Verwaltungsrecht

Subsidiärer Schutz für somalischen Staatsangehörigen

Aktenzeichen  20 B 17.30947

Datum:
26.4.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 11846
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3e Abs. 1, § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, Abs. 3
RL 2011/95/EU Art. 2 lit. f, Art. 4 Abs. 4
EMRK Art. 3
AufenthG § 60 Abs. 5

 

Leitsatz

Bei der Gefahrenprognose gem. § 4 Abs. 3 S. 2 AsylG kommt es anders als beim Flüchtlingsschutz ausschließlich auf den nach objektiven Grundsätzen zu ermittelnden ernsthaften Schaden und nicht auf eine begründete Furcht vor einer derartigen Gefahr an. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 11 K 16.33946 2017-04-13 Ent VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist die Frage, ob dem Kläger der subsidiäre Schutzstatus nach § 4 AsylG zusteht.
Die Berufung der Beklagten ist zulässig, aber unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte im Ergebnis zu Recht verpflichtet, dem Kläger subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen, weil dem Kläger bei einer Rückkehr in seine Heimatregion in Somalia eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht.
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG gilt als ernsthafter Schaden die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
Ein drohender ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG erfordert stets eine erhebliche individuelle Gefahrendichte. Diese kann nur angenommen werden, wenn dem Schutzsuchenden ein ernsthafter Schaden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dieser Prüfungsmaßstab folgt aus dem Tatbestandsmerkmal „… tatsächlich Gefahr liefe …“ in Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2011/95/EU (vormals Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG). Der darin enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Dieser stellt bei einer Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 -, BVerwGE 136, 377 Rn.18 ff., U. v. 17.11.2011 – 10 C 13/10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 20, jeweils mit Verweis auf EGMR, U. v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06, Saadi/Italien -, NVwZ 2008, 1330).
Für alle Anträge auf internationalen Schutz, worunter der hier begehrte subsidiäre Schutz im Sinne des § 4 AsylG fällt (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG), gilt die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, bei Rückkehr einen ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Beweiserleichterung in Gestalt einer widerleglichen tatsächlichen Vermutung setzt aber auch im Rahmen des subsidiären Schutzes voraus, dass ein innerer Zusammenhang zwischen dem vor der Ausreise erlittenen oder damals unmittelbar drohenden Schaden (Vorschädigung) und dem befürchteten künftigen Schaden besteht. Denn die der Vorschrift zugrundeliegende Wiederholungsvermutung beruht wesentlich auf der Vorstellung, dass eine Verfolgungs- oder Schadenswiederholung – bei gleichbleibender Ausgangssituation – aus tatsächlichen Gründen naheliegt (BVerwG, Urt. v. 27.4.2010 – 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360 Rn 31, Urt. v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn 21).
Bei der Gefahrenprognose kommt es anders als beim Flüchtlingsschutz ausschließlich auf den nach objektiven Grundsätzen zu ermittelnden ernsthaften Schaden und nicht auf eine begründete Furcht vor einer derartigen Gefahr an (§ 4 Abs. 3 Satz 2 AsylG). Bei der Entscheidung darüber, ob die Gefahr von Misshandlungen besteht, sind die absehbaren Folgen einer Abschiebung im Zielstaat unter Berücksichtigung der dortigen allgemeinen Lage und der besonderen Umstände des Betroffenen zu prüfen (EGMR, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06, Saadi/Italien – NVwZ 2008, 1330, Rn. 130f.). Das ernsthafte und individualisierbare Risiko, einer Art. 3 EMRK verletzenden Behandlung ausgesetzt zu werden, wird zum Gegenstand der Gefahrenprognose (Marx, AsylVfG, 8. Auflage 2014, § 4 Rn. 41).
Der Senat hält das Vorbringen des Klägers in den wesentlichen Punkten für glaubwürdig. Die vom Bundesamt aufgeführten Ungereimtheiten im Vortrag des Klägers sind nicht so gewichtig, um die Glaubwürdigkeit des Klägers insgesamt in Frage zu stellen. Die vom Kläger vorgetragenen fluchtauslösenden Ereignisse sind nachvollziehbar und in wesentlichen Teilen schlüssig. Unter Würdigung des Vortrags des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat und aufgrund des Gesamteindruckes, den der Senat vom Kläger gewonnen hat, hat der Kläger die von ihm vorgetragenen Ereignisse tatsächlich erlebt. Die behauptete Zwangsrekrutierung des Klägers und seiner Geschwister durch die Al-Shabaab ist aufgrund der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse plausibel. Danach steht für den Senat fest, dass der Kläger vor seiner Flucht einen ernsthaften Schaden erlitten hat und von weiterem ernsthaftem Schaden bedroht war.
Nach Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU besteht eine tatsächliche Vermutung, dass sich eine frühere Verfolgung oder ein ernsthafter Schadenseintritt bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen wird. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften (vgl. BVerwG, Urteil vom 1.6.2011 – 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22, RdNr. 21 f.; vgl. z. Vorstehenden auch OVG NW v. 4.5.2017 RdNr. 15 ff., OVG d. Saarlandes, Urt. v. 11.3.2017 – 2 A 215/17 –, RdNr. 19 f, juris; Berlit, ZAR 2017, 110 ff.). Solche Gründe hat das Bundesamt nicht angeführt und sie sind auch sonstwie nicht ersichtlich. Nach der Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 31. Januar 2017 zu Somalia: Sicherheitssituation in Middle Shabelle, Balcad, sind die ländlichen Gebiete immer noch in den Händen der Al-Shabaab. Seit 2012 haben somalische Truppen und Einheiten der AMISOM (African Union Mission in Somalia) die wichtigsten Städte in Middle Shabelle aus den Händen der Al-Shabaab befreit; am 26. Juni 2012 wurden die Al-Shabaab aus Balcad vertrieben. Die Al-Shabaab behielten jedoch die Kontrolle in ländlichen Gebieten. In Middle Shabelle kam es seither immer wieder zu Angriffen der Al-Shabaab. Die Regierungstruppen gingen im Rahmen verschiedener Operationen gegen Al-Shabaab vor. Nach den briefing notes des Bundesamtes vom 5. März 2018 eroberten am 2. März 2018 schwer bewaffnete Al-Shabaab-Kämpfer nach eigenen Angaben die Kontrolle über die Stadt Balcad. Wenig später sollen sich die Al-Shabaab-Kämpfer wieder zurückgezogen haben. Damit kann eine erneute Gefährdung des Klägers durch die al-Shabaab nicht ausgeschlossen werden, so dass die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU weiter greift.
Eine interne Schutzalternative bestünde für den Kläger nicht. Nach § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG wird der subsidiäre Schutz nicht zuerkannt, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor der Gefahr eines Schadens oder Zugang zu Schutz vor Schaden hat und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Letzteres ist hier nicht der Fall. Es ist nicht anzunehmen, dass der Kläger außerhalb seiner Heimatstadt Balad wie z.B. in Mogadishu die Möglichkeit hätte, eine Existenz aufzubauen. Davon geht offenbar auch die Beklagte aus, nachdem sie für den Kläger ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 5 AufenthG zuerkannt hat.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
Die Revision wird nicht zugelassen, da die in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe nicht vorliegen.


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