Verwaltungsrecht

staatenloser Palästinenser, Folgeantrag, keine Änderung der Rechtslage durch Urteil des EuGH zur Verweigerung des Militärdienstes

Aktenzeichen  W 5 K 21.30538

Datum:
17.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 3457
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 71 Abs. 1 S. 1
VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen. 
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben. 

Gründe

Die Klage, über die gemäß § 84 Abs. 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden werden konnte, weil die Streitsache keine besonderen Schwierigkeiten aufweist und der entscheidungserhebliche Sachverhalt geklärt ist, ist zulässig, aber unbegründet.
1. Die Klage ist im Hauptantrag zulässig und insbesondere als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO statthaft. Die Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens bei Folgeanträgen, die als Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ergeht, ist mit der Anfechtungsklage anzugreifen (BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 16 ff.; vgl. auch BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 10).
2. Die Klage ist aber unbegründet. Denn der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes vom 19. April 2021 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Beklagte hat den weiteren Asylantrag des Klägers zu Recht als unzulässig abgelehnt. Die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 1 AsylG, wonach ein Asylantrag unzulässig ist, wenn im Falle eines Folgeantrags nach § 71 AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist, sind gegeben.
Stellt ein Ausländer nach Rücknahme oder – wie hier – unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag (Folgeantrag), so ist gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Nach § 51 Abs. 1 VwVfG hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat (Nr. 1), neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (Nr. 2), oder Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind (Nr. 3). Gemäß § 51 Abs. 2 VwVfG ist der Antrag nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen. Nach § 51 Abs. 3 VwVfG muss der Antrag binnen drei Monaten gestellt werden, wobei die Frist mit dem Tag beginnt, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erlangt hat.
Diese Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens sind im vorliegenden Fall nicht gegeben. Es fehlt an einem Wiederaufgreifensgrund im Sinne von § 71 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 VwVfG. De Rechtslage hat sich nicht zugunsten des Klägers geändert; insbesondere kann in der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020 im Verfahren C-238/19 keine Rechtslagenänderung gesehen werden. Weitere Wiederaufnahmegründe macht der Kläger nicht geltend.
2.1. Eine Änderung der Rechtslage zugunsten des Klägers i.S.v. § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 VwVfG ist nicht eingetreten. Aus dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19. November 2020 in der Sache des syrischen Staatsangehörigen „EZ“ (C-238/19) ergibt sich entgegen der Ansicht des Klägerbevollmächtigten keine Änderung der Rechtslage im Sinne von § 71 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 VwVfG (so auch OVG Bremen, B.v. 6.8.2021 – 1 LA 294/21 – juris Rn. 10 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, U.v. 12.4.2021 – 14 A 818/19.A – juris Rn. 49 ff.; VG Berlin, U.v. 22.6.2021 – 12 K 112/21.A – juris Rn. 21 ff.; VG Hamburg, U.v. 15.6.2021 – 16 A 1757/21 – juris Rn. 19 ff.: VG Stuttgart, U.v. 4.3.2021 – A 7 K 244/19 – juris Rn. 27 ff.; VG Wiesbaden, U.v. 30.4.2021 – 6 K 470/19.WI.A – juris Rn. 29; VG Trier, U.v. 4.5.2021 – 1 K 1102/21.TR – juris Rn. 23 ff.; VG Regensburg, GB.v. 18.5.2021 – RN 11 K 21.30505 – juris Rn. 24 ff.).
Mit einer Änderung der Rechtslage ist eine entscheidungserhebliche Veränderung der rechtlichen Voraussetzungen gemeint, die beim Erlass des Verwaltungsakts zugrunde gelegt haben. Umfasst sind neben Gesetzesänderungen auch Änderungen ungeschriebener Rechtsquellen, insbesondere des Gewohnheitsrechts, und Fälle, in denen Normen ohne Rechtsänderung ungültig oder unanwendbar werden (vgl. Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, 9. Aufl. 2018, VwVfG, § 51 Rn. 96 m.w.N.). Die Rechtslagenänderung i.S.v. § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 VwVfG setzt mithin immer eine Änderung im Bereich des materiellen Rechts voraus, dem eine allgemeinverbindliche Außenwirkung zukommt (BVerwG, B.v. 29.3.1999 – 1 DB 7.97 – juris Rn. 10; U.v. 27.1.1994 – 2 C 12/92 – juris Rn. 22).
Eine Änderung der Rechtsprechung, selbst der höchstrichterlichen Rechtsprechung stellt grundsätzlich keine Änderung der Rechtslage dar. Gerichtliche Entscheidungsfindung bleibt rechtliche Würdigung des Sachverhalts am Maßstab der vorgegebenen Rechtsordnung. Sie ist nicht geeignet oder darauf angelegt, die Rechtsordnung konstitutiv zu verändern (vgl. BVerwG, B.v. 12.11.2020 – 2 B 1.20 – juris Rn. 8; U.v. 27.1.1994 – 2 C 12.92; U.v. 22.10.2019 – 1 C 26.08; U.v. 11.9.2013 – 8 C 4.12; alle juris). Von dem genannten Grundsatz mögen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, soweit sie nach § 31 BVerfGG besondere Bindungskraft genießen, nicht erfasst sein (vgl. Bergmann, in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 71 AsylG Rn. 25). Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union hat eine solche verbindliche Außenwirkung jedenfalls nicht und kann daher nicht als Änderung der Rechtslage angesehen werden (BVerwG, U.v. 22.10.2009 – 1 C 26.0 – juris Rn. 16; U.v. 22.10.2009 – 1 C 15.08 – juris Rn. 21; Bergmann, in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 71 AsylG Rn. 25).
Etwas anderes ergibt sich nicht – auch nicht für das Asylrecht – aus den vom Klägerbevollmächtigten herangezogenen Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 14. Mai 2020 (C-924/19, C-925/19) und vom 19. November 2020 (C-238/19). Zwar hat der Europäische Gerichtshof die Existenz eines Urteils dieses Gerichtshofs als neue Erkenntnis im Sinne des Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der RL 2013/21/EU eingestuft (EuGH, U.v. 14.5.2020 – C-924/19 – juris Rn. 194) mit der Folge, dass ein Folgeantrag nicht auf der Grundlage dieser Bestimmung abgelehnt werden könne. Allerdings hat der Gerichtshof dies auf den Fall beschränkt, dass das Urteil die Unvereinbarkeit einer nationalen Regelung mit Unionsrecht festgestellt hat, die auch für die dem Folgeantrag zugrundeliegende Erstentscheidung entscheidungserheblich war. Es muss sich mit anderen Worten die Unionsrechtswidrigkeit der Erstentscheidung unmittelbar aus dem EuGH-Urteil ergeben. Davon kann hier bezüglich des Urteils zur Militärdienstverweigerung vom 19. November 2020 (C-238/19) keine Rede sein.
Das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19. November 2020 führt als solches weder allgemein zur Unionrechtswidrigkeit der Entscheidungspraxis des Bundesamtes zur Militärdienstverweigerung in Syrien noch konkret zur Unionsrechtswidrigkeit der Ablehnung des ersten Asylantrags des Klägers (vgl. OVG Bremen, B.v. 6.8.2021 – 1 LA 294/21 – juris Rn. 13; OVG Nordrhein-Westfalen, U.v. 12.4.2021 – 14 A 818/19.A – juris Rn. 68; VGH Baden-Württemberg, B.v. 22.12.2020 – A 4 S 4001/20 – juris Rn. 14; VG Hamburg, U.v. 15.6.2021 – 16 A 1757/21 – juris Rn. 30; VG Wiesbaden, U.v. 30.4.2021 – 6 K 470/19.WI.A – juris Rn. 29; VG Trier, U.v. 4.5.2021 – 1 K 1102/21.TR – juris Rn. 35 f.; VG Regensburg, GB.v. 18.5.2021 – RN 11 K 21.30505 – juris Rn. 38). Anlässlich eines Vorabentscheidungsersuchens des Verwaltungsgerichts Hannover zu Rechtsfragen, die sich im Kontext der Wehrdienstentziehung syrischer Staatsangehöriger ergeben, hat der Gerichtshof vielmehr lediglich Auslegungsfragen betreffend Art. 9 Abs. 2 lit. e) RL 2011/95/EU beantwortet. So hat er ausgeführt, dass eine Militärdienstverweigerung weder in einem bestimmten Verfahren formalisiert werden noch sich der Asylbewerber der Militärverwaltung zur Verfügung gestellt haben müsse, dass der Asylbewerber seinen künftigen militärischen Einsatzbereich unter bestimmten Voraussetzungen nicht kennen müsse und dass unter bestimmten Bedingungen eine starke Vermutung dafür spreche, dass eine Militärdienstverweigerung mit einem der Gründe des Art. 10 der RL 2011/95/EU (= § 3b AsylG) in Zusammenhang stehe. Es handelt sich also lediglich um sehr punktuelle, überwiegend mit der bisherigen Auslegung der Richtlinie übereinstimmende Ausführungen, die weder für jedes Asylbegehren eines syrischen Asylbewerbers von Bedeutung sind noch im Falle einer Bedeutung das Ergebnis präjudizieren. Das gilt namentlich für die genannte „starke Vermutung“. Sie ist von einer Vielzahl von Voraussetzungen abhängig (Vorliegen einer Militärdienstverweigerung, Vorliegen eines Konflikts, in dem der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Artikels 12 Absatz 2 der RL 2011/95/EU (= § 3 Abs. 2 AsylG) fällt, drohende Strafverfolgung oder Bestrafung wegen der Militärdienstverweigerung). Selbst wenn die Vermutung eingreift, hängt ein Erfolg des Asylbegehrens von einer Prüfung der Plausibilität einer Verknüpfung von Verfolgungshandlung mit einem Verfolgungsgrund in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände ab (EuGH, U.v 19.11.2020 – C-238/19 – juris Rn. 61). Angesichts dessen trägt das Urteil nicht erheblich zu der Wahrscheinlichkeit bei, dass der Kläger als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen wäre. Es klärt lediglich in begrenztem Umfang die Auslegung der genannten Normen. Erst recht hat es nicht die Unionsrechtswidrigkeit einer hier entscheidungserheblichen Norm festgestellt (OVG Bremen, B.v. 6.8.2021 – 1 LA 294/21 – juris Rn. 13; OVG Nordrhein-Westfalen, U.v. 12.4.2021 – 14 A 818/19.A – juris Rn. 60 ff. m.w.N.).
Im konkreten Fall ist sogar eindeutig zu verneinen, dass das Urteil von irgendeiner Bedeutung für den Kläger ist. Dem Kläger, soweit er wehrpflichtig ist, droht nämlich als einfachem Wehrdienstentzieher nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes. So ist es nach der Rechtsprechung des Bayer. Verwaltungsgerichtshofs unter Berücksichtigung des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19. November 2020 (C-238/19) nicht beachtlich wahrscheinlich, dass Rückkehrer im militärdienstpflichtigen Alter (Militärdienstpflichtige, Reservisten) allein deshalb in Anknüpfung an eine (unterstellte) oppositionelle bzw. regimefeindliche Gesinnung eine Verfolgung durch syrische Sicherheitskräfte zu befürchten haben, weil sie sich durch Flucht ins Ausland dem Militärdienst entzogen haben (vgl. BayVGH, B.v. 26.1.2022 – 21 ZB 22.30063 – juris Rn. 19; U.v. 23.6.2021 – 21 B 19.33586 – juris).
2.2. Eine nachträgliche Änderung der Sachlage zu Gunsten des Klägers im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 VwVfG wurde vom Klägerbevollmächtigten schon nicht geltend gemacht. Die von Klägerseite angeführte Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs stellt keine nachträgliche Änderung der der ursprünglichen Asylentscheidung zugrundeliegenden Sachlage zugunsten des Klägers im Sinne des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG dar. Eine Änderung der Sachlage liegt vor, wenn Tatsachen, die im Zeitpunkt des Erlasses des früheren Bescheides vorlagen und für die behördliche Entscheidung objektiv bedeutsam waren, nachträglich wegfallen oder wenn neue, für die Entscheidung erhebliche Tatsachen nachträglich eintreten (vgl. BVerwG, U. 4.12.2001 – 4 C 2.00 – juris Rn. 22). Die vorliegende Vorabentscheidung des Gerichtshofs nach Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ist keine entscheidungserhebliche Tatsache (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, U.v. 12.4.2021 – 14 A 818/19.A – juris Rn.48).
Wiederaufnahmegründe i.S.d. § 51 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 VwVfG wurden nicht geltend gemacht.
3. Aus den genannten Gründen ist die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.


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