Möglichkeit der Heilung eines einmaligen Fehlverhaltens eingeräumt werden; die erstmalige Einstellung entfaltet somit lediglich Warncharakter (vgl. BT-Drs. 18/7538, S.17). Der Wortlaut des § 33 Abs. 5 Satz 6 Nr. 2 AsylG legt nahe, dass die erste Wiederaufnahmeentscheidung nach § 33 Abs. 5 Satz 2 AsylG ein späteres erneutes Wiederaufnahmebegehren selbst dann sperrt, wenn die erste Verfahrenseinstellung nach § 33 Abs. 5 Satz 1 AsylG rechtwidrig gewesen ist. Damit würde es sich bei dem Wiederaufnahmeverfahren aber um kein gleich geeignetes, keine anderweitigen rechtlichen Nachteile mit sich bringendes behördliches Verfahren handeln, dass das Interesse an gerichtlichem Rechtsschutz entfallen lässt (vgl. BVerfG, B.v. 20.7.2016 – 2 BvR 1385/16 – a.a.O. Rn. 8). Eine obergerichtliche Rechtsprechung zu § 33 Abs. 5 Satz 6 Nr. 2 AsylG liegt noch nicht vor; in den erstinstanzlichen Entscheidungen werden unterschiedliche Rechtsauffassungen vertreten (vgl. VG Ansbach, U.v. 21.9.2016 – AN 4 K 16.30411 u.a. – juris Rn. 36; VG Stuttgart, B.v. 6.2.2017 – A 1 K 198/17 – juris Rn. 5). Bei dieser Rechtslage kann dem Kläger das Interesse nicht abgesprochen werden, mit der erhobenen Klage die Frage verbindlich zu klären, ob die Einstellung des Asylverfahrens zu Recht erfolgt ist (vgl. zu alledem VG München, U.v. 14.3.2017 – M 7 K 17.30072 – juris Rn. 10f.; VG Dresden, U.v. 24.10.2016 – 4 K 733/16.A – juris Rn. 15).
Der Bescheid des Bundesamtes vom 9. März 2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten; er war deshalb aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt konnte nicht davon ausgehen, dass der Kläger das Verfahren nicht betreibt, da ihm die Ladung zur persönlichen Anhörung nicht ordnungsgemäß zugestellt wurde.
Gemäß § 33 Abs. 1 AsylG gilt der Asylantrag als zurückgenommen, wenn der Ausländer das Verfahren nicht betreibt. Nach § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylG wird vermutet, dass der Ausländer das Asylverfahren nicht betreibt, wenn er einer Aufforderung zur Anhörung gemäß § 25 AsylG nicht nachgekommen ist. Nach § 10 Abs. 2 Satz 1 AsylG muss der Ausländer Zustellungen und formlose Mitteilungen unter der letzten Anschrift, die der jeweiligen Stelle aufgrund seines Asylantrags oder seiner Mitteilung bekannt ist, gegen sich gelten lassen, wenn er für das Verfahren weder einen Bevollmächtigten bestellt noch einen Empfangsberechtigten benannt hat oder diesen nicht zugestellt werden kann. Das Gleiche gilt, wenn die letzte bekannte Anschrift, unter der der Ausländer wohnt oder zu wohnen verpflichtet ist, durch eine öffentliche Stelle mitgeteilt worden ist (§ 10 Abs. 2 Satz 2 AsylG). Kann die Sendung dem Ausländer nicht zugestellt werden, so gilt die Zustellung mit der Aufgabe zur Post als bewirkt, selbst wenn die Sendung als unzustellbar zurückkommt (§ 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG).
Die Fiktion der wirksamen Zustellung nach § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG setzt allerdings voraus, dass ein ordnungsgemäßer Zustellungsversuch erfolgt ist. Sie greift nicht ein, wenn das Bundesamt die Zustellung irrtümlich und auf eigene Initiative an eine unzutreffende vormalige Adresse veranlasst, die auf dem veralteten Stand des Ausländerzentralregisters beruht.
Die Regierung von Oberbayern teilte mit Email vom 3. April 2017 mit, dass der Kläger vom … Dezember 2016 bis … Januar 2017 in der … wohnhaft war. Ab dem … Januar 2017 – mithin bereits zum Zeitpunkt der Ladung zur Anhörung vor dem Bundesamt (Schreiben vom 7. Februar 2017) – war der Kläger mit Wissen des Bundesamtes in der Aufnahmeeinrichtung … untergebracht. Der Ausdruck des Ausländerzentralregisters (Bl. … BA) vom 1. Februar 2017 mit Wohnsitz …, an dem sich das Bundesamt bei seiner Ladungsadresse orientierte, war damit offensichtlich unrichtig. Dem Kläger kann ein Verstoß gegen seine Mitteilungspflicht bzgl. einer neuen Adresse nicht zur Last gelegt werden, da dem Bundesamt die neue Adresse (…) bekannt war. Dies ergibt sich nicht nur daraus, dass das Bundesamt die Ladung zur Anhörung nach § 25 AsylG zunächst an die … adressierte (siehe Entwurf der Ladung vom 18. Januar 2017; Bl. … BA), sondern auch aus der Aufenthaltsgestattung vom … Januar 2017 (Bl. … BA). Nach Einholung der Auskunft aus dem Ausländerzentralregister wurde verkannt, dass es sich bei der Adresse: … nicht um die aktuelle Adresse (Vermerk des Bundesamtes vom … Februar 2017; Bl. … BA), sondern um die alte Adresse des Klägers handelte.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben