Verwaltungsrecht

Rechtswidrige Gutachtensanordnung bei unzureichender Berücksichtigung entlastender Momente

Aktenzeichen  M 6 S 17.1808

Datum:
13.7.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG StVG § 4 Abs. 1 S. 3, Abs. 5 S. 1
FeV FeV § 11 Abs. 3 Nr. 4, Abs. 8
VwGO VwGO § 80 Abs. 5 S. 1

 

Leitsatz

Eine Ermessensentscheidung nach § 11 Abs. 3 FeV ist nicht frei von Mängel, wenn in die Ermessenserwägungen nicht eingeflossen ist, dass zwischen dem letzten Verstoß und dem Zeitpunkt der Aufforderung, ein medizinisch-psychologisches Gutachten vorzulegen, über eineinhalb Jahre verstrichen sind, ohne dass neue Verkehrsverstöße des Antragstellers bekannt geworden sind, die so gravierend gewesen wären, dass sie im Fahreignungsregister eingetragen worden wären, sowie, dass das seinerzeit verhängte einmonatige Fahrverbot als einschneidende Sanktion durchaus dazu eine nachhaltige und erfolgreiche Warnfunktion gehabt hatte. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 1. März 2017 gegen den Bescheid der Landeshauptstadt München vom 23. Februar 2017 (Az. … …) wird hinsichtlich der Nrn. 1 und 2 wiederhergestellt.
Der am 3. März 2017 vom Antragsteller bei der Polizeiinspektion … A… (B…) abgegebene Führerschein vom … Februar 2000 Nr. … ist diesem unverzüglich nach Rücklauf auszuhändigen.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen
III. Der Streitwert wird auf EUR 6.250,- festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller ist Inhaber einer Fahrerlaubnis der Klassen B, BE, C1, C1E, L, M, S, T. Er wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit eines Bescheids zur Entziehung der Fahrerlaubnis aller Klassen.
Durch Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamtes erfuhr die Fahrerlaubnisbehörde von folgenden Geschwindigkeitsübertretungen des Antragstellers: Am … Juni 2014 überschritt er die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften bei erlaubten 30 km/h um 34 km/h. Festgestellt wurde eine gefahrene Geschwindigkeit von 64 km/h. Am … November 2014 überschritt er die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften bei erlaubten 30 km/h um 35 km/h. Festgestellt wurde eine gefahrene Geschwindigkeit von 65 km/h. Die Geschwindigkeitsübertretung vom … November 2014 wurde neben einer Geldbuße in Höhe von EUR 125,- mit einem Monat Fahrverbot geahndet. Laut Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamts vom … Januar 2016 erreichte der Antragsteller damit einen Punktestand von insgesamt 4 Punkten im Fahreignungsregister. Mit Schreiben der Fahrerlaubnisbehörde vom 2. Februar 2016 wurde der Antragsteller über seinen Punktestand informiert, ermahnt und auf die Möglichkeit eines freiwilligen Fahreignungsseminars hingewiesen.
Die genannten Geschwindigkeitsübertretungen nahm die Fahrerlaubnisbehörde darüber hinaus zum Anlass, vom Antragsteller mit Schreiben vom … August 2016 die Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung über seine Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen anzufordern. Hierfür setzte sie dem Antragsteller eine Frist von 3 Monaten ab Zustellung des Schreibens. In der Anordnung wird ausgeführt, die vom Antragsteller begangenen Geschwindigkeitsübertretungen stellten wiederholte Verstöße gegen verkehrsrechtliche Vorschriften dar. Da er die zulässige Höchstgeschwindigkeit mehrfach um mehr als das Doppelte überschritten und damit andere Verkehrsteilnehmer einer erheblichen Gefährdung ausgesetzt habe, bestünden Zweifel an seiner charakterlichen Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen. Durch das Gutachten sei aufzuklären, ob es zu einer Einstellungs- und Verhaltensänderung gekommen sei, damit weitere Verkehrsgefährdungen ausgeschlossen werden könnten. Auf den Inhalt dieses Anordnungsschreibens wird ergänzend Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – analog).
Mit Schriftsatz vom 15. November 2016, per Telefax bei der Fahrerlaubnisbehörde eingegangen am 16. November 2016, bestellten sich die Bevollmächtigten des Antragstellers und baten um Akteneinsicht. Die Fahrerlaubnisakte des Antragstellers wurde Ihnen mit Schreiben vom 16. November 2016 übersandt und mitgeteilt, die Frist zur Vorlage des angeordneten medizinisch-psychologischen Eignungsgutachtens werde nicht verlängert.
Nachdem der Antragsteller innerhalb der gesetzten Frist das Gutachten nicht vorgelegt hatte, hörte ihn die Fahrerlaubnisbehörde mit Schreiben vom 28. November 2016, zugestellt am 30. November 2016, zur beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis an.
Mit Schriftsatz vom 21. Dezember 2016 führten die Bevollmächtigten des Antragstellers unter Bezugnahme auf einen Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München (VG München v. 14.7.2010, Az. M 6a S. 10.2707) aus, dass die Aufforderung der Gutachtensbeibringung rechtswidrig sei.
Mit Bescheid vom 23. Februar 2017, zugestellt am 25. Februar 2017, entzog die Fahrerlaubnisbehörde dem Antragsteller die Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen aller Klassen (Nr. 1 des Bescheids), gab ihm auf, den Führerschein innerhalb einer Woche nach Zustellung des Bescheids bei der Führerscheinstelle der Landeshauptstadt München, oder bei der Polizeiinspektion … abzugeben (Nr. 2), drohte ihm für den Fall der nicht fristgerechten Abgabe des Führerscheins ein Zwangsgeld in Höhe von EUR 1000,- an (Nr. 3) und ordnete die sofortige Vollziehung der Nrn. 1 und 2 des Bescheids an (Nr. 4).
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Fahrerlaubnisbehörde nach §§ 46 Abs. 3,11 Abs. 3 Nr. 4 Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV – berechtigt gewesen sei, eine medizinisch-psychologische Begutachtung zu fordern, nachdem der Antragsteller wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit in 2 Fällen mit einem Bußgeld belegt worden sei. Es bestünden Bedenken, dass „er seine eigenen Interessen über den Anspruch der Allgemeinheit, vor Verkehrsteilnehmern, die unberechtigt am Straßenverkehr teilnehmen, geschützt zu werden“, gestellt habe. Deshalb sei die Fahrerlaubnisbehörde im Rahmen der Ermessensreduzierung berechtigt, zur Ausräumung der bestehenden Zweifel an seiner Fahreignung eine medizinisch-psychologische Untersuchung bei einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung und die Vorlage eines Fahreignungsgutachtens anzuordnen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei gewahrt (Blatt 69 der Behördenakte).
Zur Anordnung des Sofortvollzugs heißt es unter anderem, der Antragsteller habe durch seine wiederholten Verstöße gegen verkehrsrechtliche Vorschriften im Straßenverkehr Anlass zu der Annahme gegeben, dass er den Geboten der Sicherheit im Straßenverkehr nicht gerecht werden könne. Die weitere Teilnahme am Straßenverkehr als Führer von Kraftfahrzeugen würde erhebliche Gefahren für Leib, Gesundheit und Eigentum der übrigen Verkehrsteilnehmer mit sich bringen. Dies könne und dürfe nicht hingenommen werden. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Entziehungsmaßnahmen sei das angemessene Mittel zur Abwehr dieser drohenden Gefährdung des Straßenverkehrs. Auf den Inhalt des Bescheids im Übrigen wird ergänzend Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 VwGO analog).
Mit Schriftsatz vom 1. März 2017, bei der Antragsgegnerin per Telefax am gleichen Tag eingegangen, ließ der Antragsteller durch seine Bevollmächtigten gegen den Bescheid vom 23. Februar 2017 Widerspruch einlegen. Gleichzeitig wurde beantragt die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wiederherzustellen.
Mit Schreiben vom 10. April 2017 informierte die Landeshauptstadt München als Fahrerlaubnisbehörde die Bevollmächtigten des Antragstellers darüber, dass sie dem Widerspruch nicht abhelfen werde und der Antragsteller im Rahmen einer persönlichen Vorsprache am … März 2017 seine Bereitschaft bekundet habe, im Widerspruchsverfahren eine medizinisch-psychologische Untersuchung bei einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung durchführen zu lassen. Es wurde um Mitteilung gebeten, ob diesbezüglich Einverständnis bestehe.
Am … März 2017 gab der Antragsteller seinen Führerschein bei der Polizeiinspektion … A… (B…) ab. Er befindet sich inzwischen in der Akte der Fahrerlaubnisbehörde.
Ein Widerspruchsbescheid erging bislang nicht.
Mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 25. April 2017, eingegangen am 26. April 2017, ließ der Antragsteller gegen den Bescheid vom 23. Februar 2017 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erheben (Az.: M 6 K 17.1807). Mit demselben Schriftsatz ließ er weiter (wörtlich) beantragen,
„II. die sofortige Vollziehung der Verfügung der Beklagten vom 23. Februar 2017 auszusetzen und die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen,
III. der Beklagten aufzugeben, den vom Kläger mit Schreiben vom + abgelieferten Führerschein unverzüglich wieder an den Antragsteller zurückzugeben und ihm für den Fall der Unbrauchbarmachung einen neuen Führerschein der zuvor genehmigten Klassen auszustellen.“
Insbesondere wurde vorgebracht, dass sich der Antragsteller vor Erlass des Entziehungsbescheids bereits über einen Zeitraum von mehr als 1 Jahr und 8 Monaten verkehrsrechtlich unauffällig verhalten habe und es die Antragsgegnerin unterlassen habe, vor der Fahrerlaubnisentziehung – wie von der Rechtsprechung gefordert – eine Würdigung der Gesamtpersönlichkeit vorzunehmen. Der Bescheid vom 23. Februar 2017 erweise sich als offensichtlich rechtswidrig, weshalb die Abwägung zugunsten des Antragstellers ausgehe.
Mit Schreiben vom 22. Mai 2017, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München zusammen mit der Behördenakte am 6. Juli 2017 eingegangen, beantragte die Antragsgegnerin den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung führte die Antragsgegnerin unter anderem aus, dass sie in der Begutachtungsanordnung dem Erfordernis der sorgfältigen Würdigung der Umstände des Einzelfalls gerecht geworden sei. Es sei unter anderem ausgeführt worden, dass die Geschwindigkeitsüberschreitungen bei Fahrbahnen ohne bauliche Trennung stattgefunden haben, die aufgrund ihrer Unübersichtlichkeit durch Bewuchs und Beschaffenheit in der zulässigen Höchstgeschwindigkeit begrenzt worden seien. Dass der Antragsteller trotzdem angesichts dieser ersichtlichen Straßenführung, die aus Gründen der Verkehrssicherheit festgesetzte Höchstgeschwindigkeit überschritten habe, offenbare eine fehlende Normakzeptanz, die für die allgemeine Verkehrssicherheit eine nicht hinnehmbare Gefährdung darstelle. Die Antragsgegnerin habe klar und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass dieses wiederholte Fehlverhalten eine eigenständige Begutachtung notwendig mache.
Mit Schriftsatz vom 12. Juli 2017, per Telefax beim Bayerischen Verwaltungsgericht München eingegangen am gleichen Tag, stellten die Bevollmächtigten des Antragstellers ihren Antrag in Nr. II um und beantragten,
die sofortige Vollziehung der Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 23. Februar 2017 auszusetzen, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 1. März 2017 wiederherzustellen und der Antragsgegnerin zu bescheiden, den vom Antragsteller abgelieferten Führerschein unverzüglich wieder an den Antragsteller zurückzugeben.
Gleichzeitig erklärten sie die Klagerücknahme (M 6 K 17.1807).
Mit Beschluss vom 11. Juli 2017 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakten einschließlich der Gerichtsakte zum Verfahren M 6 K 17.1807 ergänzend Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 VwGO analog).
II.
Der vorliegende Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO führt zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des gegen den Bescheid vom 23. Februar 2017 erhobenen Widerspruchs (Nr. 1 des Bescheids).
Mit dem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO wurde zuletzt die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 1. März 2017 und nicht – wie im Schriftsatz vom 25.April 2017 beantragt – der Klage vom 26. April 2017 begehrt. Ein Widerspruchsbescheid ist in der Streitsache bislang nicht ergangen. Bei dem Schreiben der Landeshauptstadt München vom 10. April 2017 handelt es sich lediglich um den Hinweis, dass dem Widerspruch seitens der Ausgangsbehörde nicht abgeholfen wird.
Der Antrag wird dahingehend ausgelegt, dass er sich nicht auf die Zwangsgeldandrohung in Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids bezieht. Der Antragsteller hat seinen Führerschein bereits abgegeben, sodass die Verpflichtung aus Nr. 2 des Bescheids erfüllt ist. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Fahrerlaubnisbehörde das in Nr. 3 des Bescheids angedrohte Zwangsgeld entgegen der Vorschrift des Art. 37 Abs. 4 Satz 1 Bayerisches Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetz (VwZVG) gleichwohl noch beitreiben wird. Einem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs hinsichtlich der Nr. 3 des Bescheids fehlte es bereits am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis (BayVGH, B. v. 12.2.2014 – 11 CS 13.2281 – juris), sodass eine dahingehende Auslegung nicht in Betracht kommt.
1. Die Begründung für die Anordnung des Sofortvollzugs in Nr. 4 des Bescheides vom 23. Februar 2016 entspricht den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Nach dieser Vorschrift hat die Behörde unter Würdigung des jeweiligen Einzelfalls darzulegen, warum sie abweichend vom Regelfall der aufschiebenden Wirkung, die Widerspruch und Klage grundsätzlich zukommt, die sofortige Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts angeordnet hat. An den Inhalt der Begründung sind dabei allerdings keine zu hohen Anforderungen zu stellen (Eyermann/Schmidt, VwGO, 14. Auflage 2014, § 80, Rn. 43).
Vorliegend hat die Behörde eine diesen Kriterien genügende und auf den Einzelfall bezogene Begründung gegeben. Sie hat insbesondere dargelegt, warum sie bei einer weiteren Teilnahme des Antragstellers am Straßenverkehr bis zum Abschluss des Rechtsbehelfsverfahrens Gefahren für den Straßenverkehr sieht, die es nicht zulassen, mit der Vollziehung der Entscheidung über den Entzug der Fahrerlaubnis bis zum Ende des Rechtsbehelfsverfahrens abzuwarten. Das genügt den formellen Anforderungen des 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO.
2. Die aufschiebende Wirkung des gegen den Bescheid vom 23. Februar 2017 erhobenen Widerspruchs war wiederherzustellen, da sich die in Nr. 1 des Bescheids verfügte Entziehung der Fahrerlaubnis nach der hier notwendigen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung als rechtswidrig darstellt. Damit kann die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit dieser Maßnahme keinen Bestand haben.
2.1 Gemäß § 80 Abs. 1 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Diese entfällt, wenn die Behörde nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten angeordnet hat.
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen. Das Gericht trifft dabei eine originäre Ermessensentscheidung. Es hat bei der Entscheidung über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung abzuwägen zwischen dem von der Behörde geltend gemachten Interesse an der sofortigen Vollziehung ihres Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO allein mögliche, aber auch ausreichende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf offensichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens dagegen nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer Interessensabwägung.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist dabei der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, weil das Widerspruchsverfahren noch nicht abgeschlossen ist.
2.2 Unter Anwendung dieser Grundsätze war die aufschiebende Wirkung des gegen den Bescheid vom 23. Februar 2017 eingelegten Widerspruchs wiederherzustellen.
Die hier vorzunehmende summarische Prüfung ergibt, dass das Interesse des Antragstellers überwiegt, weiter im Besitz seiner Fahrerlaubnis zu bleiben, weil sich der Bescheid vom 23. Februar 2017 als nicht rechtmäßig darstellt und der hiergegen eingelegte Rechtsbehelf deshalb voraussichtlich in der Hauptsache Erfolg haben wird.
Dies ergibt sich aus folgendem:
Zutreffend stellt die Behörde zunächst fest, der Antragsteller habe durch die von ihm begangenen Geschwindigkeitsüberschreitungen wiederholte Verstöße gegen verkehrsrechtliche Vorschriften im Sinne des § 11 Abs. 3 Nr. 4 FeV begangen. Aus den Verkehrsverstößen durfte die Behörde auch den Schluss ziehen, dass beim Antragsteller eventuell Fahreignungsmängel vorliegen.
Die Fahrerlaubnisbehörde hat auch erkannt, dass sie im Rahmen des § 11 Abs. 3 Nr. 4 FeV eine Ermessensentscheidung zu treffen hat und hat die aus ihrer Sicht hierfür maßgeblichen Gesichtspunkte dargelegt. Insbesondere trifft es zu, dass der Antragsteller, dadurch, dass er die zulässige Höchstgeschwindigkeit mehrfach um mehr als das Doppelte überschritten hat, andere Verkehrsteilnehmer einer erheblichen Gefährdung ausgesetzt hat. Es ist auch zutreffend, dass Geschwindigkeitsbegrenzungen auf 30 km/h außerorts an solchen Strecken getroffen werden, an denen ein außerordentliches Unfallrisiko besteht.
Die von der Behörde als solche erkannte Ermessensentscheidung nach § 11 Absatz 3 FeV ist jedoch nicht frei von Mängeln erfolgt.
In eine Ermessensentscheidung müssen alle im Einzelfall bedeutsamen Erwägungen eingestellt werden. In einem Fall wie dem vorliegenden sind auch die zugunsten des Betroffenen sprechenden Aspekte einzustellen, sofern sich solche ohne weiteres aus dem bekannten Sachverhalt ergeben oder vorgetragen wurden. Dies ist nicht ausreichend geschehen.
Zulasten des Antragstellers benennt die Behörde zutreffend die beiden kurz nacheinander begangenen Verkehrsverstöße vom … Juni 2014 und vom … November 2014. Nicht in die Ermessenserwägungen eingeflossen ist jedoch, dass zwischen dem letzten Verstoß und dem Zeitpunkt der Aufforderung ein medizinisch-psychologisches Gutachten vorzulegen über eineinhalb Jahre verstrichen sind, ohne dass neue Verkehrsverstöße des Antragstellers bekannt geworden sind, die so gravierend gewesen wären, dass sie im Fahreignungsregister eingetragen worden wären. Es blieb im Rahmen der Ermessenserwägungen auch gänzlich unerwähnt, dass der Geschwindigkeitsverstoß vom … November 2014 für den Antragsteller einen Monat Fahrverbot nach sich zog und eine so einschneidende Sanktion durchaus dazu führen kann, dass der Betroffene sich künftig im Straßenverkehr regelgerecht verhält. Es liegt daher die Annahme nicht fern, dass der Antragsteller durch das Fahrverbot tatsächlich nachhaltig und erfolgreich davor gewarnt worden sein könnte, weitere Verkehrsverstöße zu begehen. Die Tatsache, dass seit dem … November 2014 keine weiteren schwerwiegenden Verkehrsverstöße vorgekommen sind, spricht für diese Annahme.
Diese Aspekte lassen den Schluss zu, dass die nach § 11 Abs. 3 FeV zu treffende Ermessensentscheidung vorliegend nicht frei von Fehlern ist, weil sie die für den Antragsteller sprechenden Aspekte nicht gesehen oder zumindest nicht auch zu seinen Gunsten bewertet hat.
Durchgreifende Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Fahrerlaubnisentziehung ergeben sich auch daraus, dass die Behörde das Regel- Ausnahmeverhältnis zwischen dem Fahreignungs-Bewertungssystem des § 4 Abs. 3 StVG und einem Vorgehen nach § 3 Abs. 1, §§ 11 bis 14, § 46 Abs. 1 FeV nicht erkannt oder es verkannt hat.
In der Rechtsprechung (vgl. BayVGH, B. v. 2.6.2003 – 11 CS 03.743 – juris; BayVGH, B. v. 7.2.2012 – 11 CS 11.2708 – juris Rn. 14; BayVGH, B. v. 9.12.2014 – 11 CS 14.2217 – juris Rn. 22; VGH BW, B. v. 5.5.2014 – 10 S 705/14 – juris Rn. 7) ist anerkannt, dass ein Vorgehen der Fahrerlaubnisbehörde nach dem Punktsystem die Regel darstellt, während es ihr nur im Ausnahmefall möglich ist, parallel hierzu nach den Vorschriften über die Klärung von Eignungszweifeln vorzugehen. Das Punktsystem beinhaltet die Bewertung von Verkehrszuwiderhandlungen mit einer nach Art und Schwere der Verstöße festgelegten Punktzahl und das Ergreifen abgestufter Maßnahmen der Fahrerlaubnisbehörde bei Erreichen oder Überschreiten bestimmter Punkteschwellen. Es bezweckt eine Vereinheitlichung der Behandlung von Mehrfachtätern und soll dem Betroffenen Gelegenheit geben, aufgetretene Mängel durch Aufbauseminare und verkehrspsychologische Beratung möglichst frühzeitig zu beseitigen. Aus diesem Punktsystem ergibt sich aber auch, dass der Gesetzgeber bewusst die weitere Straßenverkehrsteilnahme von Kraftfahrern mit einem nicht unerheblichen “Sündenregister“ in Kauf genommen und die Entziehung der Fahrerlaubnis von der zuvor eingeräumten Möglichkeit, Angebote und Hilfestellungen wahrzunehmen, abhängig gemacht hat. Durch das Punktsystem hat der Gesetzgeber deutlich gemacht, dass mit Punkten bewertete Verkehrsverstöße grundsätzlich noch keine Eignungsüberprüfung auslösen sollen sondern in der Regel das Instrumentarium des § 4 Straßenverkehrsgesetz – StVG – anzuwenden ist. Maßnahmen außerhalb des Punktsystems wie die Entziehung der Fahrerlaubnis oder zumindest die Anordnung zur Beibringung eines Eignungsgutachtens sind deshalb nur in besonderen Ausnahmekonstellationen zulässig, wenn ein Fahrerlaubnisinhaber beispielsweise durch die beharrliche und häufige Begehung von Verkehrszuwiderhandlungen oder durch einen erheblichen Verkehrsverstoß verkehrsauffällig geworden ist und sich aus einem derartigen Verhalten Fahreignungsmängel oder zumindest Eignungsbedenken in charakterlicher Hinsicht ableiten lassen. Die Fahrerlaubnisbehörde muss dabei im Einzelnen unter Auswertung aller konkreten Umstände näher begründen, warum sie aus besonderen Gründen im Einzelfall, der sich erheblich vom Normalfall sonstiger Verkehrsteilnehmer mit einem Punktestand abheben muss, aufgrund einer Würdigung der Gesamtpersönlichkeit des Kraftfahrers oder wegen der Art, der Häufigkeit oder des konkreten Hergangs der Verkehrsverstöße Eignungsbedenken hegt, die sofortige weitergehende Aufklärungsmaßnahmen etwa durch eine medizinisch-psychologische Untersuchung gebieten (vgl. VGH BW, VGH BW, B. v. 5.5.2014 – 10 S 705/14 – juris Rn. 7).
Diese Grundsätze gelten nach Änderung der Rechtslage ab 1. Mai 2014 in den wesentlichen Punkten fort.
Solche besonderen und einzelfallbezogenen Gründe hat die Fahrerlaubnisbehörde hier nicht aufgezeigt. Dabei dürften grundsätzlich nur die Erwägungen berücksichtigungsfähig sein, welche die Fahrerlaubnisbehörde in der Aufforderung zur Begutachtung dargelegt hat. Da die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung kein Verwaltungsakt ist und sie mithin nicht mit Rechtsmitteln eigenständig angegriffen werden kann, sind an die Begründung der Gutachtensanordnung im Interesse effektiven Rechtsschutzes strenge Anforderungen zu stellen (VGH BW, B. v. 5.5.2014 – 10 S 705/14 – juris Rn. 8).
Gründe, warum im streitgegenständlichen Einzelfall statt nur nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem nach den Vorschriften des § 3 FeV i.V.m. den §§ 11 bis 14 FeV vorgegangen werden sollte, hat die Behörde in ihrer Gutachtensanordnung vom … August 2016 nicht genannt. Solche sind auch im Übrigen kaum ersichtlich. Es spricht viel dafür, dass die Behörde das Regel- Ausnahmeverhältnis, wie es zwischen beiden Arten von Maßnahmen besteht, als solches gar nicht erkannt oder seine Besonderheiten verkannt hat. Die Gutachtensanforderung vom … August 2016 ist daher nicht rechtmäßig ergangen, die Entscheidung dafür, ein solches Gutachten anzufordern, leidet an einem wesentlichen Mangel, der nach Ergehen der Gutachtensanordnung nicht mehr behoben werden kann.
Durfte somit das medizinisch-psychologische Gutachten nicht – jedenfalls nicht ohne ausreichende Begründung – vom Antragsteller gefordert werden, kann die verfügte, auf § 11 Abs. 8 FeV gestützte Fahrerlaubnisentziehung nach der hier notwendigen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung keinen Bestand haben, weil sie eine rechtmäßige Gutachtensanforderung zur Voraussetzung hat. Demgemäß wird der hiergegen erhobene Rechtsbehelf in der Hauptsache voraussichtlich erfolgreich sein. Es besteht deshalb kein öffentliches Interesse an der Aufrechterhaltung der sofortigen Vollziehbarkeit des Bescheids vom 23. Februar 2017.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 1. März 2017 gegen die Nrn. 1 und 2 des Bescheids der Landeshauptstadt München vom 23. Februar 2017 war deshalb wiederherzustellen. Für die Nrn. 2 und 3 des Bescheids kam ein solcher Ausspruch nicht in Betracht, da der Antragsteller seinen Führerschein bereits abgegeben hat (Nr. 2) und Nr. 3 des Bescheids damit gegenstandslos geworden ist.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes – GKG – in Verbindung mit den Empfehlungen in den Nrn. 1.5 Satz 1 sowie 46.3, 46.5 und 46.9 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, Anh. § 164 Rn. 14).


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