Verwaltungsrecht

Rückkehr der in familiärer Gemeinschaft lebenden Kernfamilie als Regelfall bei Gefahrenprognose – Asylrecht (Sierra Leone)

Aktenzeichen  9 ZB 20.31381

Datum:
22.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 20615
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1, § 60a Abs. 2
EMRK Art. 8
GG Art. 6

 

Leitsatz

1. Für die Prognose der bei einer Rückkehr drohenden Gefahren bei realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation ist im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kleinfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) im Familienverband in ihr Herkunftsland zurückkehren. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Begriff der familiären Lebensgemeinschaft erfordert nicht unbedingt eine häusliche Gemeinschaft. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 4 K 18.31411 2020-06-17 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
1. Die Berufung ist nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG).
Die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass eine konkrete noch nicht geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage aufgeworfen wird, deren Beantwortung sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird und die über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder für die Weiterentwicklung des Rechts hat. Zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes ist eine Frage auszuformulieren und substantiiert anzuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird (vgl. BayVGH, B.v. 22.10.2019 – 9 ZB 18.30670 – juris Rn. 3 m.w.N.).
a) Dem wird das Zulassungsvorbringen, mit dem schon keine Frage formuliert wird, nicht gerecht, auch soweit man ihm entnehmen kann, dass es der Klägerin darum geht, zu klären, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen der Prüfung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG von einer gemeinsamen Rückkehr des Familienverbandes ausgehen durfte, obwohl ihr Lebensgefährte bzw. der Vater ihres Kindes, dessen Asylverfahren nach einem am 25. Februar 2019 ergangenen klageabweisenden Gerichtsbescheid rechtskräftig abgeschlossen ist, aufgrund unterschiedlicher Zuweisungsentscheidungen nicht in einer gemeinsamen Unterkunft mit der Klägerin und dem gemeinsamen Kind lebt. Denn daraus ergibt sich vorliegend nicht die Darlegung eines über den Einzelfall hinausgehenden grundsätzlichen Klärungsbedürfnisses. Es ist in der Rechtsprechung bereits geklärt, dass für die Prognose der bei einer Rückkehr drohenden Gefahren bei realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation im Regelfall davon auszugehen ist, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) im Familienverband in ihr Herkunftsland zurückkehren (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 17). Demnach ist für die Bestimmung der voraussichtlichen Rückkehrsituation im Grundsatz davon auszugehen, dass ein nach Art. 6 GG/Art. 8 EMRK besonders schutzwürdiger Familienverband aus Eltern mit ihren minderjährigen Kindern nicht aufgelöst oder gar durch staatliche Maßnahmen zwangsweise getrennt wird. Die Mitglieder eines solchen Familienverbandes werden im Regelfall auch tatsächlich bestrebt sein, ihr – grundrechtlich geschütztes – familiäres Zusammenleben in einem Schutz- und Beistandsverband entweder im Bundesgebiet oder im Herkunftsland fortzusetzen
(BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – a.a.O.). Weiter ist geklärt, dass der Begriff der familiären Lebensgemeinschaft nicht unbedingt eine häusliche Gemeinschaft erfordert (BVerwG, U.v. 9.12.1997 – 1 C 19.96 – juris Rn. 22); es muss deshalb bei anderweitiger Wohnsitznahme eines Familienmitglieds respektive Elternteils kein Fall vorliegen, bei dem die familiäre Lebensgemeinschaft bzw. der daran geknüpfte Regelfall einer gemeinsamen Rückkehr des Familienverbands nicht (mehr) vorliegt (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 23). Darüber hinaus ist geklärt, dass bei der Gefahrenprognose eine dem Einzelfall entsprechende, realitätsgerechte Sichtweise zugrunde zu legen ist, indem zum Zeitpunkt der Entscheidung des Tatsachengerichts gegebene Umstände und absehbare Entwicklungen berücksichtigt werden; diese sind keiner allgemeingültigen Klärung zugänglich (BayVGH, B.v. 19.9.2019 – 15 ZB 19.33171 – juris Rn. 13 m.w.N.).
Das Verwaltungsgericht ist unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Juli 2019 (Az. 1 C 45.18 – juris Leitsätze 2 und 3), davon ausgegangen, dass die Klägerin, die von ihrem Lebensgefährten erneut schwanger ist, gemeinsam mit diesem und ihrer gemeinsamen Tochter nach Sierra Leone zurückkehren wird. Es hat dabei eine gefestigte Lebensgemeinschaft bejaht und dem Umstand, dass der Lebensgefährte und Vater in eine andere Unterkunft umverteilt wurde, somit nicht aus eigenem Antrieb anderweitig verzogen ist, im Hinblick auf das Fortbestehen dieser Lebensgemeinschaft keine Bedeutung beigemessen. Vielmehr hat es darauf abgestellt, dass regelmäßiger Kontakt bestehe und sich der Lebensgefährte und Vater weiterhin um die Klägerin und die gemeinsame Tochter sorge. Auch bei der mündlichen Verhandlung der Klägerin sei er anwesend gewesen. Das Verwaltungsgericht ist folglich trotz der unterschiedlichen Wohnsitze im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im vorliegenden Einzelfall von einer familiären Gemeinschaft bzw. „gelebten“ Kernfamilie ausgegangen, die bereits im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft (fort-)besteht und dementsprechend eine Prognose, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden, rechtfertigt (vgl. BVerwG, U.v. 4. Juli 2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 18).
Dem setzt die Klägerin auch mit ihrem Vorbringen, dass der Lebensgefährte und Vater ihres Kindes mangels Arbeitserlaubnis keinen Unterhalt leisten könne, der deutsche Staat, indem er der Familie nicht gestatte, zusammenzuleben, eine auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft nicht anerkenne und keine Zusage der Ausländerbehörde existiere, wonach der ausreisepflichtige Lebensgefährte und Vater nicht ohne Klägerin und Kind abgeschoben werden würde, nichts entgegen, woraus sich eine grundsätzliche Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Fragestellung ableiten lassen würde. Soweit die Klägerin zum Ausdruck bringen will, dass wegen des Fehlens eines gemeinsamen Wohnsitzes aller Familienangehörigen drohe, getrennt voneinander abgeschoben zu werden, ist abgesehen davon, dass nicht vorgetragen worden ist, dass ein Bemühen um Umverteilung aus familiären Gründen erfolglos verlaufen wäre, darauf hinzuweisen, dass die (inlands- und einzelfallbezogene) Frage, ob die mit einer Durchführung der Abschiebung einhergehende Trennung der Familie im Lichte von Art. 6 GG zulässig ist, auch von der Ausländerbehörde im Rahmen der ihr obliegenden Prüfung etwaiger Vollstreckungshindernisse nach § 60a Abs. 2 AufenthG zu entscheiden ist; diese hat hierbei auch die weiteren (mittelbaren) Folgen der Trennung im Abschiebungszielstaat – etwa eine drohende Existenzgefährdung – zu berücksichtigen (vgl. BayVGH, B.v. 19.9.2019 – 15 ZB 19.33171 – juris Rn. 13).
2. Für den Fall, dass mit dem Zulassungsvorbringen auch noch ein allerdings nicht ausdrücklich geltend gemachter Verfahrensmangel in Form einer Gehörsverletzung (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG, § 138 Nr. 3 VwGO) damit begründet werden soll, dass das Verwaltungsgericht nicht auf die Rückkehrern aus Europa drohenden Gefahren aufgrund der Covid 19-Pandemie eingegangen sei, zu denen Erkenntnismittel vorgelegt worden seien und obwohl die Klägerin vorgetragen habe, dass sich sogar die eigene Familie in Sierra Leone aufgrund der Traumatisierung durch die Ebola-Epidemie weigern würde, die Klägerin und ihre Kinder aufzunehmen, ist schon die Entscheidungserheblichkeit nicht ausreichend dargelegt. Das Verwaltungsgericht ist von einer Rückkehr mit dem Lebensgefährten und Vater des gemeinsamen Kindes und nicht davon ausgegangen, dass die Klägerin auf die Unterstützung durch andere Familienmitglieder angewiesen sein wird. Darüber hinaus hat es sich mit der Befürchtung der Klägerin, dass Rückkehrer aus Europa wegen der Corona-Pandemie Repressionen ausgesetzt seien, auseinandergesetzt und diese als nicht gerechtfertigt angesehen. Es sei schon nicht erkennbar, dass die Klägerin als Rückkehrerin identifiziert werden könne, zudem sei angesichts der Infektionslage in Sierra Leone keine pauschale Ausgrenzung der Klägerin, ihres Lebensgefährten und ihrer Kinder anzunehmen. Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht (Art. 103 Abs. 1 GG) sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere, dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (vgl. BayVGH, B.v. 27.3.2018 – 9 ZB 18.30057 – juris Rn. 21 m.w.N.). Dem ist das Verwaltungsgericht nachgekommen. Der Kläger hat auch sonst keine gravierenden Verstöße gegen die Grundsätze der Beweiswürdigung dargelegt. Letztlich hält die Klägerin die von dem Verwaltungsgericht vorgenommene Sachverhalts- und Beweiswürdigung für falsch. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils sind nach § 78 Abs. 3 AsylG jedoch kein Grund für die Zulassung der Berufung (BayVGH, B.v. 29.6.2018 – 9 ZB 18.31509 – juris Rn. 9).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
Mit der Ablehnung des nach § 80 AsylG unanfechtbaren Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben