Verwaltungsrecht

Sicherung Lebensunterhalt

Aktenzeichen  19 ZB 20.2659

Datum:
13.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 8700
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1
GG Art. 6
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

Verfahrensgang

B 6 K 19.1249 2020-09-30 Urt VGBAYREUTH VG Bayreuth

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.
Der am … 2007 geborene, am 5. Juli 2019 mit einem (Besuchs-)/ Schengenvisum in die Bundesrepublik zu seiner (Stief-) Großmutter bzw. Mutter (aufgrund Eheschließung mit einem deutschen Staatsangehörigen im Besitz einer befristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) eingereiste Kläger, ein russischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 30. September 2020 durch das seine Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Familiennachzugs abgewiesen worden ist.
Das der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegende Vorbringen in der Begründung des Zulassungsantrags (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO) rechtfertigt keine Zulassung der Berufung. Der allein geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), dessen Beurteilung sich grundsätzlich nach dem Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts richtet (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10. 12 – juris Rn. 12), so dass eine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage bis zum Zeitpunkt der Entscheidung in dem durch die Darlegung des Rechtsmittelführers vorgegebenen Prüfungsrahmen zu berücksichtigen ist (BayVGH, B.v. 20.2.2017 – 10 ZB 15.1804 – juris Rn. 7), ist schon nicht in einer § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechenden Weise dargelegt bzw. liegt nicht vor.
Der Kläger trägt in weitgehender Wiederholung erstinstanzlichen Vorbringens vor, zwar erfülle der Kläger die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nicht, da sein Lebensunterhalt jedenfalls derzeit in Deutschland nicht gesichert sei. Vielmehr bezögen die Mutter und der Stiefvater des Klägers ergänzende Leistungen nach SGB II. Indessen umfasse der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG namentlich die Freiheit der Eheschließung und Familiengründung sowie das Recht auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben. Gemessen an diesem Maßstab liege im Fall des Klägers ein Sachverhalt vor, der im Hinblick auf den Regelungszweck der Norm besondere, vom Regelfall abweichende Umstände aufweise. Die Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis unter Berufung auf die fehlende Sicherung des Lebensunterhalts der Kernfamilie stelle die innerhalb der Kernfamilie gelebten und durch Art. 6 GG geschützten familiären Bindungen zu Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit in Frage. Es sei daher von einem Ausnahmefall auszugehen, da dem durch Art. 6 GG geschützten Interesse keine öffentlichen Interessen gegenüberständen, die die Versagung der Aufenthaltserlaubnis rechtfertigten. Die mit dem Regelerfordernis verfolgten fiskalischen Interessen stünden in einem Spannungsverhältnis mit den Belangen der Familie (unter Verweis auf BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 10 C 16/12). Die Feststellung des Verwaltungsgerichts, wonach es der Mutter des Klägers möglich und zumutbar sei, sich als russische Staatsangehörige für die Dauer des Visumverfahrens zusammen mit dem Kläger in ihr Heimatland zu begeben, sei fehlerhaft, weil weder eine räumliche Trennung vom Ehemann (mit russischer und deutscher Staatsangehörigkeit) noch ein gemeinsamer Auslandsaufenthalt für die Dauer des Visumverfahrens in der Russischen Föderation zumutbar sei. Die Eheleute könnten nicht darauf verwiesen werden, die eheliche Lebensgemeinschaft im Heimatland der Mutter des Klägers zu verwirklichen. Hierfür fehlten die Lebensgrundlagen, da die Mutter des Klägers im Heimatland weder über Einkommen, Vermögen oder Wohnraum verfüge. Auch der „Stiefvater“ des Klägers würde im Falle eines längeren Auslandsaufenthaltes seine Arbeitsstelle, die er aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme nur mit viel Mühe und Not erhalten habe, verlieren. Die Trennungszeiten zwischen der Mutter und dem Kläger in der Vergangenheit seien zwar zutreffend. Indessen sei der Kläger seiner Großmutter von seiner Mutter bei deren Einreise in das Bundesgebiet in einer Notlage überlassen worden. Die Mutter des Klägers habe sich entschieden, ihn vorübergehend in die Obhut seiner Großmutter abzugeben, um in der Zwischenzeit eine feste Anstellung zu finden. Die Großmutter des Klägers sei jedoch nicht mehr in der Lage, den Lebensunterhalt des Klägers zu decken. Sie sei auch aufgrund von diversen Erkrankungen nicht mehr in der Lage, die tagtägliche Betreuung, Versorgung und Erziehung des Klägers sicherzustellen. Die Mutter des Klägers sei die allein sorgeberechtigte und auch tatsächlich die wichtigste Bezugsperson. Die Mutter des Klägers sei im Besitz einer befristeten Aufenthaltserlaubnis und lebe in familiärer Lebensgemeinschaft mit ihrem deutschen Ehegatten. Diese konkreten Umstände ließen es geboten erscheinen, vorliegend aufgrund der durch Art. 6 GG geschützten Interessen von einem Ausnahmefall auszugehen. Eine Ausnahme vom Regelfall der Sicherung des Lebensunterhalts sei ebenfalls aufgrund atypischer Umstände anzunehmen. Der Kläger habe ein schützenswertes Interesse daran, mit seiner leiblichen Mutter zusammenzuleben. Diese aber habe ihren rechtmäßigen Aufenthalt in Bundesgebiet und habe ihrerseits ein schutzwürdiges Interesse daran, dort weiterhin mit ihrem deutschen Ehemann in familiärer Lebensgemeinschaft zu leben. Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis stehe auch kein Ausweisungsinteresse entgegen, da es sich bei der Einreise des Klägers mit einem Schengener Besuchsvisum nicht um eine unerlaubte Einreise im Sinne von § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG gehandelt habe. Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis stehe auch § 5 Abs. 2 AufenthG nicht entgegen. Dem Kläger sei es gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar, das Visumsverfahren nachzuholen. Das Ermessen sei dahingehend reduziert, auf die Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu verzichten.
Diese Rügen zeigen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils auf.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestünden nur dann, wenn die Klägerseite im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Solche schlüssigen Gegenargumente liegen bereits dann vor, wenn im Zulassungsverfahren substantiiert rechtliche oder tatsächliche Umstände aufgezeigt werden, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung unrichtig ist (BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – juris Rn. 19). Es reicht nicht aus, wenn Zweifel lediglich an der Richtigkeit einzelner Rechtssätze oder tatsächlicher Feststellungen bestehen, auf welche das Urteil gestützt ist. Diese müssen vielmehr zugleich Zweifel an der Richtigkeit des Ergebnisses begründen. Das wird zwar regelmäßig der Fall sein. Jedoch schlagen Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente nicht auf das Ergebnis durch, wenn das angefochtene Urteil sich aus anderen Gründen als richtig darstellt (BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4/03 – juris Rn. 9). Eine Berufungszulassung scheidet aus, wenn sich schon im Zulassungsverfahren zuverlässig sagen lässt, dass das Verwaltungsgericht die Rechtssache im Ergebnis richtig entschieden hat und die angestrebte Berufung deshalb voraussichtlich keinen Erfolg haben wird (BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4/03 – juris Rn. 10).
Um den Anforderungen des Darlegungsgebotes nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO Genüge zu tun, hat der Rechtsmittelführer über die bloße Bezeichnung eines oder mehrerer Zulassungsgründe hinaus in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht auszuführen, warum er die von ihm benannten Zulassungsgründe für gegeben erachtet. „Darlegen“ bedeutet insoweit „erläutern“, „erklären“ oder „näher auf etwas eingehen“. Erforderlich ist eine substantiierte Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung, durch die der Streitstoff durchdrungen und aufbereitet wird; der Rechtsmittelführer muss im Einzelnen dartun, in welcher Hinsicht und aus welchen Gründen die gerichtlichen Feststellungen ernstlichen Zweifeln begegnen. Mit bloßer Wiederholung des erstinstanzlichen Vorbringens wird dem Gebot der Darlegung im Sinn von § 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO ebenso wenig genügt wie mit der schlichten Darstellung der eigenen Rechtsauffassung (vgl. BayVGH, B.v. 24.2.2020 – 15 ZB 19.1505 – juris Rn. 10).
Es kann vorliegend dahinstehen, ob die Wiederholung erstinstanzlichen Vorbringens den Anforderungen des Darlegungsgebots nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entspricht. Ernstliche Zweifel an der Ergebnisrichtigkeit der angefochtenen Entscheidung ergeben sich hieraus nicht.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit der entscheidungstragenden Feststellung abgewiesen, dass die allgemeine Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nicht erfüllt sei, weil der Lebensunterhalt der familiären Bedarfsgemeinschaft nicht gesichert sei. Besondere Umstände, die einen atypischen Fall und ein Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung begründen könnten, seien nicht ersichtlich. Auf die Zumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens komme es nicht weiter an.
Dieser entscheidungstragenden Feststellung ist das Zulassungsvorbringen nicht entgegen getreten, vielmehr bestätigt der Kläger, dass der Lebensunterhalt der Bedarfsgemeinschaft, der der Kläger angehört, nicht gesichert sei. Entgegen dem Zulassungsvorbringen ist die Ablehnung des Absehens von der Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG der Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 13.6.2013 – 10 C 16/12 – juris) nicht zu beanstanden.
Ein atypischer Fall, der eine Ausnahme von dem „in der Regel“ geltenden Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts begründen würde, ist nicht nur dann anzunehmen, wenn besondere atypische Umstände vorliegen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, sondern auch wenn dies aus Gründen höherrangigen Rechts, wie etwa Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK, geboten ist (stRspr des BVerwG, U.v. 30.4.2009 – 1 C 3.08 – juris Rn. 13; U.v. 13.6.2013 – 10 C 16.12 juris Rn. 16 ff.) Dabei ist zugrunde zu legen, dass der Gesetzgeber in der Unterhaltssicherung eine Erteilungsvoraussetzung von grundlegendem staatlichen Interesse und zugleich die wichtigste Voraussetzung sieht, um die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zu verhindern (vgl. BVerwG, U.v. 16.8.2011 – 1 C 12/10 -, Rn. 15, juris). Ob ein Ausnahmefall vorliegt, unterliegt keinem Einschätzungsspielraum der Behörde, sondern ist gerichtlich in vollem Umfang überprüfbar (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 – 10 C 16/12 -, Rn. 16, juris; OVG Berlin-Bbg, B.v. 5.2.2018 – OVG 11 M 29.16 – juris Rn. 2).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt eine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG beim Nachzug eines minderjährigen Kindes in eine Kernfamilie, der mindestens ein minderjähriges deutsches Kind angehört, jedenfalls dann vor, wenn a) die Kernfamilie ihren Schwerpunkt in Deutschland hat und mit dem Nachzug vervollständigt wird, b) das nachziehende Kind das 13. Lebensjahr noch nicht vollendet hat und c) gegen die Eltern keine Sanktionen wegen Verletzung ihrer sozialrechtlichen Verpflichtungen nach §§ 31 ff. SGB II (juris: SGB II) verhängt worden sind (BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 10 C 16/12 – juris LS). Das Bundesverwaltungsgericht hat in dieser Entscheidung den Vorschriften des § 28 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 Nr. 2 und 3 AufenthG und des § 28 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. Satz 1 Nr. 1 AufenthG, wonach das minderjährige ledige Kind eines Deutschen und der ausländische Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis haben bzw. dem ausländischen Ehegatten eines Deutschen eine Aufenthaltserlaubnis in der Regel abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erteilt werden soll, den allgemeinen Rechtsgedanken entnommen, dass beim Nachzug in eine Familie, der ein deutscher Staatsangehöriger angehört, dem fiskalischen Interesse ein geringeres Gewicht zukommt als beim Nachzug in eine rein ausländische Familie. Auch danach rechtfertigt aber allein die Tatsache, dass einer Kernfamilie ein oder mehrere minderjährige deutsche Kinder angehören, nicht schon ein Absehen vom Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung, sondern müssen weitere Umstände hinzutreten, die bei einer wertenden Gesamtschau das ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung in § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG beseitigen. Derartige Umstände hat das Bundesverwaltungsgericht für einen Fall bejaht, in dem der Nachzug in eine Kernfamilie erfolgen sollte, die bei einer qualitativen Betrachtung aller für die Bestimmung des Lebensmittelpunkts maßgeblichen Umstände ihren Schwerpunkt in Deutschland hatte und in dem der Kläger im Zeitpunkt der mündlichen Tatsachenverhandlung erst zwölf Jahre alt war, ein Lebensalter, bis zu dem ein gesteigerter Schutz- und Betreuungsbedarf bestehe und Kinder in besonderem Maße auf ein Aufwachsen in der Kernfamilie angewiesen seien, und gegen die Eltern des Klägers keine Sanktionen wegen Verletzung ihrer sozialrechtlichen Verpflichtung nach §§ 31 ff. SGB II verhängt worden waren (vgl. BVerwG, U.v. 13.6.2013, a.a.O., juris Rn. 30 ff.; OVG Berlin-Bbg, B.v. 5.2.2018 – OVG 11 M 29.16 – juris Rn. 5).
Der vorliegende Fall unterscheidet sich von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zugrundeliegenden Fallgestaltung bereits dadurch, dass der am 30. Mai 2007 geborene Kläger schon nicht die im Leitsatz unter b) genannte Voraussetzung der Nichtvollendung des 13. Lebensjahres erfüllt. In Anbetracht seines Alters und dessen, dass der Kläger nach Ausreise seiner Mutter aus dem Heimatland im Zeitraum vom 1. Oktober 2018 bis zu seiner Einreise in das Bundesgebiet am 5. Juli 2019 in der Obhut der Großmutter lebte, ist ein gesteigerter Schutz- und Betreuungsbedarf und ein Angewiesensein auf ein Aufwachsen in der Kernfamilie vorliegend nicht zu erkennen. Die Mitglieder der Kernfamilie des Klägers (seine Mutter mit russischer Staatsangehörigkeit, deren Ehemann und das am 31.12.2020 geborene gemeinsame Kind deutscher Staatsangehörigkeit) besitzen ersichtlich alle (auch) die russische Staatsangehörigkeit; der Schwerpunkt bzw. Lebensmittelpunkt der Familie im Bundesgebiet wurde mit der Einreise der Mutter des Klägers am 1. Oktober 2018 zum Zwecke des Ehegattennachzugs (Eheschließung am 15.12.2017) zu dem als Spätaussiedler anerkannten Ehegatten, der nach Übersiedelung im Jahr 2002 nach 2010 erneut in Russland gelebt und erst Ende 2017 in das Bundesgebiet wiedereingereist ist, bzw. mit der Geburt der Schwester am 31. Dezember 2020 im Bundesgebiet begründet. Von einer festen und dauerhaften Niederlassung der Familie im Bundesgebiet ist auch in Anbetracht der Befristungen der jeweiligen Aufenthaltserlaubnis der Mutter des Klägers nicht auszugehen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der deutschen Staatsangehörigkeit des am 31. Dezember 2020 geborenen Geschwisters des Klägers. Allein die deutsche Staatsangehörigkeit einzelner Familienmitglieder begründet für sich genommen noch keine Unzumutbarkeit, die familiäre Gemeinschaft gegebenenfalls im Herkunftsland des Klägers, dessen Staatsangehörigkeit ersichtlich alle Familienmitglieder besitzen, zu führen. Im Übrigen hat sich der Kläger zu dem am 31. Dezember 2020 geborenen Kind nicht geäußert.
Gehören einer familiären Lebensgemeinschaft deutsche minderjährige Kinder an, besteht zwar besonderer Anlass zur Prüfung, ob sich eine Unzumutbarkeit des Verlassens Deutschlands beispielsweise aus ihren Beziehungen zum anderen – in Deutschland verbleibenden – Elternteil ergeben kann (vgl. BVerwG, U.v. 13.6.2013 a.a.O., juris Rn. 27 mit Verweis auf BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – InfAuslR 2006, 320). Mit zunehmendem Alter können bei minderjährigen deutschen Kindern auch sonstige schutzwürdige Bindungen an hier lebende Personen eine Unzumutbarkeit begründen.
Nach diesen Maßgaben ergibt sich vorliegend aus der deutschen Staatsangehörigkeit des (neugeborenen) Geschwisterkindes keine Unzumutbarkeit, die familiäre Gemeinschaft im Heimatland des Klägers, dessen Staatsangehörigkeit sämtliche Mitglieder der Kernfamilie (auch) besitzen, zu realisieren. Gleiches gilt in Anbetracht der langen Aufenthaltszeiten des Ehegatten der Mutter des Klägers mit russischer und deutscher Staatsangehörigkeit in der russischen Föderation.
Ein Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung der Lebensunterhaltssicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist vorliegend auch nicht aus Gründen höherrangigen Rechts, nach Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK, geboten. Auf nationaler Ebene genießt die Familie den Schutz des Art. 6 GG. Zwar gewähren weder das in Art. 6 Abs. 1 GG verbürgte Recht auf familiäres Zusammenleben noch die in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete Wahrnehmung der Elternverantwortung im Interesse des Kindeswohls einen unmittelbaren Anspruch auf Einreise und Aufenthalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörden und die Gerichte, bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber das Spannungsverhältnis zwischen den öffentlichen fiskalischen Interessen und den familiären Interessen dahingehend aufgelöst hat, dass sowohl das ausländische minderjährige ledige Kind eines Deutschen als auch der ausländische Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis haben (§ 28 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Satz 1 Nr. 2 und 3 AufenthG). Auch dem ausländischen Ehegatten eines Deutschen soll eine Aufenthaltserlaubnis in der Regel abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erteilt werden (§ 28 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Diese den Familiennachzug begünstigenden einfachgesetzlichen Regelungen sind im Falle des Kindernachzugs zu einem ausländischen Elternteil nach § 32 Abs. 1 AufenthG jedoch weder unmittelbar noch analog anzuwenden. Steht einem Nachzugsbegehren – wie hier – der Schutz der öffentlichen Kassen entgegen, bedarf es im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG einer Abwägung dieses öffentlichen Interesses mit den gegenläufigen privaten Belangen der Familie und muss die Entscheidung insbesondere den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots entsprechen. Dabei sind alle relevanten Umstände des Einzelfalls einzustellen. Besteht zwischen Eltern und minderjährigen Kindern eine Eltern-Kind-Beziehung oder ist deren Aufnahme beabsichtigt, ist insbesondere zu ermitteln, welche Folgen die Verweigerung eines Aufenthaltsrechts für die Ausübung der Elternverantwortung und für das Wohl der minderjährigen Kinder hätte. Bei der Gewichtung der betroffenen Belange ist auch zu berücksichtigen, ob eine familiäre Lebensgemeinschaft nur im Bundesgebiet verwirklicht werden kann. Ist einem Mitglied der aus Eltern und ihren minderjährigen Kindern gebildeten Kernfamilie ein Aufenthalt im Ausland zur Fortführung der Lebensgemeinschaft nicht möglich oder zumutbar, kommt dem Interesse der Familie, die Lebensgemeinschaft gerade im Bundesgebiet zu führen, besonderes Gewicht zu. In diesem Fall bedarf es für aufenthaltsrechtliche Entscheidungen, die dies verhindern, entsprechend gewichtiger gegenläufiger öffentlicher Belange (vgl. BVerwG, U.v. 13.6.2013, a.a.O., juris Rn. 21).
Auch Art. 8 EMRK garantiert kein Recht eines Ausländers, in einen bestimmten Staat einzureisen und sich dort aufzuhalten, verpflichtet jedoch ebenfalls zu einer Abwägungslösung nach Verhältnismäßigkeitsgrundsätzen (vgl. BVerwG, U.v. 13.6.2013, a.a.O., juris Rn. 22). Ebenso verpflichten Art. 7 i.V.m. Art. 24 Abs. 2 und 3 GR-Charta beim Kindernachzug in Fällen, in denen – wie hier – die Voraussetzungen für ein Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht vorliegen und den Mitgliedstaaten ein Handlungsspielraum verbleibt, bei dessen Ausfüllung den Schutz der Familie und das Recht auf Familienleben zu achten und dabei insbesondere das Kindeswohl angemessen zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, U.v. 13.6.2013, a.a.O., juris Rn. 24). Sie begründen aber für die Mitglieder einer Familie ebenfalls kein subjektives Recht auf Aufnahme im Hoheitsgebiet eines Staates und lassen sich nicht dahin auslegen, dass den Staaten bei der Prüfung von Anträgen auf Familienzusammenführung kein Ermessensspielraum verbliebe (vgl. EuGH, U.v. 27.6.2006 – C-540/03 – juris Rn. 59). Auch für die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in den Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Privatu. Familienlebens nach Art. 8 EMRK kommt der Frage erhebliche Bedeutung zu, ob das Familienleben ohne Hindernisse auch im Herkunftsland möglich ist oder ob der Nachzug das einzige adäquate Mittel darstellt, in familiärer Gemeinschaft zu leben (vgl. Samel in Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 5 Rn. 36).
Nach diesen Maßgaben erscheint es vorliegend nicht als unverhältnismäßiger Eingriff in die verfassungs- bzw. unionsrechtlich geschützten familiären Rechtspositionen, in Anbetracht des Alters des Klägers und seines deutschen Geschwisters, der ersichtlich russischen Staatsangehörigkeit sämtlicher Mitglieder der Kernfamilie und deren Aufenthaltszeiten in der Russischen Föderation in der Vergangenheit nicht von der Erfüllung der Regelerteilungsvoraussetzung der Lebensunterhaltssicherung für den Kläger abzusehen. Wie bereits dargelegt folgt aus der deutschen Staatsangehörigkeit der neugeborenen deutschen Halbschwester und des Stiefvaters mit deutscher Staatsangehörigkeit nicht per se, dass eine Fortsetzung der familiären Lebensgemeinschaft im Ausland ohne Hinzutreten besonderer Umstände stets unzumutbar wäre. Dasselbe gilt auch für den durch Art. 8 EMRK vermittelten Schutz. Ob ein Fall der Unzumutbarkeit vorliegt, hängt vielmehr davon ab, welche Folgen eine – ggf. bis zur Volljährigkeit andauernde, aber jedenfalls vorübergehende – Fortführung der Familiengemeinschaft des Klägers mit seiner Mutter für seine deutsche Halbschwester und den Ehemann der Mutter hätte und ob und ggf. welche Alternativen denkbar wären (vgl. BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 15/12 – juris Rn. 17; BVerfG, B.v. 10.5.2008 – 2 BvR 588/08 – juris; B.v. 1.12.2008 – 2 BvR 1830/08 – juris Rn. 27) und wie sich ein derartiger Aufenthalt im Ausland ggf. auf ihre – rechtlich gesicherte – Möglichkeit einer späteren Rückkehr und Reintegration in Deutschland auswirken würde. Danach ist im Hinblick auf das Alter des Klägers und der Tatsache, dass er in etwas mehr als vier Jahren die Volljährigkeit erreichen wird, sowie in Anbetracht der langen Aufenthaltszeiten auch des die deutsche Staatsangehörigkeit besitzenden Ehegatten der Mutter des Klägers in der Russischen Föderation – unbesehen möglicher Alternativen durch die zwischen dem 1. Oktober 2018 bis zum 5. Juli 2019 gewährleistete Betreuung des Klägers im Herkunftsland durch die Großmutter – nicht als unzumutbar zu erachten, für einen begrenzten Zeitraum, der die Reintegration der die deutsche Staatsangehörigkeit besitzenden Halbschwester nicht in Frage stellen würde, die familiäre Gemeinschaft im Herkunftsland des Klägers fortzusetzen. Im Hinblick auf die ersichtliche (auch) russische Staatsangehörigkeit aller Familienmitglieder erscheint eine Herstellung der Familieneinheit in der Russischen Föderation möglich; der Nachzug des Klägers stellt sich damit nicht als das einzige adäquate Mittel dar, in familiärer Gemeinschaft zu leben.
Entsprechend der gesetzgeberischen Konzeption hat daher die Familie des zuziehenden Kindes den Lebensunterhalt zu sichern, was vorliegend nicht gewährleistet ist.
Auf die mit dem Zulassungsvorbringen geltend gemachte Unzumutbarkeit der Nachholung eines Visumverfahrens kommt es entsprechend der diese Frage offen lassenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts nicht weiter an.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 47 Abs. 3, Abs. 2, 52 Abs. 1 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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