Verwaltungsrecht

Rücküberstellung nach Abschiebung trotz aufschiebender Wirkung

Aktenzeichen  W 2 E 18.32206

Datum:
5.11.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 33423
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
GG Art. 6, Art. 19 Abs. 4
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

1 Ist das gegen die Abschiebungsandrohung gerichtete Klageverfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen und ist die aufschiebende Wirkung der Klageerhebung im angefochtenen Bescheid tenoriert, so ist die gleichwohl durchgeführte Abschiebung offenkundig rechtswidrig. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2 Der sich aus dem rechtswidrigen Vollzug der Abschiebung ergebende Folgenbeseitigungsanspruch verpflichtet die Antragsgegnerin, dem Antragsteller – einem Säugling – mit seiner Kernfamilie die Wiedereinreise auf ihre Kosten zu ermöglichen. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
3 Dies gilt trotz der vollziehbaren Ausreisepflicht der übrigen Familienmitglieder, die auch nicht ohne den Antragsteller hätten abgeschoben werden können. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 26. Juni 2018 (Az. 7458856) wird festgestellt.
II. Der Antragsgegnerin wird aufgegeben, dem Antragsteller, seinen Eltern und seinen vier minderjährigen vier Geschwistern – Az. 7038282-475 – unverzüglich zu ermöglichen, auf Kosten der Antragsgegnerin in die Bundesrepublik Deutschland einzureisen.
III. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
IV. Dem Kläger wird unter Beiordnung von Rechtsanwalt, …, …, Prozesskostenhilfe gewährt. Diese wird in der Höhe auf die Kosten eines im Gerichtsbezirk ansässigen Anwalts beschränkt.

Gründe

I.
Der am … 2018 in Aschaffenburg/Deutschland geborenen Antragsteller, ein syrischer Staatsangehöriger arabischer Volks- und islamisch-sunnitischer Religionszugehörigkeit, begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Rücküberstellung in die Bundesrepublik Deutschland.
Mit Bescheid vom 26. Juni 2018 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (Ziffer 1) und forderte ihn unter Androhung der Abschiebung nach Litauen zur Ausreise auf. Im Fall der Klageerhebung ende die Ausreisefrist 30 Tag nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens (Ziffer 3 Satz 1 Halbsatz 1).
Die dagegen erhobene Klage des Antragstellers wurde mit Gerichtsbescheid des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 11. Oktober 2018, dem Bevollmächtigten des Antragstellers am 30. Oktober 2018 zugegangen, abgewiesen. Der Antragsteller ließ dagegen mit Schriftsatz vom 31. Oktober 2018 Antrag auf Zulassung der Berufung stellen, über den bislang noch nicht entschieden ist.
Am 26. Oktober 2018 wurde der Antragsteller zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern, die aufgrund rechtskräftigen Gerichtsbescheides vom 27. Juli 2017 vollziehbar ausreisepflichtig sind, nach Litauen abgeschoben.
Dagegen wendet sich der Antragsteller mit Schriftsatz vom 26. Oktober 2018 und beantragt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Rücküberstellung der Familie nach Deutschland. Die Abschiebung sei grob rechtswidrig und verletze grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien. Die Klage gegen den Bescheid vom 26. Juni 2018 habe aufschiebende Wirkung. Im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG sei es geboten, den Antragsteller und seine Familie in das Bundesgebiet zurückzuholen.
Der Antragsteller lässt beantragen,
die Antragsgegnerin zu verpflichten, den Antragsteller und seine Familie auf Kosten der Antragsgegnerin unverzüglich nach Deutschland zurückzuholen.
Die Antragsgegnerin stellte im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes keinen Antrag und teilte mit, dass versehentlich eine „Vollziehbarkeitsmeldung“ an die zuständige Ausländerbehörde gegangen sei und diese offensichtlich ebenfalls übersehen habe, dass keine Vollziehbarkeit vorliege.
Für die weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die Bundesamtsakte des Antragstellers sowie seiner Eltern und Geschwister und die Gerichtsakten in den Verfahren W 2 K 18.31310, W 2 S 18.31630, W 2 S 18.31704 Bezug genommen.
II.
Der bei sachgerechter Auslegung auf die Feststellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsdrohung im Bundesamtsbescheid vom 26. Juni 2018 gerichtete Antrag analog § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO i.V.m. dem Begehren der Aufhebung der Vollziehung gem. § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO ist sowohl zulässig als auch begründet.
Hat die Behörde Vollzugsmaßnahme getroffen, ohne dass die Voraussetzungen einer sofortigen Vollziehbarkeit vorliegen, stellt das Gericht auf Antrag gem. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO analog fest, dass der eingelegte Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat. Eine Interessenabwägung findet insoweit nicht statt (vgl. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 23. Aufl. 2017, § 80 Rn. 181).
Da das gegen die Abschiebungsandrohung gerichtete Klageverfahren aufgrund des fristgerecht erhobenen Antrags auf Zulassung der Berufung gegen den Gerichtsbescheid vom 11. Oktober 2018 noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist, ist die in Ziffer 3 Satz 2 des Bundesamtsbescheides vom 26. Juni 2018 verfügte Abschiebungsandrohung ausweislich der in Ziffer 3 Satz 1 Halbsatz 2 des Bescheides tenorierten aufschiebenden Wirkung einer Klageerhebung zum gem. § 77 Abs. 1 Satz Halbsatz 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (noch) nicht vollziehbar, so dass die Abschiebung des Antragstellers als Vollzugsmaßnahme offenkundig rechtswidrig war. Mithin ist die aufschiebende Wirkung der gegen die Abschiebungsandrohung gerichteten Klage analog § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gerichtlich festzustellen.
Im Lichte von Art. 19 Abs. 4 GG war zugleich gem. § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO i.V.m. mit dem sich aus dem offensichtlich rechtswidrigen Vollzug der Abschiebung ergebenden Folgenbeseitigungsanspruch der Antragsgegnerin aufzugeben, dem Antragsteller und seiner Kernfamilie die Wiedereinreise auf Kosten der Antragsgegnerin zu ermöglichen.
Ein solcher Antrag ist auch vor Erhebung eines entsprechenden Hauptsacheverfahrens statthaft. Da ein Verweis auf die Geltendmachung des Folgenbeseitigungsanspruchs im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens den materiell unzweifelhaft bestehenden Anspruch alleine aufgrund Zeitablaufs -d.h. bis 30 Tag nach bestandskräftigem Abschluss des Asylverfahrens -regelmäßig ins Leere laufen ließe, sind keine gesteigerten Anforderungen an die Eilbedürftigkeit zu stellen oder die Glaubhaftmachung von materiellen Rechtsverletzungen aufgrund der spezifischen Unterbringungsumstände in Litauen zu verlangen. Art. 19 Abs. 4 GG gebiete es, dass der Antragsteller sich effektiv gegen seine offensichtlich rechtswidrige Abschiebung wehren können muss.
Da es sich bei ihm um einen Säugling ist damit im Lichte von Art. 6 GG bzw. 8 EMRK auch die Rückkehrmöglichkeit seiner Eltern und minderjährigen Geschwister – trotz deren vollziehbarer Ausreisepflicht – als begleitender Rechtsreflex verbunden. Wäre der Antragsteller nicht rechtswidrig abgeschoben worden, hätten auch sie nicht ohne ihn abgeschoben werden können.
Dem Antrag war mit der Kostenfolge des § 154 VwGO stattzugeben. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83 AsylG.
Dem Antragsteller war gem. § 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 ZPO Prozesskostenhilfe zu gewähren.


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