Verwaltungsrecht

Übernahme des Schulgeldes und der Beförderungskosten

Aktenzeichen  Au 3 E 16.1289

Datum:
16.9.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB IX SGB IX § 2 Abs. 1 S. 1, 2
SGB VIII SGB VIII § 2 Abs. 2, § 10 Abs. 1 S. 1, § 35a
SGB XII SGB XII § 53 Abs. 1 S. 1
VwGO VwGO § 52 Nr. 4, § 113 Abs. 1, § 123, § 154 Abs. 1, § 188 S. 2
ZPO ZPO § 920 Abs. 2

 

Leitsatz

Die Entscheidung über die Erforderlichkeit und Geeignetheit einer bestimmten Hilfemaßnahme obliegt dem Jugendamt. Diesem kommt insoweit ein gerichtlich nicht kontrollierbarer Beurteilungsspielraum zu.  (redaktioneller Leitsatz)
Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung beschränkt sich in diesem Fall darauf, dass allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet worden, keine sachfremden Erwägungen in die Entscheidung eingeflossen und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind. Die Entscheidung über die Geeignetheit und Notwendigkeit einer bestimmten Hilfemaßnahme ist daher nur auf ihre Vertretbarkeit hin überprüfbar.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
II.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsteller.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.

Gründe

I.
Der am … 2005 geborene Antragsteller begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Übernahme
von Schulgeld für den Besuch einer privaten Schule außerhalb seines Wohnorts und
von Kosten der mit einem privaten Kraftfahrzeug durchgeführten schultäglichen Beförderung vom Wohnort zur Schule und zurück.
1. Nach einem ärztlich-psychologischen Bericht der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Klinik J. vom 29. März 2016, in der der Antragsteller vom 15. Oktober 2015 bis 11. März 2016 teilstationär behandelt wurde, liegt bei diesem eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0) sowie eine kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92.8) vor. Die Aufnahme in die Klinik sei erfolgt, weil bislang eine schulische Integration aufgrund hoher motorischer Unruhe und Verweigerung schulischer Anforderungen gescheitert sei. Der Antragsteller, der über durchschnittliche kognitive Fähigkeiten verfüge, habe seit seiner (nach Besuch eines Waldorfkindergartens erfolgten) Einschulung im September 2012 mehrfach die Schule gewechselt. Die 1. Klasse sei mit Unterstützung einer individuellen Schulbegleitung wiederholt worden. Im dritten Schuljahr habe er zunächst eine Stütz- und Förderklasse besucht. In allen besuchten Schulen habe der Antragsteller eine hohe motorische Unruhe sowie leistungsverweigerndes und grenztestendes Verhalten gezeigt. Im Juli 2015 sei er dann in ein anthroposophisch orientiertes Internat in Baden-Württemberg aufgenommen und dort beschult worden. Aus diesem sei er von seiner Mutter im September 2015 wegen starken Heimwehs und (gegenüber der Mutter geäußerter) suizidaler Absichten wieder genommen worden.
Der Antragsteller befindet sich seit 2012 in ambulanter kinderpsychiatrischer Behandlung.
2. Mit Beschluss vom 11. März 2016 entzog das Amtsgericht … – Familiengericht – der allein sorgeberechtigten Mutter des Antragstellers vorläufig u. a. das Recht
zur Aufenthaltsbestimmung,
zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen nach §§ 27 ff. SGB VIII und
zur Regelung der schulischen Angelegenheiten
und ordnete insoweit eine Ergänzungspflegschaft an.
Der Antragsteller wurde sodann auf Antrag der Ergänzungspflegerin ab dem 15. März 2016 stationär in der anthroposophisch orientierten Einrichtung „Zuhause auf Gut H.“ in M. als Maßnahme der Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 34 SGB VIII (Bescheid der Antragsgegnerin vom 16.3.2016) untergebracht und besuchte mit einer Schulbegleiterin, die auch die Beförderung des Antragstellers auf dem Schulweg durchführte, die private „Freie Schule L. – D.“ im Ortsteil L. der Gemeinde B.. Die Kosten der Schulbegleiterin wurden von der Antragsgegnerin als Maßnahme der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII übernommen.
Auf die Beschwerde der Kindesmutter hob das Oberlandesgericht … – Familiensenat – mit Beschluss vom 6. Mai 2016 den Beschluss des Amtsgerichts … – Familiengericht – vom 11. März 2016 auf. Obwohl der Familiensenat in den Gründen seines Beschlusses an die Kindesmutter „appelliert“ hatte, „den Verbleib des Kindes in der ihren Vorstellungen und ihrem Wunsch entsprechenden anthroposophischen Einrichtung mit angegliederter Grundschule auch nach der ihrer Beschwerde stattgebenden Entscheidung des Senats zu ermöglichen“, beendete die Kindesmutter daraufhin dessen Aufenthalt in der Einrichtung; der Antragsteller lebt seither wieder (gemeinsam mit seiner 2003 geborenen Schwester) im Haushalt der Mutter in A.. Die Antragsgegnerin stellte daher mit Bescheid vom 25. Mai 2016 die Gewährung von Jugendhilfe in Form der Unterbringung, Betreuung und Übernahme der Kosten in der Einrichtung ein. Der Antragsteller besuchte aber nach den Pfingstferien weiterhin die private Schule in B., wobei er von seiner Mutter mit deren Kraftfahrzeug schultäglich von der Wohnung in A. zur Schule und zurück (einfache Entfernung ca. 40 km) gefahren wurde.
3. Mit Schreiben vom 7. Juni 2016 teilte die Antragsgegnerin der Kindesmutter u. a. mit, dass aus der Sicht des Jugendamts eine stationäre Maßnahme die geeignete Jugendhilfe für den Antragsteller sei. Da diese von der Kindesmutter abgelehnt werde, sei eine teilstationäre Maßnahme in Form einer Heilpädagogischen Tagesstätte (HPT) nach §§ 27 und 32 SGB VIII die notwendige und geeignete Unterstützung für die Kindesmutter und den Antragsteller.
Eine Übernahme der Kosten des Besuchs der freien Schule über das Ende des Schuljahres 2015/2016 hinaus sei nicht möglich. Die Kindesmutter werde deshalb aufgefordert, sich mit dem staatlichen Schulamt wegen der weiteren Beschulung im kommenden Schuljahr in Verbindung zu setzen.
Mit Bescheid vom 15. Juni 2016 bewilligte die Antragsgegnerin für den weiteren Besuch der privaten Schule eine Schulbegleitung vom 30. Mai 2016 bis zum „29.07.2017“. Der Hilfezeitraum wurde mit „Änderungsbescheid“ vom 30. Juni 2016 auf die Zeit vom 30. Mai 2016 bis längstens 29. Juli 2016 korrigiert. Gleichzeitig bewilligte die Antragsgegnerin die Übernahme des Schulgelds für den Besuch der „Freien Schule L. – D.“ in Höhe von 305,00 € und der Fahrtkosten „analog eines Schülertickets der Preisstufe 6“ in Höhe von 106,30 €, jeweils monatlich, für die Zeit vom 30. Mai 2016 bis einschließlich 31. Juli 2016 als Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII. Die befristete Bewilligung erfolge ausschließlich aus Kindeswohlgesichtspunkten, um einen erneuten Schulwechsel im laufenden Schuljahr zu vermeiden. Ein Anspruch auf Übernahme der Schul- und Fahrtkosten bestehe nicht, weil eine Beschulung am Wohnort möglich sei. Die Mutter des Antragstellers wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine Übernahme der Kosten des Schulgelds sowie von Fahrtkosten über das Schuljahr 2015/2016 hinaus nicht möglich sei.
Die von der Kindesmutter geltend gemachte Erstattung des Differenzbetrags zwischen den tatsächlich entstandenen Beförderungskosten, die sie mit Tankquittungen zu belegen versuchte, und den bewilligten Fahrtkosten wurde von der Antragsgegnerin in der Folge abgelehnt.
4. Am 13. Juli 2016 beantragte der Antragsteller Jugendhilfe in Form von Übernahme des Schulgelds sowie der Fahrtkosten für den Besuch der „Freien Schule L. – D.“ im kommenden Schuljahr 2016/2017. Diesen Antrag lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 3. August 2016 unter Hinweis auf die vorrangige Zuständigkeit der Schulverwaltung, die die Möglichkeit einer Beschulung des Antragstellers in der Sprengel- oder einer anderen Schule am Wohnort bejaht habe, ab. Hiergegen erhob der Antragsteller am 23. August 2016 zum Verwaltungsgericht Klage mit dem Antrag, die Antragsgegnerin zur Übernahme der Schul- und Fahrtkosten auch für das kommende Schuljahr zu verpflichten. Der Antragsteller bzw. die Kindesmutter legte dabei eine „Fachärztlich-psychologische Kurzstellungnahme“ des den Antragsteller ambulant behandelnden Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie vom 22. Juli 2016 vor, in der die weitere Beschulung des Antragstellers in der privaten Schule, die „oberste Priorität“ haben sollte, empfohlen wurde.
Über die Klage wurde noch nicht entschieden.
5. Mit Beschluss vom 15. Juli 2016 ersetzte das Amtsgericht … – Familiengericht – den Antrag der sorgeberechtigten Kindesmutter auf Gewährung von Jugendhilfe in Form einer Erziehung in einer Heilpädagogischen Tagesstätte (HPT) und erteilte der Kindesmutter die Weisung, die Jugendhilfemaßnahme anzunehmen und dafür Sorge zu tragen, dass der Antragsteller die HPT besucht. Nach dem Tatbestand der Entscheidung habe die Kindesmutter die Hilfemaßnahme unter Hinweis auf „Skandale um eingesperrte Kinder in den sogenannten heilpädagogischen Wohngruppen“ vorher abgelehnt.
Die Jugendhilfemaßnahme wurde sodann von der Antragsgegnerin bewilligt (vorgesehener Beginn: 20.7.2016); der Antragsteller hat nach einer dem Gericht fernmündlich erteilten Auskunft der Antragsgegnerin die Heilpädagogische Tagesstätte jedoch nicht besucht.
6. Mit Bescheid vom 6. September 2016 bewilligte die Antragsgegnerin die Übernahme der Kosten einer Schulbegleitung für das Schuljahr 2016/2017 als Maßnahme der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII. Eine konkrete Schule wurde in dem Bescheid nicht bezeichnet.
7. Am 8. September 2016 stellte der Antragsteller, gesetzlich vertreten durch die Kindesmutter, beim Verwaltungsgericht Augsburg den Antrag,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, vorläufig Jugendhilfe in Form der Übernahme des Schulgelds für die Privatschule „Freie Schule L. – D.“ in L. und der bisher tatsächlich angefallenen Fahrtkosten (Differenzbetrag) sowie der zukünftig tatsächlich entstehenden Fahrtkosten zu gewähren.
Das Jugendamt der Antragsgegnerin habe bereits im April 2016 verfügt, dass der Antragsteller die private Schule besuchen müsse. Nachdem eine Beförderung mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht möglich (gewesen) sei, sei die Kindesmutter gezwungen (gewesen), den Antragsteller selbst zur Schule zu bringen und wieder abzuholen. Einen Schultransport habe das Jugendamt nicht gewährt. Die tatsächlich entstandenen Fahrtkosten seien weitaus höher als die Kosten einer Monatsfahrkarte, wie von der Antragsgegnerin bewilligt. Die Kindesmutter sei nicht in der Lage, diese Kosten des Schulbesuchs für die Vergangenheit (soweit noch offen) und für die Zukunft aus dem Familieneinkommen, das nach einem vorgelegten Bescheid des Jobcenters … vom 26. August 2016 aus Unterhalt für die Schwester des Antragstellers, Leistungen nach dem SGB II und Kindergeld besteht, zu tragen. Es werde deshalb die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur sofortigen Auszahlung der noch ausstehenden Fahrtkosten für den zurückliegenden Zeitraum, eines Vorschusses für die monatlich anfallenden tatsächlichen Fahrtkosten sowie zur Übernahme des Schulgeldes von August 2016 bis Juli 2017 beantragt.
8. Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
Soweit der Antragsteller Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII durch Übernahme der für den Besuch der „Freien Schule L. – D.“ entstehenden Kosten (Schulgeld und Fahrtkosten) beanspruche, fehle es an einem Anordnungsanspruch. Die als Trägerin der Jugendhilfe nach § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII nur nachrangig verpflichtete Antragsgegnerin sei nicht verpflichtet, die Beschulung des Antragstellers in der privaten Schule sicherzustellen. Für die Sicherstellung der Beschulung sei vorrangig das Staatliche Schulamt in der Stadt … zuständig, das mit Schreiben vom 21. Juni 2016 bereits mitgeteilt habe, dass die Möglichkeit zur Beschulung des Antragstellers an der Sprengelschule oder einer anderen … Schule bestehe. Insoweit könne der Antragsteller auch lediglich eine angemessene, nicht jedoch eine optimale Beschulung verlangen.
Im Übrigen stelle die Sicherstellung der Beschulung allein, d. h. ohne weitere aus fachlicher Sicht dringend notwendige Erziehungshilfen (zu deren Annahme keine Bereitschaft bestehe), keine erforderliche und geeignete Maßnahme der Jugendhilfe dar.
Eine Schulbegleitung – insoweit sei die Antragsgegnerin als Trägerin der Jugendhilfe zuständig – sei dem Antragsteller auch für das Schuljahr 2016/2017 gewährt worden.
Soweit der Antragsteller die Übernahme des Differenzbetrags zwischen den in der Vergangenheit entstandenen Beförderungskosten und bewilligten Tarifleistungen beanspruche, fehle es am Anordnungsgrund.
Auf den Antragserwiderungsschriftsatz der Antragsgegnerin vom 12. September 2016 wird im Übrigen verwiesen.
9. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten und die beigezogene Jugendamtsakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Verwaltungsgericht, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn die Gefahr besteht, dass durch die Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Eine einstweilige Anordnung kann auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis getroffen werden, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern, oder aus sonstigen Gründen geboten ist (Regelungsanordnung; § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO).
Eine derartige Anordnung setzt voraus, dass ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) besteht und sich der Antragsteller auf einen Anordnungsanspruch berufen kann. Das Vorliegen beider Voraussetzungen ist vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO). Eine solche Glaubhaftmachung liegt in entsprechender Anwendung von § 23 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgesetzbuchs Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) dann vor, wenn das Vorliegen von Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch überwiegend wahrscheinlich ist.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die verwaltungsgerichtliche Beurteilung ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
Die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung liegen nicht vor.
1. Soweit der Antrag auf Übernahme der Kosten der Beschulung in der „Freien Schule L. – D.“ (Schulgeld und Beförderungskosten) im Schuljahr 2016/2017 gerichtet ist, hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht.
1.1 Im Katalog der Leistungen der Jugendhilfe, die in § 2 Abs. 2 SGB VIII abschließend aufgezählt sind, erscheint die begehrte Hilfe (Beschulung in einer Privatschule) zwar nicht, doch wird dadurch nicht ausgeschlossen, dass eine derartige Leistung innerhalb einzelner Leistungsbereiche, die in §§ 11 bis 41 SGB VIII detailliert geregelt sind, als weitergehende Maßnahme in Frage kommen kann. In Betracht kommt hier insbesondere der Bereich der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche nach § 35a SGB VIII. Nach Abs. 3 dieser Vorschrift richten sich Aufgaben und Ziel der Hilfe, die Bestimmung des Personenkreises sowie die Art der Leistungen nach § 53 Abs. 3 und 4 Satz 1 und den §§ 54, 56 und 57 SGB XII, soweit diese (sozialhilferechtlichen) Bestimmungen auch auf seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Personen Anwendung finden. § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII nennt als Leistung die Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung, die, bei Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen, auch seelisch Behinderten i. S. d. § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX zu gewähren ist. Insoweit kann als Maßnahme der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII auch die Übernahme der Kosten des Besuchs einer Privatschule in Betracht kommen (vgl. z. B. Wiesner in Wiesner, SGB VIII, 5. Auflage 2015, § 35a Rn. 112; Vondung in Kunkel, LPK-SGB VIII, 4. Auflage 2011, § 35a Rn. 56; jeweils m. w. N.).
Allerdings bestimmt § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, dass Verpflichtungen anderer, insbesondere der Träger anderer Sozialleistungen und der Schulen, durch das SGB VIII nicht berührt werden; nach Satz 2 dürfen auf Rechtsvorschriften beruhende Leistungen anderer nicht deshalb versagt werden, weil nach dem SGB VIII entsprechende Leistungen vorgesehen sind. Der Gesetzgeber hat damit (im Bereich der schulischen Bildung) im Verhältnis Jugendhilfe und Schule einen Vorrang der Schule definiert, der dazu führt, dass ein Jugendhilfeträger erst und nur dann verpflichtet sein kann, Leistungen der Hilfe zur Erlangung einer angemessenen Schulbildung zu erbringen, wenn das staatliche Schulsystem nicht in der Lage ist, eine den kognitiven Fähigkeiten des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Beschulung zu gewährleisten, wenn also nach den konkreten Umständen des Einzelfalles im öffentlichen Schulwesen eine bedarfsdeckende Hilfe in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht nicht zur Verfügung steht, d. h. nicht präsent ist (vgl. z. B. BVerwG, B.v. 17.2.2015 – 5 B 61.14 -; OVG NW, B.v.16.11.2015 – 12 A 1639/14 – beide juris).
1.2 Von vorstehenden Erwägungen ausgehend, ist ein Anordnungsanspruch nicht zu verneinen.
Es besteht zwar kein Zweifel daran, dass der Antragsteller i. S. d. § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII seelisch behindert ist. Dies wird auch von der Antragsgegnerin anerkannt, wie (nicht nur) aus deren Bescheid vom 6. September 2016 hervorgeht, mit dem eine Schulbegleitung auch für das Schuljahr 2016/2017 als Maßnahme der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII bewilligt wurde. Dass zum Ausgleich der zweifellos (auch) im Lebensbereich „Schule“ bestehenden Teilhabebeeinträchtigung nicht auch die Beschulung des Antragstellers in der privaten Schule als Maßnahme der Jugendhilfe bewilligt wurde, kann rechtlich jedoch nicht beanstandet werden.
Dies folgt bereits daraus, dass die Beschulung des Antragstellers unter Einsatz eines Schulbegleiters – wie von der Antragsgegnerin bewilligt – auch an einer Grundschule in …, entweder der Sprengel- oder einer anderen Schule, möglich wäre, wie vom Staatlichen Schulamt bei der Stadt … mit Schreiben vom 21. Juni 2016 an das Jugendamt der Antragsgegnerin bestätigt wurde. Dass eine Beschulung an der privaten Schule bereits aufgrund geringerer Klassenstärken effektiver wäre, ist zwar anzunehmen, doch besteht keine Verpflichtung des Jugendhilfeträgers, die bestmögliche Schulausbildung zu gewährleisten (vgl. Meysen in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 7. Auflage 2013, § 10 Rn. 24 m. w. N. aus der Rechtsprechung). Dass eine angemessene Beschulung (mit Schulbegleitung) an einer Schule in … nicht möglich wäre, hat der Antragsteller im konkreten Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht glaubhaft gemacht. Aus den vorliegenden fachärztlichen Stellungnahmen ergibt sich nicht die zwingende Notwendigkeit des Besuchs der privaten Schule, um eine angemessene Schulausbildung zu gewähren. Zwar mögen diese fachärztlichen Empfehlungen ein gewisses Indiz für die Geeignetheit einer Beschulung in der privaten Schule enthalten, dass nur dadurch eine angemessene Schulausbildung gewährleistet werden kann, ist den Äußerungen jedoch nicht zu entnehmen.
Darüber hinaus hat der Antragsteller bzw. seine Mutter weder dem Jugendamt noch dem Verwaltungsgericht die der „Fachlich-Psychologischen Kurzstellungnahme“ des behandelnden Facharztes (mit) zugrundeliegende Stellungnahme der „Freien Schule L. – D.“ (ohne Datum) mit ihrem gesamten Inhalt zur Kenntnis gegeben. Vielmehr war beim Kopieren der Stellungnahme ein wesentlicher Teil abgedeckt worden, so dass u.U. entscheidungserhebliche Aussagen der Schule nicht berücksichtigt werden konnten. Das bewusste Zurückhalten der Informationen sowie insgesamt die fehlende Kooperationsbereitschaft der Kindesmutter muss zulasten des Antragstellers gehen.
Unabhängig von der Frage der Nachrangigkeit der Jugendhilfe obliegt die Entscheidung über die Erforderlichkeit und Geeignetheit einer bestimmten Hilfemaßnahme dem Jugendamt. Diesem kommt insoweit ein gerichtlich nicht kontrollierbarer Beurteilungsspielraum zu. Denn nach ständiger verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung unterliegt die Entscheidung über die Erforderlichkeit und Geeignetheit einer bestimmten Maßnahme einem kooperativen sozialpädagogischen Entscheidungsprozess unter Mitwirkung der Fachkräfte des Jugendamts und des betroffenen Hilfeempfängers, falls dieser bzw. sein gesetzlicher Vertreter mitwirkt (was vorliegend nicht oder nur in sehr eingeschränktem Umfang zutrifft), der nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, sondern vielmehr eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation beinhaltet, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss (sog. sozialpädagogische Fachlichkeit). Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung beschränkt sich in diesem Fall darauf, dass allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet worden, keine sachfremden Erwägungen in die Entscheidung eingeflossen und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind. Die Entscheidung über die Geeignetheit und Notwendigkeit einer bestimmten Hilfemaßnahme ist daher nur auf ihre Vertretbarkeit hin überprüfbar (vgl. BVerwG, U.v. 24.6.1999 – 5 C 24.98 – BVerwGE 109, 155 ff.; BayVGH, U.v. 24.6.2009 – 12 B 09.602 – juris Rn. 26). Ein Anordnungsanspruch wäre daher nur dann zu bejahen, wenn sich die Ablehnung der beantragten Maßnahme am Maßstab der sozialpädagogischen Fachlichkeit als nicht vertretbar erweisen würde (vgl. BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 21.11 – BVerwGE 145, 1 Rn. 13). Dass letzteres der Fall ist, hat der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht.
Vielmehr kann der Ansatz des Jugendamtes, dass vorrangig die außerhalb des schulischen Bereichs liegenden Ursachen der Probleme des Antragstellers mit den Mitteln der Jugendhilfe einer Behandlung zuzuführen sind, weil nur dann das schulische Verhalten des Antragstellers effektiv und auf Dauer beeinflusst werden kann, nicht beanstandet werden. Es spricht vieles dafür, dass beim Kläger ein gravierendes, auf fehlender oder zumindest erheblich eingeschränkter Erziehungsfähigkeit der Kindesmutter beruhendes Erziehungsdefizit vorliegt. Hiervon geht auch das Amtsgericht … – Familiengericht – aus. So wird in den Gründen des familiengerichtlichen Beschlusses vom 14. Juli 2016 folgendes ausgeführt:
„Das Gericht ist der Auffassung, dass zwischen dem Kind und der Mutter eine altersuntypische und damit gefährdende Abhängigkeit des Kindes von der Mutter vorliegt.
Die Kindsmutter hat dem Willen des Kindes offenbar nichts entgegenzusetzen und folgt diesem ohne Berücksichtigung des Wohles des Kindes. Damit ist sie nicht in Lage, die Bedürfnisse des Kindes zu erkennen und dementsprechend zu handeln.
Entsprechende Rückmeldungen der Einrichtung, in der sich das Kind zeitweise befand, ergaben, dass das Kind im mütterlichen Haushalt offenbar keine Erziehung erhalten hat und sich dies auf das soziale Verhalten des Kindes gravierend ausgewirkt hat. Das Kind habe in der Einrichtung ungeteilte Aufmerksamkeit eingefordert und habe es nicht ertragen können, wenn es diese nicht bekam.
Das Kind habe das Verhalten eines Kleinkindes gezeigt, dass auf sofortige Bedürfnisbefriedigung ausgelegt sei.
Darüber hinaus ist das Kind offenbar im mütterlichen Haushalt extrem emotional belastet.
Demgegenüber diente der zeitweilige Aufenthalt des Kindes in der Einrichtung auf „Gut H. und der Besuch der anthroposophischen Grundschule der Förderung der emotionalen sozialen und schulischen Entwicklung und damit auch dem Wohl des Kindes.“
Dass die Situation im mütterlichen Haushalt für den Antragsteller problembehaftet ist und eine Erziehung zu einem altersentsprechenden sozialadäquaten Verhalten offensichtlich nicht, jedenfalls nicht in ausreichendem Maße stattfindet, wird auch durch eine Äußerung der privaten Schule anlässlich eines Telefongesprächs mit dem Jugendamt am 12. Juli 2016 bestätigt. Danach sei seitens der Schule ein eindeutiger Unterschied im Verhalten des Antragstellers vor und nach dem Verlassen der Einrichtung „H.“ festgestellt worden. Nachdem die Kindesmutter den Antragsteller aus der Einrichtung genommen und wieder in den eigenen Haushalt aufgenommen hatte, sei dieser wesentlich unentspannter und aufmüpfiger gewesen als während seines Aufenthalts und der Betreuung in der Einrichtung. Diese schulische Beobachtung belegt, dass es einer weiteren „Behandlung“ des Antragstellers in einer Einrichtung der Jugendhilfe bedarf, die der schulischen Förderung „vorgelagert“ sein muss, um überhaupt einen effektiven Schulbesuch zu ermöglichen. Eine solche Hilfe wird auch vom Jugendamt angestrebt und vorgeschlagen (siehe z. B. Schreiben der Antragsgegnerin vom 7.6.2016 an die Kindesmutter), scheiterte bislang jedoch am Widerstand und der mangelnden Mitwirkungsbereitschaft der Kindesmutter.
Schließlich kann der Antragsteller einen Anordnungsanspruch auch nicht daraus herleiten, dass die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 30. Juni 2016 die Fortsetzung der Beschulung in der privaten Schule auch nach der Herausnahme des Antragstellers aus der Einrichtung in M. als Maßnahme der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII bewilligte. In diesem Bescheid wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Hilfe nur im Interesse des Kindeswohls zur Vermeidung eines weiteren belastenden Schulwechsels während des laufenden Schuljahres erfolgt und kein Anspruch auf Weitergewährung besteht.
Ein dauernder weiterer Besuch der Schule wäre nur dann in Frage gekommen, wenn sich die Kindesmutter dafür entschieden hätte, den Antragsteller in der Jugendhilfeeinrichtung zu belassen. Das hat sie jedoch nicht getan, obwohl ihr dies nicht zuletzt auch vom Oberlandesgericht … – Familiensenat – in den Gründen des Beschlusses vom 6. Mai 2016 mit Nachdruck empfohlen worden war.
2.Soweit die Erstattung der in der Vergangenheit, d. h. insbesondere in den Monaten Juni und Juli entstandenen tatsächlichen Aufwendungen für die von der Kindesmutter mit ihrem Privatfahrzeug durchgeführte Beförderung des Antragstellers vom Wohn- zum Schulort und zurück (abzüglich der bewilligten Kosten in Höhe des Preises einer Schülermonatsfahrkarte) begehrt wird, fehlt es bereits an einem Anordnungsgrund.
Die Antragsgegnerin weist insoweit zutreffend darauf hin, dass in Bezug auf zurückliegende Zeiträume ein jugendhilferechtlicher Bedarf, der gleichsam rückwirkend zu decken wäre, nicht besteht.
Über die Kostenerstattung ist daher im Widerspruchsverfahren, das nach Angaben der Antragsgegnerin bei ihr anhängig ist, und ggf. in einem weiteren Klageverfahren zu entscheiden.
3. Nach allem ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO mit der Kostenfolge nach § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
Die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens beruht auf § 188 Satz 2 VwGO.


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