Verwaltungsrecht

Systemische Mängel des Asylverfahrens in Ungarn

Aktenzeichen  M 22 S 16.50206

Datum:
4.5.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 134016
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 27a, § 34a
Dublin III-VO Art. 2 Abs. 3
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Mit Blick auf die Praxis bei der Verhängung von Asylhaft und der erfolgten Änderung des ungarischen Asylrechts, die unzulässige Abschiebungen in Drittstaaten ermöglichen könnte, spricht einiges für die Einschätzung, dass das ungarische Asylsystem derzeit systemische Mängel aufweist, als deren Folge nach Ungarn zurückgeführte Asylbewerber mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen würden, Opfer einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung iSv Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK zu werden. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage (M 22 K 16.50205) gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamts für … vom 26. Februar 2016 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen eine ihm drohende Abschiebung nach Ungarn im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
Der … geborene Antragsteller ist irakischer Staatsangehöriger, kurdischer Volkszugehörigkeit, und reiste nach eigenen Angaben am 9. Juni 2015 auf dem Landweg in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein, wo er am 17. August 2015 einen auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkten Asylantrag stellte.
Mit Blick auf einen Treffer im EURODAC-Fingerabdrucksystem der Kategorie I in Bezug auf Ungarn wandte sich das Bundesamt am 7. Oktober 2015 mit dem Ersuchen um Übernahme an die zuständigen ungarischen Behörden. Diese beantworteten das Aufnahmeersuchen nicht.
Mit streitgegenständlichen Bescheid vom 26. Februar 2016, am 3. März 2016 als Einschreiben zur Post gegeben, lehnte das Bundesamt den in Deutschland gestellten Antrag des Antragstellers als unzulässig ab (Nr. 1), ordnete die Abschiebung nach Ungarn an (Nr. 2) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 3). Zur Begründung wurde ausgeführt, der Asylantrag sei nach § 27a AsylG unzulässig, da Ungarn aufgrund des dort gestellten Asylantrags gem. Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche Umstände, die die Antragsgegnerin veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gem. Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich.
Mit Schriftsatz vom 14. März 2016, eingegangen beim Verwaltungsgericht München am 15. März 2016, ließ der Antragsteller durch seine Bevollmächtigte Klage gegen den dieser am 8. März 2016 zugegangenen Bescheid vom 26. Februar 2016 (M 22 K 16.50205) zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erheben und weiter beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung anzuordnen.
Zur Begründung führte die Antragspartei u.a. aus, es bestünden hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Ungarn an systemischen Mängeln leiden würden und dem Antragsteller eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK drohe.
Das Bundesamt legte mit Schreiben vom 28. April 2016 die Behördenakte vor und äußerte sich im Übrigen nicht.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in den Verfahren M 22 S 16.50206 und M 22 K 16.50204 sowie auf die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Der zulässige Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist begründet. Nach der im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung stellen sich die Erfolgsaussichten in der Hauptsache zumindest als offen dar. Die im Rahmen der Ermessensentscheidung über den Antrag vorzunehmende Interessenabwägung fällt bei dieser Sachlage zugunsten des Antragstellers aus.
Mit Blick auf die vorliegenden Informationen zur Praxis bei der Verhängung von Asylhaft, darüber hinaus aber auch wegen der vor kurzem erfolgten Änderung des ungarischen Asylrechts, die in ihren Auswirkungen soweit ersichtlich (nach Gemeinschaftsrecht) unzulässige Abschiebungen in Drittstaaten ermöglichen würde, spricht hier einiges für die Einschätzung, dass das ungarische Asylsystem derzeit systemische Mängel aufweist, als deren Folge nach Ungarn zurückgeführte Asylbewerber mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen würden, Opfer einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK zu werden (zu den Rechtsänderungen vgl. u.a. das Gutachten des Instituts für Ostrecht, München, vom 02.10.2015 an das VG Düsseldorf; allgemein zur Situation von Asylbewerbern in Ungarn aus neuerer Zeit mit Ausführungen zu den geänderten Regelungen, zur Inhaftierungspraxis und zu der staatlicherseits geschürten xenophoben Stimmung siehe insbesondere die Stellungnahme des Menschenrechtskommissars des Europarates vom 17.12.2015 zu den beim EGMR anhängigen Streitsachen Nr. 44825/15 und Nr. 44944/15, die zu der Schlussfolgerung gelangt, dass gegenwärtig praktisch niemand in Ungarn internationalen Schutz erlangen könne). Im Ergebnis ist jedenfalls davon auszugehen, dass es einer weiteren Prüfung der Problematik bedarf, die dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss (aus der neueren Rechtsprechung systemische Mängel bejahend bzw. für wahrscheinlich erachtend vgl. etwa VG München, U.v. 20.11.2015 – M 16 K 15.50315 -; VG Düsseldorf, GB v. 2.12.2015 – 22 K 3263/15.A -; VG Berlin, B.v. 14.1.2016 – 3 L 508.15 A – VG Aachen, U.v. 10.3.2016 – 5 K 1049/15.A -; solche Mängel verneinend etwa VG Dresden, B.v. 30.12.2015 – 2 L 1378/15.A – und VG Ansbach, B.v. 10.12.2015 – AN 3 S 15.50559 – alle in juris).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 80 AsylG).


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