Verwaltungsrecht

Sicherung des Lebensunterhalts und des Krankenversicherungsschutz beim Familienachzug

Aktenzeichen  19 ZB 20.209

Datum:
27.5.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 12814
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 2 Abs. 2 S. 1, § 5 Abs. 1 Nr. 1, § 36 Abs. 2
GG Art. 6
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

1. Ein atypischer Fall, der eine Ausnahme von dem „in der Regel“ geltenden Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts begründen würde, ist nicht nur dann anzunehmen, wenn besondere atypische Umstände vorliegen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigt, sondern auch wenn dies aus Gründen höherrangigen Rechts, wie etwa Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK, geboten ist (stRspr. des BVerwG, U.v. 30.4.2009 – 1 C 3.08, BeckRS 2009, 35507; U. v. 13.6.2013 – 10 C 16.12, BeckRS 2013, 54131). (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dabei ist zugrunde zu legen, dass der Gesetzgeber in der  Unterhaltssicherung eine Erteilungsvoraussetzung von grundlegendem staatlichen Interesse und zugleich die wichtigste Voraussetzung sieht, um die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zu verhindern (vgl. BVerwG, U. v. 16.8.2011 – 1 C 12/1, BeckRS 2011, 55859). (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 5 K 16.2402 2019-11-27 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Zulassungsantragsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsantragsverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.
Die Klägerin, eine am 16. August 1930 geborene usbekistanische Staatsangehörige, die am 19. Januar 2015 mit einem Schengen-Visum für Besuchszwecke in die Bundesrepublik einreiste und sich seither bei ihrem Sohn aufhält, wendet sich gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 27. November 2019, durch das ihre Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 15. November 2016 abgewiesen worden ist. Mit diesem Bescheid hat die Beklagte die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die Klägerin abgelehnt.
Das der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegende Vorbringen in der Begründung des Zulassungsantrags (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO) rechtfertigt keine Zulassung der Berufung. Der allein geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), dessen Beurteilung sich grundsätzlich nach dem Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts richtet (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 12), sodass eine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtlage bis zum Zeitpunkt der Entscheidung in dem durch die Darlegung des Rechtsmittelführers vorgegebenen Prüfungsrahmen zu berücksichtigen ist (BayVGH, B.v. 20.2.2017 – 10 ZB 12.1804 – juris Rn. 7), ist schon nicht in einer § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechenden Weise dargelegt bzw. liegt nicht vor.
Die Klägerin trägt (im Wesentlichen in Wiederholung erstinstanzlichen Vorbringens) vor, sie habe einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 36 Abs. 2 AufenthG. Von den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG (hier: ausreichender Krankenversicherungsschutz) könne abgewichen werden. Aufgrund des hohen Alters und der erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigung sei es dem Sohn der Klägerin nicht gelungen, für die Klägerin eine Krankenversicherung abzuschließen. Die Klägerin sei so erkrankt, dass die Beklagte selbst davon ausgehe, es liege eine außergewöhnliche Härte im Sinne von § 36 Abs. 2 AufenthG vor.
Diese Rügen zeigen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils auf.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestünden nur dann, wenn die Klägerseite im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Solche schlüssigen Gegenargumente liegen bereits dann vor, wenn im Zulassungsverfahren substantiiert rechtliche oder tatsächliche Umstände aufgezeigt werden, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung unrichtig ist (BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – juris Rn. 19). Es reicht nicht aus, wenn Zweifel lediglich an der Richtigkeit einzelner Rechtssätze oder tatsächlicher Feststellungen bestehen, auf welche das Urteil gestützt ist. Diese müssen vielmehr zugleich Zweifel an der Richtigkeit des Ergebnisses begründen. Das wird zwar regelmäßig der Fall sein. Jedoch schlagen Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente nicht auf das Ergebnis durch, wenn das angefochtene Urteil sich aus anderen Gründen als richtig darstellt (BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4/03 – juris Rn. 9). Eine Berufungszulassung scheidet aus, wenn sich schon im Zulassungsverfahren zuverlässig sagen lässt, dass das Verwaltungsgericht die Rechtssache im Ergebnis richtig entschieden hat und die angestrebte Berufung deshalb voraussichtlich keinen Erfolg haben wird (BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4/03 – juris Rn. 10).
Um den Anforderungen des Darlegungsgebotes nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO Genüge zu tun, hat der Rechtsmittelführer über die bloße Bezeichnung eines oder mehrerer Zulassungsgründe hinaus in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht auszuführen, warum er die von ihm benannten Zulassungsgründe für gegeben erachtet. „Darlegen“ bedeutet insoweit „erläutern“, „erklären“ oder „näher auf etwas eingehen“. Erforderlich ist eine substantiierte Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung, durch die der Streitstoff durchdrungen und aufbereitet wird; der Rechtsmittelführer muss im Einzelnen dartun, in welcher Hinsicht und aus welchen Gründen die gerichtlichen Feststellungen ernstlichen Zweifeln begegnen. Mit bloßer Wiederholung des erstinstanzlichen Vorbringens wird dem Gebot der Darlegung im Sinn von § 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO ebenso wenig genügt wie mit der schlichten Darstellung der eigenen Rechtsauffassung (vgl. BayVGH, B.v. 24.2.2020 – 15 ZB 19.1505 – juris Rn. 10).
Es kann vorliegend dahinstehen, ob der Vortrag der Klägerin den Anforderungen des Darlegungsgebots nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entspricht. Ernstliche Zweifel an der Ergebnisrichtigkeit der angefochtenen Entscheidung ergeben sich hieraus nicht.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit den entscheidungstragenden Feststellungen abgewiesen, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 2 AufenthG jedenfalls an der Nichterfüllung einer allgemeinen Erteilungsvoraussetzung scheitere, da der Lebensunterhalt der Klägerin im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nicht gesichert sei. § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG fordere ausdrücklich einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz. Diesen habe die Klägerin seit ihrer Einreise in das Bundesgebiet nicht nachgewiesen. Es sei nicht abzusehen, ob und wann die Klägerin einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz besitzen werde. Ein Ausnahmefall liege nicht vor. Atypische Umstände, die so bedeutsam seien, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen würden, lägen vorliegend nicht vor.
Diese Ausführungen des Verwaltungsgerichts sind nicht zu beanstanden:
Die Erteilung eines Aufenthaltstitels setzt in der Regel u.a. voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Der Lebensunterhalt eines Ausländers ist gesichert, wenn er ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann (§ 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Es steht nicht in Streit, dass die Klägerin diese Voraussetzungen nicht erfüllt, da sie über keinen ausreichenden Krankenversicherungsschutz verfügt.
Ein atypischer Fall, der eine Ausnahme von dem „in der Regel“ geltenden Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts begründen würde, ist nicht nur dann anzunehmen, wenn besondere atypische Umstände vorliegen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigt, sondern auch wenn dies aus Gründen höherrangigen Rechts, wie etwa Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK, geboten ist (stRspr des BVerwG, U.v. 30.4.2009 – 1 C 3.08 – juris Rn. 13; U.v. 13.6.2013 – 10 C 16.12 juris Rn. 16 ff.). Dabei ist zugrunde zu legen, dass der Gesetzgeber in der Unterhaltssicherung eine Erteilungsvoraussetzung von grundlegendem staatlichen Interesse und zugleich die wichtigste Voraussetzung sieht, um die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zu verhindern (vgl. BVerwG, U.v. 16.8.2011 – 1 C 12/10 – juris Rn. 15). Ob ein Ausnahmefall vorliegt, unterliegt keinem Einschätzungsspielraum der Behörde, sondern ist gerichtlich in vollem Umfang überprüfbar (vgl. BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 10 C 16/12 – juris Rn. 16; OVG Berlin-Bbg, B.v. 5.2.2018 – OVG 11 M 29.16 – juris Rn. 2).
Davon ausgehend unterliegt es keinen ernstlichen Zweifeln, wenn das Verwaltungsgericht das Vorliegen eines Ausnahmefalles verneint. Es ist nicht zu beanstanden, wenn das Erstgericht ausführt, die 1930 geborene Klägerin sei trotz Kenntnis ihrer geringen Rente und ihres Gesundheitszustandes im Jahr 2015 in das Bundesgebiet eingereist, Schwierigkeiten mit dem Abschluss einer Krankenversicherung seien daher bereits bei der Einreise für die Klägerin voraussehbar gewesen, auch weise sie nach mittlerweile mehrjährigem Aufenthalt im Bundesgebiet (immer noch) keinen Krankenversicherungsschutz vor. Soweit der Sohn der Klägerin (der trotz Aufforderung des Verwaltungsgerichts sich zu seiner finanziellen Leistungsfähigkeit nicht äußerte und insoweit auch nichts im Zulassungsantragsverfahren vortrug) in der mündlichen Verhandlung von dem Erstgericht erklärte, er zahle die Kosten für die ärztliche Versorgung seiner Mutter aktuell aus eigener Tasche bar, es sei ihm nicht gelungen, eine Krankenversicherung für diese abzuschließen, er könne die Versicherungskosten, die sich für den Basistarif auf ca. 1.700 Euro belaufen würden, nicht bezahlen, es sei ihm zudem gesagt worden, dass er noch ca. 10.000 Euro zahlen müsse, da seine Mutter in der Vergangenheit in Deutschland nicht versichert gewesen sei, bestätigt dieser Vortrag die vom Verwaltungsgericht bestätigte Auffassung der Beklagten, an der Regelvoraussetzung festzuhalten, da eine Inanspruchnahme öffentlicher Mittel nicht fern liegt. Dafür spricht auch der Vortrag der Klägerin, sie sei erheblich erkrankt. Soweit sie weiter ausführt, aufgrund ihrer Erkrankung gehe die Beklagte selbst davon aus, es liege eine außergewöhnliche Härte im Sinne von § 36 Abs. 2 AufenthG vor, bezieht sich die Bejahung einer außergewöhnlichen Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 AufenthG durch die Beklagte in ihrem Bescheid vom 15. November 2016 auf den Gesundheitszustand der Klägerin und ihre Angewiesenheit auf die Hilfe des Sohnes gemäß Stellungnahme des Gesundheitsamtes der Beklagten vom 15. Dezember 2015, nicht aber auf die Frage der Sicherung des Lebensunterhaltes. Im Übrigen steht (im Hinblick auf Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK) eine Rückführung der Klägerin nach Usbekistan nicht im Raum. Auch ist eine Dauerduldung eine im Aufenthaltsgesetz angelegte Form des langdauernden Aufenthalts in Deutschland (vgl. BeckOK, AuslR Maaßen/Kluth, Stand 1.1.2021 Aufenthaltsgesetz § 25 Rn. 124).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 47 Abs. 3, Abs. 2, 52 Abs. 1 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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