Verwaltungsrecht

temporäres Abschiebungshindernis wegen Schwangerschaft

Aktenzeichen  M 19 E 18.53032

Datum:
23.5.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 33928
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 34a, § 60 Abs. 5, Abs. 7
VwGO § 123 Abs. 1 S. 1
VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

Eine Schwangerschaft begründet ein vorübergehendes inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, das im Rahmen einer Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 AsylG ausnahmsweise von dem sonst allein auf die Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote beschränkten Bundesamt auch noch nach Erlass der Abschiebungsanordnung zu berücksichtigen ist.  (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass vorläufig für den Zeitraum der Mutterschutzfrist (acht Wochen nach dem Tag der Entbindung) nicht aufgrund bestandskräftiger Abschiebungsanordnung abgeschoben werden darf. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Die Antragstellerin wendet sich im Wege des Eilrechtsschutzes nach § 123 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) gegen die Vollziehung einer Abschiebungsanordnung in einem bestandskräftigen Dublin-Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt).
Die Antragstellerin, nach eigenen Angaben nigerianische Staatsangehörige, hat bereits unter dem Az. 7450925-232 einen Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland gestellt. Mit bestandskräftigem Bescheid vom 11. Mai 2018 lehnte das Bundesamt diesen Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 4).
Bevor die Abschiebungsanordnung vollzogen werden konnte, stellte die Antragstellerin am 15. November 2018 erneut einen förmlichen Asylantrag.
Mit Bescheid vom 16. November 2018, zugestellt am 22. November 2018, lehnte das Bundesamt den Antrag auf Abänderung des Bescheides vom 11. Mai 2018 ab. Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, es lägen keine Gründe für eine Rücknahme gemäß § 48 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) vor. Die weitere Unzulässigkeit des Asylantrags könne auch auf dem erfolglosen Abschluss des früheren Asylverfahrens beruhen, wenn die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nicht vorliegen würden (§ 29 Abs. 1 Nr. 5 AylG). Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz lägen nach den Erkenntnissen des Bundesamts nicht vor. Einer erneuten Abschiebungsanordnung bedürfe es nicht, da mit Bescheid vom 11. Mai 2018 bereits eine vollziehbare Abschiebungsanordnung vorliege, aus der weiterhin vollzogen werden könne.
Am 5. Dezember 2018 hat die Antragstellerin zur Niederschrift beim Verwaltungsgericht München Klage gegen den Bescheid erhoben (M 19 K 18.53031) und zugleich beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, von einer Mitteilung an die Ausländerbehörde gemäß § 71 Abs. 5 AsylG abzusehen.
Zur Begründung bezog sie sich darauf, dass die Situation in Italien für Flüchtlinge inhuman sei und sie überdies schwanger sei. Die Geburt sei für den 1. Juni 2019 errechnet.
Das Bundesamt legte die Asylakte auf elektronischem Weg vor, stellte aber keinen Antrag.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in beiden Verfahren und die vorgelegte Asylakte, auch die des Erstverfahrens (Az. …*) Bezug genommen.
II.
1. Der Antrag ist zulässig, insbesondere ist er als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO statthaft.
Zwar ist vorläufiger Rechtsschutz gegen eine kraft Gesetzes sofort vollziehbare Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zu gewähren (vgl. § 34 a Abs. 2 Satz 1, § 75 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 5 Satz 1 VwGO), sodass ein Antrag nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht statthaft und damit unzulässig wäre (vgl. § 123 Abs. 5 VwGO). Ist die Abschiebungsanordnung aber bestandskräftig geworden und sieht das Bundesamt – wie vorliegend – von einer erneuten Abschiebungsanordnung ab, muss die Betroffene in unmittelbarer Anwendung des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG einen Antrag beim Bundesamt auf Wiederaufgreifen des Verfahrens stellen, wenn sie eine nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage geltend machen will (vgl. BayVGH, B.v. 21.4.2015 – 10 CE 15.810 – juris Rn. 5 m.w.N.; VG München, B.v. 27.2.2019 – M 11 E 19.50113 – juris Rn. 10; VG Gelsenkirchen, B.v. 13.12.2017 – 12 a L 3499/17.A – juris Rn 4; VG Greifswald, B.v. 29.6.2017 – 4 B 734/17 As HGW – juris Rn. 17; zum Ganzen vgl. Dickten in Kluth/Heusch BeckOK Ausländerrecht, 21. Ed., 1.2.2019, AsylG § 71 Rn. 37).
Die Sicherung dieses Anspruchs auf Wiederaufgreifen des Verfahrens kann die Antragstellerin im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO beantragen, mit dem Ziel, dass der Bundesrepublik als Rechtsträgerin des Bundesamts aufgegeben wird, der für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass vorläufig nicht aufgrund der früheren Mitteilung und der bestandskräftigen Abschiebungsanordnung abgeschoben werden darf (vgl. BayVGH, B.v. 21.4.2015 – 10 CE 15.810 – juris Rn. 5 m.w.N.; VG München, B.v. 27.2.2019 – M 11 E 19.50113 – juris Rn. 10; VG Gelsenkirchen, B.v. 13.12.2017 – 12 a L 3499/17.A – juris Rn 4).
2. Der Antrag ist teilweise begründet.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragstellerin vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Die Antragstellerin hat demnach sowohl die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund), als auch das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch), glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung – ZPO). Der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist hierbei der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
Vorliegend ist ein (nur) vorübergehender Anordnungsanspruch – hier ein Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Asylverfahrens gemäß § 51 VwVfG – glaubhaft gemacht. Die nunmehr bestehende Schwangerschaft veranlasst eine neue Beurteilung der Abschiebungsanordnung unter den Voraussetzungen des § 51 VwVfG. Nach § 51 Abs. 1 VwVfG hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsakts zu entscheiden, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat (Nr. 1), neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (Nr. 2) oder Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung gegeben sind (Nr. 3).
Im vorliegenden Fall hat sich die dem Verwaltungsakt vom 11. Mai 2018 zugrunde liegende Sachlage nachträglich zugunsten der Betroffenen geändert. Die Abschiebung nach Italien kann derzeit im Sinne des § 34a AsylG nicht durchgeführt werden. Es besteht wegen der Schwangerschaft der Antragstellerin ein vorübergehendes inlandsbezogene Abschiebungshindernis, das im Rahmen einer Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 AsylG ausnahmsweise von der sonst allein auf die Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote beschränkten Antragsgegnerin auch noch nach Erlass der Abschiebungsanordnung zu berücksichtigen ist (vgl. BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – AuAS 2014, 244; Bergmann in Dienelt/Bergmann, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 29 AsylG Rn. 35), da die Abschiebung nur durchgeführt werden darf, wenn sie rechtlich und tatsächlich möglich ist.
Die Antragstellerin hat durch Vorlage des Mutterpasses nachgewiesen, dass sie schwanger ist. Die Bestimmungen über die Mutterschutzfristen im Mutterschutzgesetz (vgl. § 3 Abs. 2 und § 6 Abs. 1 MuSchG) sind bei der Frage der rechtlichen Durchführbarkeit einer Abschiebung entsprechend heranzuziehen, so dass im Zeitraum von acht Wochen nach der Entbindung grundsätzlich ein Abschiebungshindernis besteht. Hierdurch sollen Gefahren für Mutter und Kind aufgrund der mit einer zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung verbundenen physischen und psychischen Belastung vermieden werden. Die Wertungen des Mutterschutzgesetzes sind im Rahmen der Durchführbarkeit von Abschiebungen zu berücksichtigen. Mit dem Beschäftigungsverbot innerhalb der Mutterschutzfrist korreliert ein Abschiebungsverbot, da die psychische und physische Belastung einer Schwangeren in dieser Zeit derart enorm ist, dass es durch eine zwangsweise Aufenthaltsbeendigung zu einer ernsthaften Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit der Mutter wie auch des (ungeborenen) Kindes kommen kann (vgl. VG Würzburg, B.v. 25.4.2019 – W 8 S 19.50295 – juris Rn. 12 ff.).
Im Hinblick auf Art. 1, 2 und 6 GG ergibt sich aus der vorübergehenden Reiseunfähigkeit der Antragstellerin ein temporäres Abschiebungshindernis auch für das neugeborene Kind.
3. Da die Reiseunfähigkeit der Antragstellerin lediglich temporär ist, ist die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung allerdings nur zur entsprechenden Mitteilung zu verpflichten, von einer Abschiebung nur für den Zeitraum der Mutterschutzfrist (acht Wochen nach dem Tag der gegenwärtig wohl noch ausstehenden Entbindung) abzusehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO und § 83b AsylG. Die Antragsgegnerin ist nur zu einem geringen Teil unterlegen, weil das temporäre Abschiebungshindernis ausgehend von der bevorstehenden Niederkunft nur für wenige Wochen besteht.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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