Verwaltungsrecht

Teilweise erfolgreiches Eilverfahren eines Nigerianers auf vorläufige Duldung bis zum Ergebnis einer Urkundenüberprüfung

Aktenzeichen  Au 6 E 19.1935

Datum:
9.12.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 34265
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
AufenthG § 10 Abs. 3, § 50, § 58, § 60a Abs. 2
GG Art. 6
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

1. Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Rechtsanspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach unanfechtbar abgelehntem Asylantrag setzt einen strikten Rechtsanspruch voraus, der nur vorliegt, wenn alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen für die Erteilung des begehrten Aufenthaltstitels vorliegen. (Rn. 49) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragsteller vorläufig zu dulden, bis das Deutsche Generalkonsulat Lagos dem Antragsgegner das Ergebnis der am 14. November 2019 eingeleiteten Urkundenüberprüfung mitgeteilt hat.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
II. Der Antragsteller und der Antragsgegner tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
III. Der Streitwert wird auf 1.250 Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antragsteller begehrt im Eilverfahren die einstweilige Duldung bis zur Entscheidung über seinen Antrag auf Aufenthaltserlaubnis.
I.
Der Antragsteller ist nigerianischer Staatsangehöriger und beantragte hier erfolglos Asyl. Dabei gab er gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge an, er habe keine nigerianischen Ausweisdokumente, sein Reisepass sei mit seinem Koffer am Bahnhof in * gestohlen worden (Behördenakte Bl. 128), sein Vater habe * geheißen, seine Mutter habe * geheißen, beide seien verstorben, er habe keine Verwandten mehr in Nigeria; auf Vorhalt bestätigte er, er sei alleine und habe keine Familie in Nigeria (ebenda Bl. 129); als sein Vater verstorben sei, sei er 13 Jahre alt gewesen, als seine Mutter verstorben sei, sei er 16 Jahre alt gewesen (ebenda Bl. 130). Er sei am * 1981 in Nigeria geboren (ebenda Bl. 127 f.).
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Asylantrag mit bestandskräftigem Bescheid vom 27. September 2017 ab, forderte den Antragsteller zur Ausreise innerhalb von 30 Tagen auf und drohte ihm die Abschiebung nach Nigeria an (ebenda Bl. 115 ff.). Der Antragsteller reiste daraufhin und bis heute nicht aus.
Der Antragsteller hat die Vaterschaft für ein am * 2017 geborenes Kind einer deutschen Staatsangehörigen anerkannt und mit ihr die gemeinsame Personensorge vereinbart; für ein weiteres am * 2019 geborenes Kind derselben Kindesmutter strebt er die Vaterschaftsanerkennung und eine gemeinsame Personensorge an. Die Kinder leben bei ihrer Mutter; nach deren eidesstattliche Erklärung habe sie weitere zwei Kinder aus einer geschiedenen Ehe, für welche der frühere Ehemann Unterhalt zahle und der die Kinder unregelmäßig kontaktiere. Die Kinder des Antragstellers lebten ebenfalls bei ihr und würden nur von ihr versorgt. Der Antragsteller halte sich nahezu täglich bei ihr und ihrer Familie auf, nehme wesentliche Erziehungsaufgaben war, betreue die Kinder und spiele mit ihnen und begleite sie zum Arzt; es bestehe eine innige gewachsene familiäre Vater-Kind-Beziehung. Auch für die Kinder aus erster Ehe sei er quasi zum Ersatzvater geworden. Ihr drittes Kind (erstes Kind mit dem Antragsteller) leide an wiederkehrenden Erkrankungen im Lungenbereich; im Jahr 2018 habe sie mit dem Kind nahezu jeden Monat den Arzt aufsuchen müssen; wenn dieses Kind stationär untergebracht gewesen sei, habe der Antragsteller ihre Kinder bestens versorgt. Sie wolle ihn auch heiraten (VG-Akte Bl. 29 f.). Die Kindesmutter ist nicht erwerbstätig, sie lebt mit ihrer Bedarfsgemeinschaft von Sozialhilfe und weiteren öffentlichen Leistungen (Behördenakte Bl. 838).
Der Antragsteller ist vorbestraft:
– Amtsgericht, Strafbefehl vom 14.6.2016 – *: Geldstrafe 25 Tagessätze zu 15,00 Euro wegen Bedrohung (Behördenakte Bl. 70, 766),
– Amtsgericht, Strafbefehl vom 5.9.2018 – *: Geldstrafe 80 Tagessätze zu 10,00 Euro wegen Erschleichens eines Aufenthaltstitels oder Duldung durch Falschangaben gegenüber dem Bundesamt (Behördenakte Bl. 740).
Erst im Zusammenhang mit der absehbaren Geburt seines ersten Kindes legte der Antragsteller dem Antragsgegner neben einer Urkunde über die Anerkennung der Vaterschaft für das ungeborene Kind eine am 8. Dezember 2016 ausgestellte nigerianische Geburtsurkunde mit dem Geburtsdatum „* 1981“ mit einer Altersbestätigung einer nigerianischen Behörde vom 7. Dezember 2016 und einer Einzahlungsquittung über eine Urkundsgebühr vor (Behördenakte Blatt 88). Auf Frage verneinte er den Besitz eines Reisepasses (ebenda Bl. 92). Erst zehn Monate später legte er einen auf seinen Namen lautenden, vom * 2010 bis * 2015 gültigen abgelaufenen nigerianischen Reisepass mit dem Geburtsdatum „* 1985“ vor (ebenda Bl. 156). Darin war ein französisches Schengen-Visum zu Besuchszwecken gültig vom 4. Januar 2014 bis 3. April 2014 enthalten; ebenfalls sind Einreisestempel vom 13. Januar 2014 enthalten.
Durch seinen damaligen Bevollmächtigten ließ der Antragsteller vorbringen, das Geburtsdatum im Reisepass sei falsch, in der Geburtsurkunde aber richtig. Der Antragsgegner forderte ihn auf, sich einen gültigen Reisepass zu beschaffen und stellte eine Vorabzustimmung zur Visumserteilung für den Fall der Ausreise zwecks Nachholung des Visumsverfahrens einschließlich Urkundenüberprüfung in Aussicht. Der Antragsteller lehnte eine freiwillige Ausreise ab, da er kein Geld für die Reise habe.
Das Deutsche Generalkonsulat in Lagos teilte dem Antragsgegner auf Anfrage mit, die Dauer des Visumverfahrens hänge von der Dauer der Urkundenüberprüfung ab, die derzeit zwischen 6 und 12 Wochen betrage; wegen des großen Andrangs würden Termine vorab zur Buchung zur Verfügung gestellt, es könne jedoch mehrere Wochen dauern, bis ein Termin zur Beantragung eines Visums in Lagos vergeben werden könne.
Eine im weiteren Verfahren vom damaligen Bevollmächtigten erhobene Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wurde wegen Nichtbetreibens eingestellt (VG Augsburg, B.v. 7.10.2019 – Au 6 K 18.1865).
Über seine gegenwärtigen Bevollmächtigten ließ der Antragsteller mitteilen, er werde zur Erteilung eines Visums mit Aufenthaltstitel freiwillig ausreisen; es sollte hierzu eine Überprüfung seiner Urkunden durchgeführt werden und der Antragsteller sollte einen Termin zur Beantragung des Visums beim deutschen Generalkonsulat in Lagos vereinbaren. Der Antragsgegner forderte den Antragsteller zur Vorlage der für eine Urkundenüberprüfung erforderlichen Unterlagen auf. Der Antragsteller legte daraufhin eine Ledigkeitsbescheinigung und eine Bestätigung angeblich seines Vaters namens „*“ datiert auf den 25. April 2019 vor, worin u.a. das Geburtsdatum des Antragstellers mit * 1985 angegeben wird, der Name seines Vaters mit „*“ und der Name seiner Mutter mit „*“ (Behördenakte Bl. 1050).
Das Deutsche Generalkonsulat teilte dem Antragsgegner mit, dass nur vollständig ausgefüllte und mit allen erforderlichen Unterlagen versehene Anträge auf Urkundenüberprüfung bearbeitet werden könnten, die Urkundenüberprüfung im Rahmen des Visumsverfahrens in der Regel schneller wäre, weil der Antragsteller eventuell noch Urkunden in Nigeria beschaffen müsste und diese vor Ort nachreichen könnte, innerhalb 4-6 Monaten ab Einleitung der Urkundenüberprüfung könne mit einem Ergebnis gerechnet werden (ebenda Bl. 1069). Am 18. Juli 2019 reichte das Deutsche Generalkonsulat den zunächst gestellten Antrag auf Urkundenüberprüfung wegen Unvollständigkeit zurück; es würden noch Schulzeugnisse und Angaben zu Referenzpersonen in Nigeria benötigt.
Die Bevollmächtigte des Antragstellers führte aus, dieser habe keine Schulzeugnisse, sondern nur die Daten seiner schulischen Ausbildung und nur zwei statt drei Referenzpersonen. Sie beantragte eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG.
Der Antragsgegner bat das Deutsche Generalkonsulat am 17. Oktober 2019 unter Zuleitung der zusätzlichen Angaben des Antragstellers erneut um Einschätzung der Urkundenüberprüfung; in den Formblättern hatte der Antragsteller die Namen seiner – im Asylverfahren noch beide als verstorben angegebenen – Eltern als „*“ und „*“ mit einer angeblichen Wohnadresse in Nigeria angegeben (ebenda Bl. 1277). Durch Zufall erfuhr der Antragsgegner, dass der Antragsteller für den 6. November 2019 einen Termin zur Beantragung des Visums in Lagos vereinbart hatte. Auf Nachfrage teilte die Bevollmächtigte mit, der Antragsteller werde diesen Termin nicht wahrnehmen, weil ihm die Ausreise wegen der dauerhaften Trennung von seinen Kindern unzumutbar sei, da nicht sicher sei, dass die Urkundenüberprüfung angesichts der unvollständigen Unterlagen überhaupt durchgeführt werde und auch ein Visum nicht zeitnah erteilt werde.
Am 14. November 2019 bat der Antragsgegner das Deutsche Generalkonsulat um Urkundenüberprüfung, welches mitteilte, diese könne bis zu 6 Monate dauern (ebenda Bl. 1366). Er bestand gegenüber dem Antragsteller auf einer freiwilligen Ausreise.
Mit Bescheid vom 29. November 2019 lehnte der Antragsgegner die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und die Erteilung einer Duldung ab; letztere u.a. mit der Begründung, es liege an der mangelnden Mitwirkung des Antragstellers, dass die Urkundenüberprüfung nun bis zu acht Monate in Anspruch nehme, was er aber durch eine Wahrnehmung seines Visumsantragstermins in Lagos, den er vorwerfbar habe verstreichen lassen, sowie eigene Mitwirkung vor Ort im Herkunftsstaat wesentlich hätte verkürzen können.
Am 11. November 2019 ließ der Antragsteller durch seine Bevollmächtigte beantragen,
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO verpflichtet, bis zur Entscheidung über den Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis von der Durchführung der Abschiebung abzusehen.
Zur Begründung wurde das bisherige Vorbringen im Verwaltungsverfahren vertieft und im Wesentlichen ausgeführt, der Antragsteller sei bis zur Entscheidung über diesen Antrag zu dulden, weil er die Vaterschaft für zwei Kinder inne habe, die gemeinsame Sorge für das erste Kind bereits bestehe und für das zweite Kind geplant sei und er nahezu täglich Kontakt mit seiner Lebensgefährtin und den gemeinsamen Kindern habe. Wegen des Schutzes von Ehe und Familie sei eine Abschiebung rechtlich ausgeschlossen, er wirke im Urkundenüberprüfungsverfahren mit, habe nun über eine andere Person ein Foto aus seiner Schulzeit erlangt und lebe in einer tatsächlichen Lebensgemeinschaft; eine Trennung über mehrere Wochen von seinen Kindern sei diesen nicht zumutbar. Seine Identität sei jetzt geklärt. Der Antragsteller habe einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis; gegen den ablehnenden Bescheid werde noch Klage erhoben werden. Er sei auch nicht bereit, freiwillig auszureisen.
Der Antragsgegner beantragte,
Der Antrag wird abgelehnt.
Er führte im Wesentlichen aus, der Antragsteller sei vollziehbar ausreisepflichtig und habe keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Dem stehe bereits die Sperre des § 10 Abs. 3 AufenthG entgegen, die mangels Anspruchs auf Aufenthaltserlaubnis nicht überwunden werde. Der Antragsteller erfülle nicht die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG, insbesondere bestünden Ausweisungsinteressen durch seinen nachhaltigen Verstoß gegen die Mitwirkungspflichten im Asylverfahren, die falschen Angaben über Geburtsdatum und Passbesitz, die Strafbefehle wegen versuchter Nötigung und Falschangaben im Visumsverfahren, die ungeklärte Identität wegen der widersprüchlichen Daten in Geburtsurkunde und Reisepass sowie die fehlende Einreise mit dem erforderlichen Visum, weil er nicht zu Besuchszwecken sondern auf Dauer nach Deutschland habe kommen wollen. Der Antragsgegner könne auch hiervon nicht absehen, weil die Identität ungeklärt sei und die Ursachen für das nun längere Urkundenüberprüfungsverfahren in der Sphäre des Antragstellers lägen, der zunächst falsche, später keine vollständigen Angaben gemacht und widersprüchliche Unterlagen vorgelegt habe. Ob der Antragsteller vom Entgegenhalten der Ausweisungsgründe für die Visumserteilung absehe, behalte er dem Visumsverfahren vor.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die Behördenakten verwiesen.
II.
Der zulässige Antrag ist nur teilweise unbegründet.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte, oder auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, wenn dies nötig erscheint, um wesentliche Nachteile für den Antragsteller abzuwenden. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete strittige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
1. Der Antrag auf einstweilige Aussetzung der Abschiebung ist nur im tenorierten Umfang begründet, da nur vorübergehend bis zum Vorliegen des Ergebnisses der Urkundenüberprüfung noch offen ist, wie lange eine Trennung des Klägers von seinen Kindern dauern würde, müsste er nach einer zwischenzeitlichen Abschiebung das Visumverfahren nachholen, und ihm nur deswegen eine derzeit noch nicht absehbar lange Trennung von seinen Kindern unzumutbar ist.
a) Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.
Art. 6 GG gewährt keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt (vgl. nur BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris). Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen unter Betrachtung des Einzelfalles und Gewichtung der familiären Bindungen einerseits und der sonstigen Umstände des Einzelfalles andererseits zu berücksichtigen (vgl. BayVGH, B.v. 2.3.2016 – 10 CS 16.408 – juris Rn. 5 m.w.N.).
Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen. Eine auch nur vorübergehende Trennung kann nicht als zumutbar angesehen werden, wenn das Gericht keine Vorstellung davon entwickelt, welchen Trennungszeitraum es für zumutbar erachtet. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BayVGH, B.v. 2.3.2016 – 10 CS 16.408 – juris Rn. 7 m.w.N.).
Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte. Bei einer Vater-Kind-Beziehung kommt hinzu, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich wird, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes haben kann (vgl. BayVGH, B.v. 2.3.2016 – 10 CS 16.408 – juris Rn. 6 m.w.N.).
Andererseits ist eine kurzfristige Trennung von Familienangehörigen nicht von vornherein unzumutbar, insbesondere ist eine Trennung zur Nachholung des Visumsverfahrens im Einzelfall zumutbar (BVerfG, B.v. 15.3.2018 – 2 BvQ 24/18).
Dies vorausgeschickt, besteht derzeit noch keine Trennungs- und Aufenthaltsperspektive des Antragstellers, die in einer Gewichtung der Zumutbarkeit als eine überschaubar kurze Trennung zur Nachholung des Visumverfahrens gewertet werden könnte. Vielmehr muss derzeit das Ergebnis der Urkundenüberprüfung abgewartet werden, das der Klärung dient, ob die vom Antragsteller vorgelegten, einander inhaltlich widersprechenden Urkunden seines Heimatstaats – Geburtsurkunde mit Bestätigung seines angeblichen und behauptet verstorbenen Vaters einerseits, Reisepass andererseits – echt und inhaltlich wahr sind. Da Dauer (und Ausgang) der Urkundenüberprüfung offen sind, kann derzeit nicht abgeschätzt werden, in welchem Zeitraum der Kläger in Nigeria ein Visumverfahren nachholen könnte. Es ist somit sowohl der Ausländerbehörde des Antragsgegners als auch dem Verwaltungsgericht noch nicht möglich, eine Vorstellung davon zu entwickeln, welcher Trennungszeitraum hier zumutbar ist, selbst wenn die Verfahrensverzögerungen als Folge mangelnder Mitwirkung wesentlich vom Antragsteller zu vertreten sind.
b) Allerdings kann auch der Antragsteller nicht darauf vertrauen, dass der Antragsgegner auf die Nachholung des Visumverfahrens verzichten müsste.
Angesichts der langjährigen und hartnäckigen Täuschung des Antragstellers über Passbesitz, Geburtsdatum, Existenz von Eltern und Familienangehörigen im Herkunftsstaat und seinem Verstreichenlassen des Termins zur Visumbeantragung im Herkunftsstaat, in deren Zuge er möglicherweise selbst viel schneller die erforderlichen Nachweise zu seinen Urkunden vor Ort hätte beschaffen können, sowie seiner Straffälligkeit im Bundesgebiet liegt derzeit ein gewichtiges öffentliches Interesse an der Nachholung des Visumverfahrens vor einer Legalisierung seines Aufenthalts im Bundesgebiet durch Erteilung eines Aufenthaltstitels vor.
Im Einzelnen hat der Kläger nach derzeitigem Stand über sein Geburtsdatum getäuscht (vgl. oben) und seinen Passbesitz nicht nur verheimlicht, auch um so eine Abschiebung zu verhindern, sondern eine Lügengeschichte zum angeblichen Passverlust aufgetischt. Ebenso hat er entweder gegenüber dem Bundesamt oder gegenüber dem Antragsgegner über die Namen und die Existenz seiner Eltern getäuscht; denn er gab gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge an, sein Vater habe G.O. geheißen, seine Mutter habe J. geheißen, beide seien verstorben, er habe keine Verwandten mehr in Nigeria (BAMF-Akte Bl. 129), während er nun eine Bestätigung angeblich seines Vaters namens „P.O.“ datiert auf den 25. April 2019 vorlegte und den Namen seines Vaters mit „P.O.“ und seiner Mutter mit „A.O.“ angab (Behördenakte Bl. 1050), die beide in seinem Herkunftsstaat leben sollen. Welche dieser Angaben nun zutreffen, muss die laufende Urkundenüberprüfung erweisen. Dass angeblich Tote Jahre nach ihrem Ableben noch neue Bestätigungen ausstellen sollen, führt zu einem erheblichen öffentlichen Interesse an der Klärung der Echtheit und Wahrheit der vorgelegten Unterlagen. Nach den jahrelangen offenbar vorsätzlichen Täuschungen des Antragstellers hat er jegliches Vertrauen deutscher Behörden verspielt. Das Verwaltungsgericht sieht keinen Anlass, dem Kläger vor Abschluss der Urkundenüberprüfung noch irgendeine seiner Angaben zu glauben, solange sie nicht von deutschen Behörden bestätigt ist.
c) Welches Gewicht dieser öffentliche Belang gegenüber dem privaten Belang der Kinder des Antragstellers an einer möglichst kurzen Trennung von ihrem Vater letztlich besitzen wird, muss der abschließenden Gewichtung nach Vorliegen des Ergebnisses der Urkundenüberprüfung vorbehalten bleiben.
d) Dieses öffentliche Interesse steht aber derzeit einem über das Ergebnis der Urkundenüberprüfung hinausreichenden Duldungsanspruch des Antragstellers bis zu einer (bestandskräftigen) Entscheidung über die Erteilung eines Aufenthaltstitels entgegen, so dass seinem Antrag nur teilweise zu entsprechen ist.
2. Der weiterreichende Antrag auf einstweilige Aussetzung der Abschiebung bis zur (bestandskräftigen) Entscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ist unbegründet, da aus der Antragstellung heraus für den Antragsteller kein verfahrensmäßiger Duldungsgrund entspringt und er im Übrigen auch materiell keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat, der bis dahin zu einem rechtlichen Abschiebungshindernis führen könnte.
a) Der Antragsteller ist vollziehbar ausreisepflichtig und daher grundsätzlich abzuschieben.
Nach § 58 Abs. 1 AufenthG ist ein Ausländer abzuschieben, wenn die Ausreisepflicht vollziehbar, eine gewährte Ausreisefrist abgelaufen und die freiwillige Erfüllung der Ausreisepflicht nicht gesichert ist.
Der Antragsteller ist nach § 50 Abs. 1 AufenthG zur Ausreise verpflichtet, weil er einen nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG für den Aufenthalt im Bundesgebiet erforderlichen Aufenthaltstitel nicht besitzt. Die Ausreisepflicht ist nach § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG auch vollziehbar. Die mit Bescheid des Bundesamts vom 27. September 2017 gewährte Ausreisefrist ist längst abgelaufen. Da der Antragsteller aber langjährig seiner Ausreisepflicht nicht freiwillig nachgekommen ist, ist die freiwillige Erfüllung der Ausreisepflicht auch nicht gesichert.
b) Zwar hat der Antragsteller die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 AufenthG beantragt, jedoch war er zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels und hielt sich auch nicht rechtmäßig im Bundesgebiet auf, sodass die Beantragung keine Erlaubnisfiktion nach § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG i.V.m. § 81 Abs. 3, Abs. 4 AufenthG auslöste und die Ausreisepflicht vollziehbar blieb.
aa) Ein Anspruch aus § 81 Abs. 3 und Abs. 4 AufenthG besteht nicht, da sich der Antragsteller nicht erlaubt im Bundesgebiet aufgehalten hat oder aufhält, sondern seit der bestandskräftigen Ablehnung seines Asylerstantrags nach § 50 Abs. 1 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig ist.
bb) Auch ein sonstiger verfahrensbezogener Anspruch auf Duldung steht dem Antragsteller nicht zu. Es widerspräche der durch § 50 Abs. 1, § 58 Abs. 1 und 2, § 81 Abs. 3 und Abs. 4 AufenthG vorgegebenen Systematik und Konzeption des Aufenthaltsgesetzes, denen zufolge für die Dauer eines Erteilungsverfahrens ausschließlich unter den in § 81 Abs. 3 und Abs. 4 AufenthG geregelten Voraussetzungen ein vorläufiges Bleiberecht besteht, darüber hinaus derartige „Vorwirkungen“ anzuerkennen und für die Dauer eines Erteilungsverfahrens auf eine Aufenthaltserlaubnis sonst eine Duldung vorzusehen (vgl. BayVGH, B.v. 26.11.2018 – 19 C 18.54 – juris Rn. 24).
c) Mangels verfahrensbezogenen Anspruchs kann letztlich für dieses Antragsverfahren dahinstehen, ob der Antragsteller einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 AufenthG überhaupt besitzt – der Antragsgegner verweist auf die Nichterfüllung der Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 AufenthG -, da jedenfalls auch die Erteilungssperren des § 10 Abs. 3 Satz 1 und Satz 3 sowie § 11 Abs. 1 AufenthG derzeit entgegenstehen.
aa) Zunächst steht die Erteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 AufenthG entgegen, da diese Aufenthaltserlaubnis nicht im fünften sondern im sechsten Abschnitt des Aufenthaltsgesetzes geregelt ist und daher nicht Asylbewerbern erteilt werden darf, deren Asylantrag unanfechtbar abgelehnt worden ist, wie hier beim Antragsteller.
bb) Auch die Ausnahme eines Erteilungsanspruchs nach § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG ist nicht erfüllt, da hierfür ein strikter Anspruch erforderlich ist, dem jedoch die Nichterfüllung der allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG durch den Antragsteller entgegensteht.
Ein „Anspruch“ auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Sinne des § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG setzt einen strikten Rechtsanspruch voraus, der nur vorliegt, wenn alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen für die Erteilung des begehrten Aufenthaltstitels vorliegen, weil nur dann der Gesetzgeber selbst eine Entscheidung über das zu erteilende Aufenthaltsrecht getroffen hat (vgl. BVerwG, U.v. 16.12.2008 – 1 C-37/07 – BVerwGE 132, 382 juris Rn. 21). Der für die Anwendung der Ausnahmevorschrift des § 10 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 1 AufenthG erforderliche strikte Rechtsanspruch verlangt deshalb auch, dass der Ausländer alle allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 AufenthG erfüllt (zur Nachholung des Visumsverfahrens vgl. BayVGH, B.v. 23.09.2016 – 10 C 16.818 – juris Rn. 10). Fehlt es daran, genügen die in § 5 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 AufenthG vorgesehenen Möglichkeiten, in bestimmten atypischen Fällen oder im Ermessenswege vom Vorliegen der Erteilungsvoraussetzungen abzusehen, nicht, um einen Anspruch im Sinne von § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG zu begründen (NdsOVG, B.v. 5.9.2017 – 13 LA 129/17 – juris Rn. 16 f.; zum Visumsverfahren OVG Berlin-Bbg, B.v. 22.10.2014 – OVG 11 S. 59.14 – juris Rn. 4). Ein Anspruch auf Grund einer Ermessensvorschrift genügt auch dann nicht, wenn das Ermessen im Einzelfall „auf Null“ reduziert ist (BVerwG, B.v. 16.2.2012 – 1 B 22.11 – juris; BayVGH, B.v. 21.7.2015 – 10 CS 15.859 – juris Rn. 44 m.w.N.).
Der Antragsteller erfüllt nach den Feststellungen des Antragsgegners nicht die Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 1a und Nr. 2 AufenthG; insbesondere ist seine Identität derzeit noch ungeklärt und im Verfahren der Urkundenüberprüfung zu klären, zweitens liegt wegen seiner Straffälligkeit ein öffentliches Ausweisungsinteresse vor. Soweit die Ausländerbehörde von dieser Voraussetzung nach § 25 Abs. 5 i.V.m. § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG absehen kann, liegt dies in ihrem Ermessen und stellt gerade keinen strikten Anspruch dar. Hinzu kommt, dass auch tatbestandlich kein Ausreisehindernis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 und Satz 2 AufenthG besteht – der Antragsteller hätte mit seinem Reisepass längst ausreisen können und hat die Zweifel an seiner Identität nach § 25 Abs. 5 Satz 4 AufenthG selbst zu vertreten.
Aus diesen Gründen und wegen fehlender Aufenthaltsgestattung im Antragszeitpunkt kann er das Visumverfahren auch nicht nach § 39 Nr. 4 oder Nr. 5 AufenthV im Bundesgebiet nachholen und die auch fehlende Regelerteilungsvoraussetzung des erforderlichen Visumsverfahrens so im Nachhinein erfüllen.
3. Der Antragsteller und der Antragsgegner haben die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte zu tragen (§ 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
4. Die Höhe des Streitwerts folgt aus § 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG i.V.m. Nr. 1.5 und 8.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.


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