Verwaltungsrecht

Referenzgruppe bei Anwendung der Gleitklausel

Aktenzeichen  M 3 K 18.861

Datum:
28.11.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 55915
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StO-Zahnmedizin der LMU München § 11 Abs. 3 S. 4
StPO-Humanmedizin der LMU München § 11 Abs. 6 Nr. 1 S. 2

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Bewertung der durch die Klägerin bearbeiteten Hauptklausur für Zahnmediziner der vegetativen Physiologie im Sommersemester 2017 vom 12. Juni 2017 mit der Note 5 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, die Klausur mit der Note 4 zu bewerten.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war notwendig.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Berufung wird zugelassen.  

Gründe

Die zulässige Klage ist auch begründet.
Die Bewertung der durch die Klägerin bearbeiteten Hauptklausur für Zahnmediziner der vegetativen Physiologie im Sommersemester 2017 vom 12. Juni 2017 mit der Note 5 ist rechtswidrig und verletzt die Rechte der Klägerin gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Die Klägerin hat einen Anspruch Bewertung ihrer Klausur mit der Note 4.
Streitgegenständlich ist die Bewertung der Hauptklausur für Zahnmediziner der vegetativen Physiologie, deren Bestehen für die erfolgreiche Teilnahme der in der Anlage 1 der Studienordnung für den Studiengang Zahnmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) vom 20. Mai 1994 (KWMBl II S. 533) in der Fassung der 6. Änderungssatzung vom 9. September 2009 (im Folgenden: StO-ZM) vorgeschriebenen Veranstaltungen Hauptvorlesung Vegetative Physiologie und Physiologisches Praktikum für Studierende der Zahnheilkunde erforderlich ist.
Gemäß § 11 Abs. 3 Satz 4 StO-ZM werden Art und Inhalt der Erfolgskontrolle, Bestehenskriterien sowie Termine zu Beginn der jeweiligen Lehrveranstaltung vom Kursleiter durch Anschlag, Kursordnung oder schriftliche Bekanntgabe festgesetzt. Dies ist vorliegend durch das Merkblatt „Seminar- und Praktikumsregeln“ des Praktikumsbüros der vegetativen Physiologie erfolgt. Da die Veranstaltung gemeinsam mit den Studierenden der Humanmedizin durchgeführt wird, nimmt das Merkblatt ausdrücklich lediglich auf Studierende der Humanmedizin Bezug. Aus der undatierten Stellungnahme des Kursleiters Prof. Dr. P. (Bl. 193f der Behördenakten) ergibt sich jedoch, dass in der gesamten Physiologie allen Zahnmedizinern die gleichen Bedingungen wie den Humanmedizinern gewährt werden. Insbesondere wird in diesem Zusammenhang die Anzahl der Wiederholungsmöglichkeiten der Prüfung genannt. Entgegen § 12 Abs. 1 Satz 1 StO-ZM wird den Studierenden der Zahnmedizin regelmäßig ebenso wie den Teilnehmern der Humanmedizin eine dritte Wiederholungsmöglichkeit gewährt.
Angesichts des das gesamte Prüfungsrecht beherrschenden Grundsatzes der Chancengleichheit ergibt sich aus dieser Selbstbindung der Verwaltung, dass es sich bei der streitgegenständlichen Prüfung der Klägerin trotz ihrer bereits absolvierten zwei Wiederholungsversuchen um eine entgegen dem Wortlaut des § 12 Abs. 1 Satz 1 StO-ZM zulässige und rechtmäßige dritte Wiederholungsprüfung handelte.
Ebenso ergibt sich aus der zitierten Stellungnahme des Kursleiters, dass die Studierenden der Zahnmedizin in der Prüfung 25 Fragen beantworten müssen, wobei die Bestehensgrenze wie auch bei den Studierenden der Humanmedizin bei 60% der gestellten Fragen liegt.
Im Rahmen der Festsetzung der Bestehenskriterien zu sehen ist ebenfalls die Bezugnahme in dem Merkblatt „Seminar- und Praktikumsregeln“ auf die sogenannte Gleitklausel des „§ 12 Abs. 6 Satz 1 der gültigen Studienordnung der LMU München“, die in der 1. Klausur im Sommersemester Anwendung findet. Auszulegen ist diese Formulierung dahingehend, dass dabei nur die Gleitklausel des § 11 Abs. 6 Nr. 1 Satz 2 der Prüfungs- und Studienordnung für den Studiengang Medizin an der LMU München vom 24. November 2009, zuletzt geändert am 20. September 2017 (im Folgenden: StPO-HM), gemeint sein kann. Darüber besteht auch zwischen den Parteien Einigkeit.
Danach gilt die Prüfung beim jeweils ersten zu einer Lehrveranstaltung festgesetzten Prüfungstermin (Erstprüfung) auch als bestanden, wenn die Zahl der von der oder dem zu Prüfenden zutreffend beantworteten Fragen um nicht mehr als 15 Prozent die durchschnittlichen Prüfungsleistungen der zu Prüfenden unterschreitet, die erstmals an der entsprechenden Prüfung teilgenommen haben; diese Regelung findet keine Anwendung bei einem Nachprüfungstermin nach § 12 Abs. 2 Satz 1 StPO-HM.
Unstreitig handelt es sich bei der streitgegenständlichen Prüfung der Klägerin um die Erstprüfung im Sommersemester, bei der die Gleitklausel Anwendung findet.
Der Vortrag der Beklagten, über die Höhe der Gleitklausel müsse von den Prüfenden neu nachgedacht werden, weil die einschlägigen Prüfungs- und Studienordnungen für die Zahnmedizin und die Humanmedizin divergierten, da beide schon eine unterschiedliche Zahl an Prüfungsversuchen vorsähen und über die Höhe der Gleitklausel neu nachgedacht werden müsse, je nachdem, wieviele Prüfungsversuche eingeräumt würden, widerspricht den eindeutigen Festsetzungen der Bestehenskriterien in dem Merkblatt „Seminar- und Praktikumsregeln“, bei dessen Formulierung und Anwendung den Prüfenden ausweislich der Stellungnahme von Prof. Dr. P. die Unterschiede in den Prüfungs- und Studienordnungen offensichtlich bekannt waren. Trotz dieser Kenntnis wurde die einheitliche Anwendung der Gleitklausel festgelegt.
Die Anwendung der Gleitklausel auch auf die Studierenden der Zahnmedizin, obwohl sie in deren Studienordnung nicht vorgesehen ist, macht auch insofern Sinn und ist sogar notwendig, als es sich bei der streitgegenständlichen Prüfung um eine Prüfung im Multiple-Choice-Verfahren handelt.
Welcher Anteil der Fragen richtig beantwortet werden kann, hängt bei diesem Prüfungsverfahren nicht nur von den Kenntnissen eines Kandidaten, sondern auch von der Zahl der Aufgaben und der dafür zugestandenen Zeit ab. Maßgebend ist ferner die Art der Fragestellung. Der Zeitaufwand für jede einzelne Frage ist im Antwort-Wahl-Verfahren nicht konstant; auch ein Kandidat, der das erforderliche Wissen vollkommen beherrscht, benötigt je nach dem Typ der Aufgabe verhältnismäßig viel oder wenig Zeit, um die richtigen Antworten ankreuzen zu können. Es gibt nicht nur die „Einfachauswahl“, bei der der Kandidat zu einer Frage eine einzige Antwort finden muss. Das Antwort-Wahl-Verfahren kennt vielmehr auch mehrfache Zuordnungen, kausale Verknüpfungen und Aussagenkombinationen, bei denen verschiedene Fragen auf komplizierte Weise verschränkt sind.
Diese Eigenheiten des Antwort-Wahl-Verfahrens zeigen, dass die Bestehensgrenze sich nicht allein aus einem Vomhundertsatz der geforderten Antworten ergeben darf, sondern in einem Verhältnis zu einer möglichen Höchstleistung oder zu einer Normalleistung stehen muss. Die Festlegung ist also nicht ohne Rücksicht auf einen vorgestellten Schwierigkeitsgrad möglich. Gleichgültig, ob der Normgeber einen großzügigen oder einen strengen Maßstab wählen will, stets ist ein Bezugspunkt erforderlich, der sich aus den erwarteten Leistungen ergibt und damit von der Schwierigkeit der jeweiligen Prüfung abhängt. Da es um eine generelle Regelung geht, muss auch der maßgebende Schwierigkeitsgrad generalisierend konzipiert sein. Eine starre Bestehensregel fordert für alle Prüfungstermine immer den gleichen Anteil richtiger Antworten und unterstellt damit, dass sich der Schwierigkeitsgrad aller Prüfungstermine grundsätzlich konstant halten oder doch wenigstens steuern lässt (BVerfG, B.v.14.3.1989 -1 BvR 1033/82 – juris).
Hintergrund dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und damit auch einer Gleitklausel ist es, eine Korrekturmöglichkeit dafür zu schaffen, dass bei einer zu schwierig geratenen Prüfungsaufgabe die geforderte prozentuale Anzahl richtig beantworteter Fragen von den Prüflingen objektiv nicht erbracht werden konnte.
Um die bei einer Prüfung erbringbare Prüfungsleistung festzustellen, ist grundsätzlich von der Leistung aller (im vorliegenden Fall erstmals an der Prüfung teilnehmenden) Prüflinge auszugehen.
Dies setzt allerdings voraus, dass es sich um eine einheitliche Prüfung für alle Prüflinge handelt. Diese Voraussetzung ist jedoch vorliegend nicht gegeben.
Das wird schon daraus deutlich, dass bei der Prüfung für die Studierenden der Humanmedizin die Prüflinge der Studierenden der Zahnmedizin nie als Referenzmenge herangezogen werden können, da sie mit 25 Prüfungsfragen nur einen Teil der von den Humanmedizinern zu beantwortenden 40 Prüfungsfragen zu beantworten haben. Bereits daraus ergibt sich, dass es sich nicht um eine einheitliche Gruppe von Prüflingen handelt. Es erschließt sich deshalb nicht, warum bei der Berechnung der Gleitklausel für die Studierenden der Zahnmedizin die Studierenden der Humanmedizin mit einem Teil ihrer Prüfungsfragen als Referenzmenge herangezogen werden sollte.
Die mangelnde Einheitlichkeit der Prüflingsgruppe ergibt sich weiter auch daraus, dass die Veranstaltungen, die die Grundlage der Prüfung darstellen, für Humanmediziner und Zahnmediziner völlig unterschiedlich sind. So haben die Vertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung dargestellt, dass die Studienordnung für den Studiengang Medizin aus dem Bereich der vegetativen Physiologie neben 2 Vorlesungen, die der für das 4. und 5. Fachsemester von der Studienordnung Zahnmedizin vorgesehenen „Hauptvorlesung“ entsprechen, zusätzlich darüber hinaus ein Seminar der Physiologie, das sich auf die vegetative Physiologie bezieht (wobei es sich um eine sog. Vorbesprechung zum Praktikum handelt), ein integriertes Seminar vegetative Physiologie, bei dem es um eine Nachbesprechung zum Praktikum geht, ein Seminar mit klinischem Bezug sowie das Praktikum selbst vorsieht. Alle Veranstaltungen finden vor der Hauptklausur statt.
Dies zeigt, dass den Studierenden der Humanmedizin vor der Prüfung ein wesentlich umfangreicheres Lehrprogramm zur Verfügung steht als den Studierenden der Zahnmedizin. Aus diesem umfangreicheren Lehrprogramm folgt zwangsläufig auch eine intensivere Befassung der Studierenden der Humanmedizin mit der Materie der vegetativen Physiologie.
Es kann also deshalb vorliegend nicht davon ausgegangen werden, dass, wie von der Beklagten dargestellt und wie beim Lehrimport bzw. Lehrexport regelmäßig üblich, dieselbe Lehrveranstaltung und dieselbe Prüfung den Studierenden aus zwei Studiengängen unterschiedslos angeboten wird. Vielmehr erfolgt bei den Studierenden der Humanmedizin eine intensivere Schulung. Da, wie von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung dargestellt, zudem die Fragen, die in der Hauptklausur gestellt werden, von den fünf Praktikumsleitern der jeweiligen Blöcke vorgeschlagen werden, von denen jeder acht Fragen vorbereitet, wovon fünf allen Prüflingen gestellt werden und lediglich die drei jeweils schwersten Fragen in einer gemeinsamen Sitzung gekennzeichnet und den Studierenden der Humanmedizin zusätzlich gestellt werden, ist es bei der unterschiedliche Intensität der Vorbereitung auf die Prüfung durch die unterschiedliche Anzahl der Lehrveranstaltungen, der Tatsache, dass die Lehrveranstaltungen von Humanmedizinern durchgeführt werden, die ihre Fragen zumindest auch auf die von Studierenden der Humanmedizin nach diesen Lehrveranstaltungen zu erwartenden Kenntnisse ausrichten werden, durchaus nicht ausgeschlossen, dass auch der Schwierigkeitsgrad von mehr als drei Fragen die von den Studierenden der Zahnmedizin nach Darstellung der Beklagten verlangten basalen Kenntnisse übersteigt und deshalb lediglich für die umfangreicher ausgebildeten Studierenden der Humanmedizin basale Kenntnisse darstellen.
Dass diese Möglichkeit nicht abwegig ist zeigt sich auch aus der undatierten Stellungnahme von Prof. Dr. P. im Rahmen des Widerspruchsverfahrens, in der dieser auf die „chronisch schlechteren Studienleistungen der Zahnmediziner“ verweist und darüber hinaus darstellt, dass in der in Frage stehenden Klausur „die bewussten 25 Fragen von den Humanmedizinern signifikant besser beantwortet wurden als von den Zahnmedizinern“. Der von Prof. Dr. P. aus der letzten Feststellung gezogene Schluss, von einer besonderen Schwierigkeit dieser Fragen sei also nicht auszugehen, kann also in vollem Umfang lediglich mit dem Zusatz „für die geprüften Studierenden der Humanmedizin“ bejaht werden.
Andere schlüssige und nachvollziehbare Gründe für die offensichtlich schon länger beobachteten Leistungsunterschiede zwischen Zahnmedizinern und Humanmedizinern drängen sich zumindest auf den ersten Blick nicht auf.
Aus den dargestellten Unterschieden folgt für das Gericht, dass es sich bei der streitgegenständlichen Prüfung eben gerade nicht um den an der Beklagten üblichen und normalen Fall von Lehrexport bzw. Lehrimport handelt, wobei ein und dieselbe Lehrveranstaltung Studierenden unterschiedlicher Studiengänge angeboten wird, die dann zu dieser Lehrveranstaltung eine einheitliche Prüfung abzulegen haben.
Nachdem zudem gerade die Anwendung der Gleitklausel den Sinn hat, die Auswirkungen von eventuell zu schwierig geratenen Prüfungsfragen aufgrund absoluter Bestehensgrenzen zu relativieren, es zumindest bei der streitgegenständlichen Prüfung aus den dargestellten Gründen und Umständen nicht ausgeschlossen ist, dass der zu hohe Schwierigkeitsgrad nur einen eindeutig abgrenzbaren Teil der Prüflinge betrifft und diese Umstände nicht auf zufälligen Gegebenheiten beruhen, sondern dem vorliegenden Lehr- und Prüfungssystem immanent sind, ist es hier angezeigt, bei der Berechnung der Gleitklausel nur die Gruppe der geprüften Studierenden der Zahnmedizin heranzuziehen, die erstmals an der Prüfung teilgenommen haben.
Diese Gruppe hat bei der Prüfung im Durchschnitt 14,7614 Punkte erzielt. 15% davon sind 2,2142. 14,7614 – 2,2142 = 12,5472 Punkte. Die Klägerin hat somit mit den von ihr erzielten 14 Punkten um nicht mehr als 15 Prozent die durchschnittlichen Prüfungsleistungen der zu Prüfenden unterschritten, die erstmals an der entsprechenden Prüfung teilgenommen haben. Damit gilt ihre Prüfung gemäß § 11 Abs. 6 Nr. 1 Satz 2 StPO-HM als bestanden.
Der Klage war somit mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war antragsgemäß gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO für notwendig zu erklären, da sie vom Standpunkt einer verständigen, nicht rechtskundigen Partei für erforderlich gehalten werden durfte und es der Klägerin nicht zumutbar war, das Verfahren selbst zu führen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO.
Wegen grundsätzlicher Bedeutung der Angelegenheit war die Berufung gemäß § 131 Abs. 3 Nr. 1 VwGO zuzulassen.


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