Verwaltungsrecht

Rechtswidrige Einstellung des Asylverfahrens – Keine Rücknahmefiktion wegen Nichtbetreibens

Aktenzeichen  M 12 K 16.30136

Datum:
2.3.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 33
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

Da das Nichtbetreiben für den Asylbewerber gravierende Folgen auslöst, muss die Belehrung unzweifelhaft deutlich machen, was vom Asylbewerber verlangt wird und welche Folgen eine Nichtbefolgung der Aufforderung auslöst. Etwaige Unklarheiten gehen zulasten der Behörde. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. Januar 2016 wird in den Nr. 1, 3 und 4 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, den Asylantrag des Klägers fortzuführen und innerhalb einer Frist von drei Monaten nach Rechtskraft des Urteils zu entscheiden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II.
Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger ¼, die Beklagte ¾.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Verfahrensgegenstand ist der Bescheid der Beklagten vom 11. Januar 2016, in dem festgestellt wurde, dass der Asylantrag als zurückgenommen gilt und das Asylverfahren eingestellt ist (Nr.1), dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des AufenthG nicht vorliegen (Nr.2), die Abschiebung nach Eritrea wurde angedroht (Nr.3) und das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr.4; Bl. 73 der Behördenakte).
Die Klage ist zulässig und hinsichtlich der Nr. 1, 3 und 4 des Bescheides auch begründet; im Übrigen ist sie unbegründet. Soweit die Klage begründet ist, ist der Kläger in seinen Rechten verletzt; im Übrigen ist er nicht in seinen Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 VwGO.
Der Asylantrag gilt nicht als zurückgenommen; die Einstellung des Asylverfahrens ist nicht rechtmäßig (Nr.1 des Bescheides).
Der Asylantrag gilt als zurückgenommen, wenn der Ausländer das Asylverfahren nicht betreibt, § 33 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Es wird vermutet, dass der Ausländer das Asylverfahren nicht betreibt, wenn er einer Aufforderung zur Vorlage von für den Antrag wesentlichen Informationen gem. § 15 AsylG nicht nahgekommen ist, § 33 Abs. 2 Nr.1 AsylG. Der Ausländer ist auf die nach Absatz 1 eintretende Rechtsfolge schriftlich und gegen Empfangsbestätigung hinzuweisen, § 33 Abs. 4 AsylG. Im Falle der Antragsrücknahme stellt das Bundesamt in seiner Entscheidung fest, dass das Asylverfahren eingestellt ist und ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 Aufenth vorliegt, § 32 Satz 1 AsylG. In den Fällen des § 33 ist nach Aktenlage zu entscheiden, § 32 Satz 2 AsylG.
Die gesetzliche Fiktion einer Antragsrücknahme stellt eine scharfe Sanktion für den unterstellten Wegfall des Bescheidungs- bzw. Rechtsschutzinteresses des Asylantragstellers dar. Bei der Auslegung von § 33 Abs. 1 AsylG ist angesichts der dargestellten Folgen einer Rücknahmefiktion die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG zu beachten. Der Erlass einer Betreibensaufforderung setzt daher voraus, dass während des Verfahrens ein besonderer Anlass zu Tage getreten ist, aus dem sich ergibt, dass der Betroffene an der Weiterverfolgung seines Asylantrags kein Interesse hat. Der Betroffene ist auf Zweifel an diesem Interesse hinzuweisen und ihm ist Gelegenheit zu geben, diese auszuräumen (BVerfG, B. v. 27.10.1998 – 2 BvR 2662/95 – DVBl. 1999, 166). Da das Nichtbetreiben für den Asylbewerber gravierende Folgen auslöst, muss die Belehrung unzweifelhaft deutlich machen, was vom Asylbewerber verlangt wird und welche Folgen eine Nichtbefolgung der Aufforderung auslöst. Etwaige Unklarheiten gehen zulasten der Behörde.
Vorliegend wurde der Kläger mit Schreiben der Behörde vom 1. Oktober 2015 und vom 7. Dezember 2015 gebeten, einen Fragebogen auszufüllen und für die Prüfung des Asylantrags erforderliche Angaben zu machen, § 15 AsylG. Selbst wenn diese Schreiben eine Betreibensaufforderung gem. § 33 Abs. 1 darstellen sollten, so enthalten sie nicht den Hinweis auf die Rechtsfolge des § 33 Abs. 1 AsylG, § 33 Abs. 4 AsylG. Für den Kläger war nicht zu erkennen, welche Folgen es haben würde, wenn er der Aufforderung, seine Asylgründe schriftlich darzulegen, nicht nachkommen würde. In den allgemeinen Hinweisen (Bl. 6 bis 9 der Behördenakte) ist der Hinweis zwar enthalten, dass der Asylantrag als zurückgenommen gelten kann, aber nur für den Fall der Unterlassung der Mitteilung des Wohnungswechsels (Bl. 8 der Behördenakte), nicht für den Fall des Nichtvortragens erforderlicher Informationen.
Darüber hinaus hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung einen Einlieferungsbeleg vorgelegt, mit dem er nach eigenen Angaben am 16. Oktober 2015 einen ausgefüllten Fragebogen an das Bundesamt gesandt hat. Aus der Unterschrift des „…“ (eines Mitarbeiters beim Bundesamt) auf dem Einlieferungsbeleg am 19. Oktober 2015 ergibt sich, dass der ausgefüllte Fragebogen offenbar an diesem Tag beim Bundesamt eingegangen ist. Ein klägerisches Schreiben ist unter diesem Datum aber nicht in der Akte, so dass davon ausgegangen werden muss, das das vom Kläger übersandte Schreiben zwar beim Bundesamt eingegangen ist, aber nicht zur Akte gelangt ist. Die Behandlung des Asylantrags als zurückgenommen und die Einstellung des Verfahrens ist daher auch deshalb rechtswidrig, weil der Kläger der Betreibensaufforderung nachgekommen ist. Wenn der Fragebogen innerhalb der Behörde nicht zur Akte gelangt ist, liegt das im Verantwortungsbereich der Behörde.
Damit erweist sich die Einstellungsverfügung als rechtswidrig. Rechtswidrig und damit aufzuheben sind auch die getroffene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung.
Über das Vorliegen von Abschiebungshindernissen gem. § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG (Nr. 2 des Bescheides) wurde von der Behörde nach Aktenlage entschieden. Der Kläger hat weder im Verwaltungsverfahren noch im Gerichtsverfahren (weder in der Klagebegründung noch in der mündlichen Verhandlung) Anhaltspunkte für das Vorliegen von Abschiebungsverboten vorgetragen. Auch in dem Schreiben vom 1. März 2016, das er in der mündlichen Verhandlung übergeben hat, sind keine Anhaltspunkte für das Vorliegen von Abschiebungsverboten enthalten, so dass die Feststellung, dass solche nicht vorliegen, rechtens ist.
Der Klage war nach alledem zum Teil stattzugeben, zum Teil war sie abzuweisen. Die Kostenentscheidung bestimmt sich entsprechend dem Teil des Unterliegens und Obsiegens nach § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. § 708 ff. ZPO.


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