Verwaltungsrecht

Rückkehr im Familienverbund

Aktenzeichen  B 7 K 20.31206

Datum:
25.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 13058
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 6
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
AsylG § 3, § 4
VwVfG § 51

 

Leitsatz

1. Die im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG anzustellende Rückkehrprognose umfasst die Kernfamilie eines Ausländers im Hinblick darauf, ob die materiellen Bedürfnisse der Familie eine Unterschreitung des Existenzminimums für den Kläger selbst befürchten lassen. (Rn. 31)
2. Bei der Beurteilung der materiellen Bedürfnisse der Kernfamilie ist ein erhöhter Aufwand z.B. für die medizinische Versorgung eines Familienmitglieds nur zu berücksichtigen, wenn er aufgrund seiner Dauerhaftigkeit oder seines Umfangs von so großem Gewicht ist, dass er sich auf den existenziellen Bedarf der Familie spürbar auswirkt. (Rn. 31)
3. Die gebotene Berücksichtigung der Kernfamilie im Rahmen der Rückkehrprognose reicht nicht so weit, dass das Gericht den etwaigen Mehrbedarf eines anderen Familienmitglieds vollständig ausermitteln müsste. (Rn. 31)
4. Aus der hypothetischen Rückkehr der Kernfamilie lässt sich mit dem Argument, dass Verelendung oder Tod eines anderen Familienmitglieds für den Kläger aufgrund seiner emotionalen Familiären Verbundenheit eine „unmenschliche Behandlung“ i.S.d. Art. 3 EMRK sei, kein Abschiebungsverbot herleiten. Würde man einen solchen „emotionalen Reflex“ der einem anderen Familienmitglied drohenden Gefahr genügen lassen, würde dies faktisch zu einem „Familienabschiebungsverbot“ führen, dass dem nationalen Recht fremd ist. (Rn. 33)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

1. Über die Klage konnte verhandelt und entschieden werden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat. Hierauf wurde in der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 VwGO).
2. Die Klage ist zulässig, aber unbegründet und bleibt daher ohne Erfolg. Die Ablehnung des Folgeantrags als unzulässig ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO (dazu unter lit. a). Der Kläger hat darüber hinaus keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO (dazu unter lit. b). Maßgeblicher Zeitpunkt ist gem. § 77 Abs. 1 AsylG die mündliche Verhandlung. Das Gericht nimmt zunächst Bezug auf die Bescheidsgründe und macht diese zum Bestandteil der Entscheidung (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend ist das Folgende auszuführen:
a) Nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist im Fall der Stellung eines erneuten Asylantrags nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags (Folgeantrag) ein weiteres Asylverfahren nur dann durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Diese Vorschrift verlangt, dass sich die der Erstentscheidung zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Asylbewerbers geändert hat (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), neue Beweismittel vorliegen, die eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG) oder Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG).
Gemessen daran hat das Bundesamt den Asylfolgeantrag zurecht als unzulässig abgelehnt, da Wiederaufgreifensgründe nicht ersichtlich sind. Insbesondere ist auch der sog. Tigray-Konflikt zwischen der Zentralregierung und der tigrinischen Volksbefreiungsfront (TPLF) nicht geeignet, eine für den Kläger günstigere Entscheidung zu begründen. Dieser Konflikt entwickelte sich Ende Oktober und hatte seinen Ursprung wohl im Überfall der TPLF auf ein Militärlager der Zentralregierung (vgl. https://www.tagesschau.de/ausland/aethiopien-161.html). Die seitherigen Entwicklungen zeigen aber auf, dass der Konflikt sich augenscheinlich auf die Region Tigray beschränkt. Gegenstand des Konfliktes sind ausschließlich tigrinische Unabhängigkeitsbestrebungen. Es liegen aber gerade keine Anhaltspunkte dafür vor, dass auch Angehörige anderer äthiopischer Völker von dem Konflikt unmittelbar betroffen wären. Auch eine weit über Tigray hinausreichende humanitäre Notsituation ist nicht ersichtlich. Insofern erschließt sich nicht, weshalb aus dem genannten Konflikt eine Verfolgungsgefahr für den Kläger resultieren sollte. Der Kläger gehört der Volksgruppe der Oromo an, deren Verwaltungsregion aber an keiner Stelle auch nur an Tigray angrenzt, und die in den Konflikt nicht integriert ist. Daher ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger von den Auseinandersetzungen in Tigray unmittelbar betroffen wäre.
Auch aus der allgemeinen Lage der Oromo ergibt sich kein Wiederaufnahmegrund. Denn für eine jederzeitige und landesweite Verfolgung der Oromo – immerhin die größte Bevölkerungsgruppe des Landes – in der notwendigen Dichte fehlt es ersichtlich an Anhaltspunkten. Auch wenn das Gericht nicht verkennt, dass es immer wieder zu vereinzelten (teils auch gewaltsamen) Vorfällen kommt, kann eine Gruppenverfolgung, auf die sich der Kläger berufen könnte, jedenfalls nicht angenommen werden.
b) Der Kläger hat nach den Umständen des Einzelfalls auch keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten.
aa) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG ergibt sich für den Kläger insbesondere aus der COVID-19-Pandemie nicht.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Gewährung von Abschiebungsschutz nach dieser Bestimmung setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer dagegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG, wird Abschiebeschutz ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt. Fehlt eine politische Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG, kann ein Ausländer im Hinblick auf die (allgemeinen) Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, ausnahmsweise Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Nach diesem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad muss eine Abschiebung dann ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – juris). Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 29.9.2011 – 10 C 24.10 – juris; BayVGH, U.v. 12.12.2019 – 8 B 19.31004 – juris; VG Würzburg, GB v. 11.5.2020 – 8 K 20.50114 – juris).
Die allgemein unsichere oder wirtschaftlich schlechte Lage im Zielstaat infolge von Hungersnöten, Naturkatastrophen oder Epidemien – und damit auch die Verbreitung des Corona-Virus bzw. die massive Ausbreitung der Heuschrecken in Äthiopien – begründet nur Gefahren allgemeiner Art nach § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG, weil ihr die gesamte Bevölkerung oder eine ganze Bevölkerungsgruppe des betroffenen Landes (wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß) ausgesetzt ist (vgl. Kluth/Heusch in: BeckOK AuslR, § 60 AufenthG, Rn. 38 ff., 45).
Es ist für das Gericht auch nicht ersichtlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Äthiopien einer Extremgefahr im vorstehenden Sinne, die die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung einschränken könnte, ausgesetzt wäre. Denn das Risiko, an COVID-19 zu erkranken, ist in Anbetracht der derzeitigen Infektionszahlen (vgl. Johns-Hopkins-Universität) im Verhältnis zur Gesamtbevölkerungszahl Äthiopiens eher mäßig – auch wenn man von einer hohen Dunkelziffer ausgeht. Noch erheblich unwahrscheinlicher ist es, dass – im Falle einer Infektion – der Kläger zu dem niedrigen Prozentsatz gehört, bei denen die Krankheit sehr schwer oder gar tödlich verläuft. Der Kläger ist augenscheinlich gesund, ohne Vorerkrankungen und gehört angesichts seines Alters nicht zu den am meisten gefährdeten Risikogruppen. Lediglich ergänzend sei angefügt, dass das Ansteckungsrisiko angesichts der derzeitigen Infektionszahlen in Deutschland als erheblich höher zu gewichten sein dürfte als in Äthiopien.
Daneben gibt es keine belastbaren Hinweise darauf, dass die Versorgungslage in Äthiopien – auch unter Berücksichtigung gewisser Einschränkungen und Verschärfungen durch die Corona-Pandemie und die Heuschreckenplage – gegenwärtig derart desolat wäre, dass dem Kläger dort der Hungertod oder schwerste Gesundheitsschäden in Folge von Mangelernährung drohten (vgl. hierzu https://www.dw.com/de/heuschrecken-die-panafrikanische-plage/a-55373259/).
Das Gericht verkennt dabei nicht, dass das Aufeinandertreffen von Heuschreckenschwärmen und der COVID-19-Pandemie zu einer dynamischen Lageentwicklung in Äthiopien beiträgt, die aufmerksam beobachtet werden muss. Die potentiell möglichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen wurden teilweise durchaus kritisch eingeschätzt (vgl. z.B. Manek/Meckelburg, in: „Aus Politik und Zeitgeschichte“ vom 24.04.2020; https://qz.com/africa/ 1857046/locust-swarms-still-coming-to-east-africa-yemen-but-gains-made/). Jedoch haben sich diese Prognosen bislang nicht bewahrheitet. Es ergibt sich aus aktuellen Quellen nicht, dass sich zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung die wirtschaftliche Lage tatsächlich gravierend verschlechtert hätte. Aus der Quellenlage lässt sich lediglich ersehen, dass eine Verschlechterung in Folge der Heuschrecken und der COVID-19-Pandemie potentiell eintreten könnte – freilich ohne dass sich daraus bereits eine rechtliche Einordnung der befürchteten künftigen Lage vornehmen ließe. Dabei ist nicht zuletzt zu würdigen, dass bereits über 117 Mio. Dollar an Hilfsgeldern allein von deutscher Seite geleistet wurden. Die äthiopische Wirtschaft ist anscheinend nach wie vor widerstandsfähig und intakt (https://allafrica.com/stories/202010271018.html). Der äthiopische Staat ist zudem weder hinsichtlich der Heuschrecken noch der COVID-19-Pandemie untätig (vgl. https:// www. africanews.com, Rubrik: ethiopia-coronavirus-covid19-hub-updates/); https:// reliefweb. int/ report/ ethiopia/ ethiopia-covid-19-humanitarian-impact-situation-update-no-12-2-september-2020) – wie sich beide Faktoren im weiteren Verlauf der Pandemie entwickeln werden, ob und wie die von der äthiopischen Regierung getroffenen Maßnahmen fruchten und was internationale Hilfsprogramme bewirken werden, lässt sich nicht absehen und ist angesichts des allein maßgeblichen Zeitpunkts der mündlichen Verhandlung auch letztlich nicht ausschlaggebend.
bb) Dem Kläger steht auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu. Die Voraussetzungen der Norm sind weder im Hinblick auf die Versorgungsbedürftigkeit seines frühgeborenen Sohnes erfüllt (dazu unter (1)), noch im Hinblick auf die Möglichkeit der Existenzsicherung in Anbetracht der COVID-19-Pandemie und der grassierenden Heuschreckenplage (dazu unter (2)).
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Insbesondere darf gemäß Art. 3 EMRK niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Bei der Prüfung eines Abschiebungsverbotes aus humanitären Gründen im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG ist ein sehr hohes Niveau anzulegen und eine besondere Ausnahmesituation erforderlich. Nur in ganz außergewöhnlichen Fällen, nämlich wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung „zwingend“ sind, liegen die Voraussetzungen des Art. 60 Abs. 5 AufenthG vor (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris m.w.N.; BayVGH, U.v. 12.12.2019 – 8 B 19.31004 – juris m.w.N.; BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – juris).
Der Prognose, ob dem Ausländer bei Rückkehr in den Herkunftsstaat existenzielle Gefahren drohen, ist eine zwar notwendig hypothetische, aber doch realitätsnahe Rückkehrsituation zugrunde zu legen. Lebt der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie, ist hiernach für die Bildung der Verfolgungsprognose der hypothetische Aufenthalt des Ausländers im Herkunftsland in Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern dieser Kernfamilie zu unterstellen. Hintergrund dessen ist, dass bei bestehender familiärer Gemeinschaft im Regelfall davon auszugehen ist, dass sich der einzelne Rückkehrer nicht nur in der verfassungsrechtlich gestützten Rechtspflicht zur Unterhaltsgewähr und Versorgung, sondern auch in einer entsprechenden sittlich moralischen Pflicht sieht. Bei der Rückkehr im Familienverband, bei der lediglich ein Familienmitglied sein eigenes Existenzminimum (notdürftig) sichern könnte, nicht aber dasjenige seiner Angehörigen, steht dieses vor der Alternative, entweder unter Verletzung seiner Familienobliegenheiten zunächst vollständig seine eigene Existenz (hinreichend) zu sichern und dafür auch die tatsächliche Existenzgefährdung oder eine konventionswidrige Situation der von ihm abhängigen Angehörigen in Kauf zu nehmen oder unter dem Eindruck der in ihrer Existenz gefährdeten Familienmitglieder auf die hinreichende Sicherung der eigenen Existenz durch „Teilen“ mit Familienangehörigen auch dann zu verzichten, wenn dies zu einer konkret drohenden Verletzung von Leib, Leben oder der Freiheit der eigenen Person führt. Art. 6 GG/Art. 8 EMRK schützen jedenfalls normativ die – für die Rückkehrprognose naheliegende – Entscheidung eines Elternteils, auf die Erfüllung grundlegender familiärer Solidarpflichten auch dann nicht zugunsten der eigenen Existenzsicherung zu verzichten, wenn damit das eigene Existenzminimum unterschritten und für die eigene Person eine mit Art. 3 EMRK unvereinbare Lage herbeigeführt wird.
Die Unterschreitung auch des eigenen Existenzminimums, die in der Familiensituation aus der existenziellen Notlage für jedes einzelne Familienmitglied folgt, bewirkt jedoch nicht, dass lediglich das Schutzbedürfnis eines nahen Familienangehörigen zu einer eigenen Rechtsposition des Ausländers führt. Bei nationalem Abschiebungsschutz sind nur dem einzelnen drohende Gefahren erheblich, nicht Gefahren, die Dritten drohen (vgl. zum Ganzen BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 unter Verweis auf U.v. 16.6.2004 – 1 C 27/03 – beide juris). Die hypothetische Rückkehr im Familienverbund ist daher stets – und das ist maßgeblich – im Hinblick darauf zu betrachten, welche Wirkungen sich auf den jeweiligen Kläger ergeben.
(1) Daran gemessen ergibt sich aus dem gegenwärtig wohl noch erheblichen medizinischen und sonstigen Betreuungsbedarf für den am … 2020 geborenen jüngsten Sohn des Klägers – einer Extremfrühgeburt in der 25. Schwangerschaftswoche – kein Abschiebungsverbot für den Kläger.
Der Kläger hat dem Gericht in der mündlichen Verhandlung glaubhaft geschildert und durch verschiedene Arztberichte belegt, dass sein jüngster Sohn infolge der Frühgeburt derzeit z.B. regelmäßig beatmet werden muss, häufig beim Arzt und in der Klinik vorgestellt wird, insgesamt sehr verletzlich ist und extrem viel Fürsorge braucht. Er hat ebenso nachvollziehbar geschildert, welche Belastung dies für die Eltern – gerade die Mutter – und auch die beiden Geschwisterkinder aktuell darstellt. Die Behandlungsbedürftigkeit des Frühchens muss aber nicht im Asylverfahren des Vaters, sondern des Kindes selbst weiter aufgeklärt und berücksichtigt werden. Eine mögliche Gefährdung des Kindes kann nach BVerwG, U.v. 16.6.2014 – 1 C 27/03 grundsätzlich kein Abschiebungshindernis für die Eltern begründen. An dieser Systematik hat das BVerwG bei seiner Entscheidung zur gemeinsamen Rückkehrprognose ausdrücklich festgehalten (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris Rn. 27 a.E.).
Die systematische Trennung zwischen der Prüfung von Abschiebungsverboten des Kindes und denen des Vaters steht auch nicht in Widerspruch zum Einbezug der Kernfamilie in die Rückkehrprognose. Denn die gemeinsame Rückkehrprognose hat in erster Linie den Zweck, den materiellen Gesamtbedarf der Familie daraufhin zu betrachten, ob nach den jeweiligen Erwerbs- und Unterstützungsmöglichkeiten für den Kläger selbst eine Unterschreitung des Existenzminimums droht. Dort wäre zwar „einzupreisen“, wenn bereits zum Zeitpunkt der hiesigen Entscheidung absehbar wäre, dass die Versorgung des jüngsten Kindes einen erhöhten (finanziellen oder zeitlichen) Aufwand für die Kernfamilie verursacht, der sich wiederum auf die Möglichkeit der Existenzsicherung für den Kläger selbst auswirken könnte, sei es durch fortlaufende Kosten oder den Ausfall einer mit der Betreuung des Kindes befassten Erwerbsperson. Dieser Aufwand müsste zudem entweder aufgrund seiner Dauer oder weil er Kosten in hohem Maße verursacht, ein so großes Gewicht besitzen, dass er sich auf den existenziellen Bedarf der Kernfamilie spürbar auswirkt. So liegt es hier jedoch nicht. Zwar besteht aktuell wohl großer Behandlungs- und Fürsorgebedarf, jedoch besteht ausweislich der ärztlichen Bescheinigung vom 19.11.2020 (Bl. 92 d. Gerichtsakte) durchaus die Möglichkeit, dass sich das Kind in wenigen Monaten stabil zu einem gesunden Kleinkind entwickelt, sodass in absehbarer Zeit keine besonderen medizinischen und hygienischen Vorgaben mehr zu beachten sind. Die aktuelle Verletzlichkeit ist der nur wenige Monate zurückliegenden Frühgeburt geschuldet, jedoch aller Voraussicht nach kein Zustand, der von Dauer wäre, geschweige denn, dass bereits absehbar wäre, ob und welche medizinische Behandlung das Kind künftig noch benötigen wird.
Nähere Informationen dazu brauchte das Gericht nicht einzuholen. Es liegt im Verantwortungsbereich des Klägers, konkret darzulegen, ob und in welchem Maße seine eigene Existenzsicherung von den Bedürfnissen des Kindes betroffen ist. Die gebotene Berücksichtigung der Kernfamilie im Rahmen der Rückkehrprognose reicht nicht so weit, dass eine vollständige Inzidenzprüfung der dauerhaften gesundheitlichen Bedürfnisse des Kindes im Rahmen des Asylverfahrens des Vaters erfolgen müsste, womit ein Vorgriff auf das Asylverfahren des Kindes selbst erfolgen würde. Liegt bei einem Kind ein (insbesondere gesundheitsbedingtes) Abschiebungshindernis vor, so kann und muss dies in einem gesonderten Verfahren für das Kind geltend gemacht und dort auch aufgeklärt werden. Das Gericht muss in die Rückkehrprognose lediglich die im maßgeblichen Zeitpunkt (hier der mündlichen Verhandlung) bereits vorliegenden Erkenntnisse dazu einbeziehen.
Wie ausgeführt, erfolgt die gemeinsame Rückkehrprognose der Kernfamilie primär im Hinblick auf die Möglichkeit der Existenzsicherung in materieller Hinsicht. Anders als bei der Frage der Existenzsicherung besteht hinsichtlich der gesundheitlichen Situation des Frühgeborenen keine familieninterne Konkurrenzsituation, in der durch eine Übernahme der Lasten aufgrund familiärer Verbundenheit die Gefahr der Verelendung von dem Kind auf den Vater übergehen könnte. Aus dem Aspekt, dass bei einer hypothetischen gemeinsamen Rückkehr der Kernfamilie das jüngste Kind derzeit u.U. sogar versterben könnte, lässt sich auch mit dem Argument, dass der Tod des Kindes für den Vater aufgrund seiner emotionalen und sozialen Bindung zu dem Kind eine „unmenschliche Behandlung“ i.S.d. Art. 3 EMRK darstellen würde, kein Abschiebungsverbot ableiten. Eine solche Betrachtung der gemeinsamen Rückkehrhypothese würde letztlich dazu führen, dass de facto alle Familienmitglieder aus der „emotionalen Reflektion“ der Verelendung eines Familienmitglieds ein Abschiebungsverbot für sich ableiten könnten. Daraus würde faktisch ein Familienabschiebungsschutz resultieren, den das nationale Recht aber gerade nicht kennt und der der oben dargestellten Systematik, Abschiebungsschutz nur auf die einzelne Person bezogen zu gewähren, auch nicht entspricht (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris – Rn. 14). Vor diesem Hintergrund muss sich der Einbezug der Kernfamilie im Rahmen der Rückkehrprognose auf die Frage der materiellen Existenzsicherung beschränken. Die richtungsweisende Entscheidung des BVerwG hierzu bezog sich ausschließlich auf diesen Aspekt und hatte nicht zuletzt auch zum Ziel, systematische Unstimmigkeiten bei einer strikt getrennten Betrachtung einzelner Familienmitglieder abzumildern (BVerwG, aaO Rn. 22). Dem Duktus der Entscheidung ist jedoch deutlich zu entnehmen, dass eine darüberhinausgehende Abweichung von der personenbezogenen Prüfung der Abschiebungsverbote nicht beabsichtigt war.
Eine Ausdehnung über den „wirtschaftlichen“ Aspekt hinaus ist auch im Lichte von Art. 6 GG nicht geboten. Denn die besondere emotionale und soziale Bindung innerhalb der Kernfamilie und das damit einhergehende Interesse am Wohlergehen aller Familienmitglieder findet in der Entscheidung der Ausländerbehörde über den Vollzug der Abschiebung hinreichend Berücksichtigung. Würde ein Abschiebungshindernis für das jüngste Kind des Klägers festgestellt werden – nach Angaben des Klägerbevollmächtigten wird der Asylantrag des Kindes derzeit vom Bundesamt geprüft -, wäre dies von der Ausländerbehörde bei ihrer Entscheidung über den Vollzug der Abschiebung des Klägers und seiner Familie freilich zu beachten. Der Schutz der Familieneinheit nach Art. 6 Abs. 1 GG wäre dann ein wesentlicher Gesichtspunkt, der der Abschiebung des Klägers entgegenstehen könnte (vgl. BVerwG, U.v. 16.6.2004 – 1 C 27/03 – juris Rn. 9). Solange das frühgeborene Kind nicht stabil entwickelt ist und intensiver (medizinischer) Betreuung bedarf, wird eine Abschiebung der Familie höchstwahrscheinlich ohnehin nicht erfolgen. Damit wird dem verfassungsrechtlich gebotenen Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG genügt.
(2) Trotz der gegenwärtig schwierigen Bedingungen in Äthiopien ist davon auszugehen, dass der Kläger und seine Familie im Falle einer Rückkehr über das notwendige Existenzminimum verfügen würden.
Hinsichtlich der Verschärfung der Situation gerade infolge der Corona-Pandemie und der Heuschreckenplage ist nach Auffassung des Gerichts zunächst davon auszugehen, dass § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG bezüglich allgemeiner Gefahren aufgrund der unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat als lex specialis anzusehen ist und daher insoweit auch im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG Sperrwirkung entfaltet. Bei den nationalen Abschiebungsverboten im Sinne des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG handelt es sich nämlich um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – juris; BayVGH, U.v. 21.11.20104 – 13a B 14.30284 – juris). Eine zusätzliche Würdigung allgemeiner Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit im Zielstaat der Abschiebung im Rahmen und am Maßstab des § 60 Abs. 5 AufenthG würde die gesetzgeberischen Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot bei allgemeinen Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit konterkarieren (so auch BayVGH, B.v. 06.05.2020 – 23 ZB 20.30943 – im Hinblick auf das Verhältnis von § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c AufenthG zu § 60 Abs. 5 AufenthG bei der Geltendmachung gesundheitlicher Gründe).
Letztlich kann aber dahinstehen, ob die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG auch im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG greift. Selbst, wenn man der Auffassung folgt, dass der Schutzbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG auch bei einer allgemeinen Gefahrenlage, insbesondere bei einer schlechten allgemeinen Situation mit unzumutbaren Lebensbedingungen eröffnet sein soll, da schon von der Gesetzessystematik her der Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG nicht herangezogen werden könne (so BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – juris), ist – wie oben ausgeführt – im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG jedenfalls ein sehr hohes Gefahrenniveau anzulegen, das im Falle des Klägers und seiner Familie nicht erreicht wird. Auf die obigen Ausführungen zu § 60 Abs. 7 AufenthG wird insoweit verwiesen. Obwohl im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG nicht der Maßstab der „Extremgefahr“ anzulegen ist, handelt es sich aufgrund der obigen Erwägungen zu § 60 Abs. 7 AufenthG beim hiesigen Kläger für den Fall der Rückkehr jedenfalls nicht um einen ganz außergewöhnlichen Fall, in dem humanitäre Gründe der Abschiebung zwingend entgegenstehen. Die Existenzsicherung sollte dem Kläger auch dann möglich sein, wenn er mit seiner Frau und den drei gemeinsamen Kindern nach Äthiopien zurückkehrt. Der Kläger selbst ist jung, gesund und erwerbsfähig. Er hat nach Angaben beim Bundesamt im Rahmen seines Asylverfahrens die Schule bis zur 9. Klasse besucht. Zwar hat er – wie in Äthiopien üblich – keine spezifische Berufsausbildung absolviert, er ist aber arbeitsfähig und arbeitswillig. Auf der Flucht ist es ihm gelungen, in sämtlichen Drittländern seinen Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu sichern. In Sudan hat der Kläger Tee und Brötchen verkauft und auf der Baustelle gearbeitet. In Libyen war er als Schafhirte tätig. Auch in Deutschland hat er nach eigenen Angaben von 2015 bis 2017 gearbeitet und hat sich in der mündlichen Verhandlung weiter arbeitswillig geäußert. Von daher ist nicht ersichtlich, dass er in Äthiopien keine existenzsichernde Tätigkeit aufnehmen könnte. Insoweit ist der Kläger auch auf schlichte Hilfstätigkeiten zu verweisen. Selbst ohne verwandtschaftlichen Rückhalt in Äthiopien sollte es ihm möglich und zumutbar sein, das Existenzminimum für sich und seine Familie zu sichern. In Äthiopien bestehen Erwerbsmöglichkeiten grundsätzlich auch für Personen ohne abgeschlossene Schulbildung. Kinder werden häufig – bei Alleinerziehenden wie bei erwerbstätigen Personen – nach der Schule von privatem Betreuungspersonal betreut, auch in den unteren Gehaltsschichten (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stuttgart vom 13.07.2017 – Gz. 508-516.80/49153). Demgemäß scheint auch mit drei kleinen Kindern (für äthiopische Verhältnisse sogar eine eher kleine Familie) eine Aufteilung von Betreuungs- und Erwerbstätigkeit zwischen den Ehepartnern möglich und zumutbar, ohne dass der Kläger selbst der Verelendung anheimfiele. Soweit der Kläger darauf hingewiesen hat, dass sein letzter Aufenthalt in Äthiopien lange zurückliege, ist ihm zu entgegnen, dass er sich auf seiner Flucht bereits mehrmals ausländischen Kulturen angepasst und über längere Zeit in gänzlich fremden Ländern gelebt hat. Die Familie scheint selbst dazu in der Lage zu sein, trotz der Sprachbarriere der Eltern die aktuelle, herausfordernde Situation mit dem frühgeborenen Kind, zahlreichen Arztbesuchen und Behördengängen zu meistern. Umso mehr ist der Familie zuzutrauen, im Heimatland wieder Fuß zu fassen.
Auch unter Berücksichtigung etwaiger Quarantänekosten droht dem Kläger und seiner Familie keine Unterschreitung des Existenzminimums. Hingewiesen sei dazu auf die Rückkehrerhilfen für freiwillig Ausreisende. Aus dem sog. REAG-/GARP-Programm kann u.a. eine Reisebeihilfe i.H.v. 200,00 EUR sowie eine Starthilfe von 1.000,00 EUR in Anspruch genommen werden. Darüber hinaus besteht das Reintegrationsprogramm ERRIN. Die Hilfen aus diesem Programm umfassen Beratung nach der Ankunft, berufliche Qualifizierungsmaßnahmen, Hilfe bei der Arbeitsplatzsuche, Unterstützung bei einer Existenzgründung, Grundausstattung für die Wohnung sowie die Beratung und Begleitung zu behördlichen, medizinischen und caritativen Einrichtungen. Die Unterstützung wird als Sachleistung gewährt. Der Leistungsrahmen für rückkehrende Einzelpersonen beträgt dabei bis zu 2.000,00 EUR und im Familienverbund bis zu 4.000,00 EUR (vgl. https:// www.returningfromgermany.de/ de/programmes/erin). Dieser Betrag sollte jedenfalls hinreichend sein, um dem Kläger und seiner Familie einen gesicherten Start in Äthiopien zu ermöglichen.
Es ist von daher jedenfalls keine drohende Unterschreitung des Existenzminiums des Klägers selbst wegen der vorrangigen Sicherung der Existenz seiner Familienmitglieder ersichtlich.
3. Nach alledem war die Klage insgesamt mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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