Verwaltungsrecht

Ukraine, Folgeantrag, Eilverfahren, kein Rechtsschutzbedürfnis für Zwischenverfügung, einstweilige Aussetzung der Abschiebung, keine Umdeutung des Folgeantrags in isolierten Wiederaufnahmeantrag, Folgeverfahren nicht abschließend entschieden, Abschiebungshindernis gem. § 71 Abs. 5 AsylG, Anordnungsgrund gegeben

Aktenzeichen  W 6 E 21.30346

Datum:
6.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 9371
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
AsylG § 71
VwVfG § 24 Abs. 3
VwVfG § 25 Abs. 1
VwVfG § 51
GG Art. 19 Abs. 4
RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der zuständigen Ausländerbehörde unverzüglich mitzuteilen, dass die Abschiebung des Antragstellers aufgrund des Folgeantrags vom 26. Februar 2021 bis zu einer Mitteilung des Bundesamtes, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorliegen, nicht vollzogen werden darf. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Bevollmächtigten wird für das Eilverfahren abgelehnt.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt im Wege des vorläufigen Rechtschutzes die Aussetzung seiner Abschiebung.
1. Der Antragsteller (geb. am …1989) ist ukrainischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben am 24. Januar 2016 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 17. August 2016 einen Asylantrag beim Bundesamt für … (Bundesamt).
Mit Bescheid des Bundesamts vom 30. Mai 2017 wurde der Asylantrag vollumfänglich abgelehnt und festgestellt, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen. Der Antragsteller wurde unter Androhung der Abschiebung in die Ukraine zur Ausreise innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheides aufgefordert. Die hiergegen gerichtete Klage wurde mit rechtskräftigem Urteil des Gerichts vom 26. Februar 2019 (W 6 K 19.30093) abgewiesen.
Am 8. Juli 2019 erklärte der Antragsteller gegenüber der Zentralen Ausländerbehörde Unterfranken, freiwillig ausreisen zu wollen, und nahm diese Erklärung am 30. September 2019 zurück.
2. Am 26. Februar 2021 ließ der Antragsteller seinen Bevollmächtigten beim Bundesamt einen „Asylfolgeantrag gem. § 71 AsylG“ stellen. Zur Begründung wurde unter Vorlage medizinischer Unterlagen ausgeführt, ein Abschiebeverbot sei insbesondere wegen psychischer Erkrankungen gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG festzustellen. Auf die Antragsschrift wird im Übrigen Bezug genommen.
Mit Schreiben des Bundesamts vom 2. März 2021 wurde dem Bevollmächtigten der Eingang des Antrags auf Durchführung eines weiteren Verfahrens bestätigt und für den Antragsteller eine Belehrung nach §§ 71, 10 AsylG sowie § 14 Abs. 1 AsylG übersandt.
Ausweislich einer Verfügung des Bundesamts – Außenstelle Schweinfurt vom 3. März 2021 wurde der Folgeantrag des Antragstellers zur Prüfung an die Außenstelle des Bundesamts in Manching abgegeben. Mit behördeninterner Verfügung des Bundesamts – Außenstelle Manching vom 5. März 2021 wurde erklärt, es handele es sich „anders als vom Rechtsanwalt angegeben“ nicht um einen Folgeantrag, sondern um einen Wiederaufgreifensantrag zu § 60 Abs. 7 AufenthG. Dies sei zu prüfen, gegebenenfalls umzuprotokollieren und an das zuständige Referat weiterzuleiten.
Mit Schreiben des Bundesamts vom 10 und 11. März 2021 wurde dem Bevollmächtigte des Antragstellers ohne vorherige Anhörung mitgeteilt, dass das Verfahren nicht, wie mit Schreiben vom 2. März 2021 mitgeteilt, als Folgeantrag geführt werde, sondern als isolierter Wiederaufnahmeantrag, da der der Antrag ausschließlich auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG gerichtet sei. Für die Vorlage weiterer medizinischer Unterlagen wurde eine Frist bis 18. März 2021 gesetzt.
Mit Schreiben vom 16. März 2021 übersandte der Bevollmächtigte weitere ärztliche Berichte.
3. Mit Bescheid vom 22. März 2021 entschied das Bundesamt, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen.
Zur Begründung wurde vorgebracht, mit Schreiben vom 11. März 2021 sei richtiggestellt worden, dass der Antrag vom 26. Februar 2021 als isolierter Wiederaufnahmeantrag geführt werde, da der Antrag ausschließlich auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG gerichtet sei. Zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote wegen der geltend gemachten Erkrankungen lägen nicht vor. Einer erneuten Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung bedürfe es wegen der vollziehbaren Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung aus dem vorangegangenen und abgeschlossenen Asylverfahren nicht. Auf den am 25. März 2021 zugestellten Bescheid wird im Übrigen verwiesen.
Mit Schreiben vom 22. März 2021 teilte das Bundesamt der Zentralen Ausländerbehörde Unterfranken mit, dass der Antrag vom 26. Februar 2021 auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG abschlägig verbeschieden wurde.
3. Am 26. März 2020 ließ der Antragsteller im Verfahren W 6 K 21.30345 Klage gegen den Bescheid vom 22. März 2021 erheben und zugleich im zugrundeliegenden Verfahren beantragen,
die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der für die Abschiebung zuständigen Zentralen Ausländerbehörde beim Regierungspräsidium wie auch der für die ausländerbehördliche Behandlung des Antragstellers zuständigen Ausländerbehörde des Kreises mitzuteilen, dass vorläufig keine Abschiebung aufgrund der Mitteilung nach § 71 Abs. 5 Satz 2 erfolgen darf,
der Antragsgegnerin im Wege der Zwischenverfügung vorläufig bis zur Entscheidung des Gerichts über den Antrag nach § 123 VwGO zu untersagen, den Antragsteller in die Ukraine abzuschieben,
der Antragsgegnerin aufzugeben, die zuständige Ausländerbehörde unverzüglich zu unterrichten,
dem Antragsteller unter Beiordnung der Kanzlei … und Kollegen Prozesskostenhilfe zu bewilligen.
Zur Begründung wurde ausgeführt, die Dringlichkeit der Anordnung ergebe sich daraus, dass die Ausländerbehörde beabsichtige, aufenthaltsbeendende Maßnahmen durchzuführen. Seit dem 31. Oktober 2020 sei dem Antragsteller keine Duldung mehr ausgestellt worden. Der Erlass einer Zwischenverfügung sei geboten, um den Antragsteller bis zu einer Entscheidung des Gerichts über den Antrag nach § 123 VwGO vor dem Eintritt vollendeter Tatsachen zu schützen. Der Anordnungsgrund ergebe sich daraus, dass ernstliche Zweifel an dem angegriffenen Bescheid bestünden, da erhebliche Gründe dafürsprächen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhalten werde. Ein Abschiebeverbot sei insbesondere wegen psychischer Erkrankungen des Antragstellers gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG festzustellen.
Das Bundesamt beantragte für die Antragsgegnerin, den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wurde auf den angefochtenen Bescheid Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, die Gerichtsakte im Hauptsacheverfahren W 6 K 21.30346 sowie die beigezogenen Behördenakten des Bundesamts (Az. … und …) verwiesen.
II.
Der Antrag ist teilweise zulässig. Soweit er zulässig ist, ist er auch begründet.
1. Unzulässig mangels Rechtsschutzbedürfnis ist der Antrag, im Wege der Zwischenverfügung der Antragsgegnerin vorläufig bis zur Entscheidung des Gerichts über den Antrag nach § 123 VwGO zu untersagen, den Antragsteller in die Ukraine abzuschieben. Ungeachtet des Umstands, dass die Antragsgegnerin mangels Zuständigkeit für die Durchführung der Abschiebung für einen solchen Antrag bereits nicht passivlegitimiert ist, bedurfte es zur Sicherstellung des effektiven Rechtsschutzes vorliegend auch keiner auf Art. 19 Abs. 4 GG gestützten gerichtlichen Zwischenverfügung („Hängebeschluss“). Denn es war vorliegend nicht erkennbar, dass die Vollziehung der Abschiebung des Antragstellers schon unmittelbar bevorstand und deshalb mit der bloßen Stellung des im Rechtsschutzsystem der VwGO vorgesehenen Antrags nach § 123 VwGO effektiver Rechtsschutz für den Antragsteller nicht gewährleistet wäre (vgl. Guckelberger, NVwZ 2001, 275, 277 m.w.N.; siehe auch Schoch in Schoch/Schneider, VwGO, 39. EL Juli 2020, § 80 Rn. 358).
2. Der Eilantrag ist im Übrigen als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO statthaft. Er hat zum Ziel, dem Bundesamt aufzugeben, der für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde unverzüglich mitzuteilen, dass der Antragsteller aufgrund des Folgeantrags vom 26. Februar 2021 im Hinblick auf die Regelung des § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG vorläufig nicht abgeschoben werden darf.
Für den Antrag besteht ein Rechtsschutzbedürfnis, da die Antragsgegnerin erkennbar entgegen der objektiven Rechtslage (dazu sogleich) davon ausgeht, dass für den Antragsteller kein aus § 71 Abs. 5 AsylG folgendes temporäres Abschiebungshindernis besteht. Mit Schreiben vom 22. März 2021 hat das Bundesamt die Zentrale Ausländerbehörde Unterfranken über die negative Entscheidung hinsichtlich des Antrags vom 26. Februar 2021 instruiert, sodass auch die für die Abschiebung zuständige Behörde fälschlicherweise vom aktuellen Nichtvorliegen eines Abschiebungshindernisses ausgehen muss, sodass der vollziehbar ausreisepflichtige Antragsteller, dem die Abschiebung droht, für effektiven Rechtsschutz auf die gerichtliche Eilentscheidung angewiesen ist.
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass für die Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen, nötig erscheint (sog. Regelungsanordnung).
Gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO sind das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) und die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen.
Dies ist vorliegend gegeben:
3. Dem Antragsteller steht ein Anspruch auf Erlass einer die Abschiebung einstweilen aussetzenden gerichtlichen Anordnung im tenorierten Umfang zu. Denn mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 26. Februar 2021 ließ er beim Bundesamt einen Folgeantrag gemäß § 71 AsylG stellen (dazu 3.1), über den bislang nicht abschließend entschieden wurde, sodass ein temporäres Abschiebungshindernis aus § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG fortbesteht (dazu 3.2).
3.1 Entgegen der Auffassung des Bundesamts konnte der Folgeantrag vom 26. Februar 2021 nicht als bloßer isolierter Wiederaufgreifensantrag zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG verstanden und dahingehend „richtiggestellt“, also umgedeutet werden.
Der Bevollmächtigte des Antragstellers hat beim Bundesamt ausweislich seiner Antragsschrift vom 26. Februar 2021 eindeutig und unzweifelhaft einen „Asylfolgeantrag gem. § 71 AsylG“ gestellt. Der klare Wortlaut verschließt eine Auslegung des Antrags nach Maßgabe des objektiven Empfängerhorizonts (§§ 133, 157 BGB analog), wonach entgegen der ausdrücklichen Erklärung lediglich ein Wiederaufgreifensantrag zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG („isolierter Folgeschutzantrag“; dazu vgl. hierzu BVerfG, B.v. 21.6.2000 – 2 BvR 1989/97 – juris Rn. 16; BVerwG, U.v. 21.3.2000 – 9 C 41.99 – juris Rn. 5 ff.; U.v. 7.9.1999 – 1 C 6.99 – juris Rn. 14 ff.; Camerer in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 1.1.21, § 71 Rn. 48 ff.) gestellt werden sollte. Für eine vom eindeutigen Wortlaut abweichende Auslegung des Folgeantrags konnte auch nicht die lediglich auf Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG abzielende Begründung des Antrags herangezogen werden. Da der Antrag vorliegend von einem Rechtsanwalt formuliert wurde, darf prima facie davon ausgegangen werden, dass in der Antragsschrift eingangs bewusst ein Antrag nach § 71 AsylG und kein bloßer isolierter Wiederaufgreifensantrag gestellt wurde. Der ausdrücklichen Erklärung des Bevollmächtigten im Schreiben vom 26. Februar 2021 kommt damit maßgebende Bedeutung zu und nicht der Frage, wie das Bundesamt den Antrag gerne verstanden hätte.
Auch eine Umdeutung („Richtigstellung“) des Folgeantrags gemäß § 71 AsylG in einen Wiederaufgreifensantrag zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG, wie sie das Bundesamt vorgenommen hat, scheidet aus. Für die Umdeutung eines Antrags entsprechend § 140 BGB durch eine Behörde müssen im Interesse des Antragstellers strenge Anforderungen gelten (Rixen in Schoch/Schneider, VwVfG, Grundwerk Juli 2020, § 22 Rn. 23). Eine solche Umdeutung muss – insbesondere ohne vorherige Anhörung des Antragstellers – ausscheiden, wenn sie zu einer Verschlechterung oder gar Aufhebung einer dem Antragsteller gerade zu seinem Schutz gesetzlich eingeräumten Rechtsposition führt. Dies ist vorliegend der Fall, da schon die wirksame Stellung eines Folgeantrags nach § 71 Abs. 5 AsylG zu einem temporären Abschiebungshindernis führen kann (vgl. Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 71 Rn. 33), während dies bei einem isolierten Wiederaufgreifensantrag nicht der Fall ist. Denn dieser führt anders als der Folgeantrag nach § 71 AsylG nicht schon aufgrund des Folgeschutzgesuchs dazu, dass die Ausländerbehörde an einer Abschiebung des Ausländers gehindert ist (BayVGH, B.v. 29.11.2005 – 24 CE 05.3107 – BeckRS 2005, 17734 Rn. 11; VG Augsburg, B.v. 25.1.2021 – 9 E 21.30039 – BeckRS 2021, 1960 Rn. 17; Dickten in BeckOK Ausländerrecht, Stand: 01.01.2021, § 71 AsylG Rn. 41 m.w.N.). Daher war das Bundesamt nicht berechtigt, den eindeutig als Folgeantrag gestellten Antrag in einen isolierten Folgeschutzantrag umzudeuten, zumal sie den Antragsteller bzw. seinen Bevollmächtigten zuvor nicht auf die nachteilige Rechtsfolge des Entfalls des temporären Abschiebungsschutzes nach § 71 Abs. 5 AsylG infolge der „Richtigstellung“ hinwies und ihn hierzu nicht anhörte, sondern nur nachträglich mit Schreiben vom 11. März 2021 darüber informierte, dass der Antrag nunmehr als Wiederaufgreifensantrag nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG geführt werde.
Auch der dem Privatrecht entstammende und auf verwaltungsrechtliche Erklärungen sinngemäß übertragbare Grundsatz, wonach das übereinstimmend Gewollte Vorrang vor einer irrtümlichen Falschbezeichnung hat („falsa demonstratio non nocet“), kann hier nicht die Umdeutung bzw. „Richtigstellung“ des Folgeantrags in einen isolierten Wiederaufgreifensantrag seitens der Antragsgegnerin legitimieren. Denn es ist schon nicht unzweifelhaft ersichtlich, ob der Bevollmächtigte des Antragstellers den Antrag im Schreiben vom 26. Februar 2021 irrtümlich als „Asylfolgeantrag gem. § 71 AsylG“ bezeichnet hat. Ebenso ist es möglich, dass er auf Grundlage verfahrenstaktisch legitimer Erwägungen bewusst einen Folgeantrag stellte, um den Anwendungsbereich des § 71 Abs. 5 AsylG zugunsten des Antragstellers zu eröffnen. Insoweit sind auch keine Umstände erkennbar, die darauf hindeuten könnten, dass diese Antragstellung und die damit verbundene Berufung auf das Abschiebungshindernis rechtsmissbräuchlich gewesen wären, insbesondere da ein solcher Folgeantrag für den Antragsteller – soweit für das Gericht erkennbar – erstmalig gestellt wurde.
Schließlich kann für das Vorgehen der Antragsgegnerin, den Folgeantrag ohne Anhörung in einen isolierten Folgeschutzantrag umzudeuten, nicht angeführt werden, dass der Folgeantrag vom 26. Februar 2021 möglicherweise unzulässig oder unbegründet gewesen wäre. Da der Bevollmächtigte des Antragstellers im Schriftsatz vom 26. Februar 2021 keine Tatsachen und Beweismittel angab, die sich auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG bezüglich des erneuten Asylantrags (§ 13 Abs. 2 AsylG) bezogen, bestehen zwar schon gewisse Zweifel an der Zulässigkeit des Folgeantrags (vgl. insoweit die Bestimmung des § 71 Abs. 3 Satz 1 AsylG). Gemäß § 24 Abs. 3 VwVfG ist die Antragsgegnerin zur Bearbeitung des Folgeantrags jedoch auch dann verpflichtet, wenn sie diesen mangels Vortrags begründender Tatsachen für unbegründet oder schon für unzulässig hält. Denn die Begründung eines gestellten Antrags ist im Regelfall keine Voraussetzung für die Wirksamkeit einer Antragstellung, sondern allenfalls dann, wenn es einer solchen Bedarf, um das Ziel des Antrags zu bestimmen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 19. Aufl. 2018, § 22 Rn. 62 m.w.N.). Nachdem der Bevollmächtige des Antragstellers in seinem Antrag jedoch explizit auf § 71 AsylG Bezug nahm, war das Ziel seines Antrags, nämlich die erneute Durchführung eines Asylverfahrens, nicht fraglich und ein hiervon abweichendes Ziel – die bloße erneute Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote – durfte die Behörde dem Antrag vom 26. Februar 2021 jedenfalls ohne vorherige Rücksprache nicht im Wege der Umdeutung zugrunde legen. Es mag zwar in der Verwaltungspraxis erwartet werden, dass der Antragsteller in seinem Antrag die erforderlichen Angaben macht und Beweismittel bezeichnet, um das Bundesamt in die Lage zu versetzen, die Zulässigkeit der geltend gemachten Wiederaufgreifensgründe zu prüfen. Auch bei anwaltlich vertretenen Antragstellern trifft das Bundesamt jedoch die Verpflichtung (vgl. § 25 VwVfG), den Antragsteller auf die ihn treffenden Darlegungs- und Mitwirkungspflichten hinzuweisen (vgl. zum Ganzen Marx, Kommentar zum Asylgesetz, 10. Aufl. 2019, § 71 AsylG, Rn. 38). Auch Art. 33 Abs. 2 Buchst. d RL 2013/32/EU verpflichtet die Behörde, von Amts wegen zu prüfen, ob – neben den vom Antragsteller vorgebrachten – „neue Umstände oder Erkenntnisse“ zu der Frage, ob dem Antragsteller internationaler Schutz i.S.d. RL 2011/95/EU zuzuerkennen ist, „zutage treten“. Für eine sachgerechte Beurteilung des Folgeantrags ist das Bundesamt daher verpflichtet, unabhängig von den eigenen Erklärungen des Antragstellers hierauf zielende Fragen an den Antragsteller zu stellen. Das Bundesamt muss insoweit prüfen, ob die Angaben zu den Wiederaufgreifengründen vollständig sind. Ist dies nicht der Fall, hat es dem Antragsteller angemessene Zeit zur schriftlichen Begründung des Antrags einzuräumen. Eine Entscheidung über die Zulässigkeit des Folgeantrags, die ohne Einräumung einer zureichenden Zeit zur Begründung des Antrags erfolgt, sei es im Rahmen einer informatorischen Befragung oder persönlichen Anhörung oder durch schriftliche Begründung, leidet an einem Verfahrensfehler (vgl. Marx, a.a.O.). Erst recht gilt dies, wenn das Bundesamt wie hier den Antragsteller nicht gemäß § 25 Abs. 1 VwVfG i.V.m. § 71 Abs. 3 Satz 2 AsylG zur Ergänzung seiner Angaben auffordert, sondern seinen Folgeantrag ohne vorherige Anhörung eigenmächtig in einen Wiederaufgreifensantrag zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG umdeutet und deshalb eine Prüfung der Wiederaufgreifensgründe von vorneherein unterlässt.
Dieser Verfahrensfehler wird auch nicht dadurch geheilt, dass der Antragsteller bzw. sein Bevollmächtigter auf den Hinweis des Bundesamtes vom 11. März 2021, wonach der gestellte Antrag als Wiederaufgreifensantrag gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG weiterbearbeitet werde, nicht durch Präzisierung des Antrags oder durch Angabe weiterführender Tatsachen und Beweismittel hinsichtlich etwaiger Wiederaufgreifensgründe reagierte. Dem bloßen Schweigen kann keine rechtserhebliche Bedeutung zugemessen werden, wonach seitens des Antragstellers Einverständnis mit der behördlichen „Richtigstellung“ seines Antrags bestand, gerade auch im Hinblick darauf, dass die Behörde nicht auf den damit verbundenen Wegfall des temporären Schutzes des § 71 Abs. 5 AsylG hinwies.
3.2 Da das Bundesamt im Bescheid vom 22. März 2021 keine Entscheidung über die Zulässigkeit des erneuten Asylantrags nach Maßgabe des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG traf, sondern lediglich eine erneute Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vornahm, wurde über den Folgeantrag vom 26. Februar 2021 bislang nicht abschließend entschieden.
Es gilt deshalb das vorläufige Abschiebungshindernis aus § 71 Abs. 5 AsylG fort. Aufgrund des Folgeschutzgesuchs vom 26. Februar 2021 ist die Ausländerbehörde bis zu einer Mitteilung des Bundesamtes, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1-3 VwVfG nicht vorliegen, an einer Abschiebung des Antragstellers gehindert, da dieser nicht in einen sicheren Drittstaat abgeschoben werden soll, § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG (vgl. Dickten in BeckOK Ausländerrecht, Stand: 01.01.2021, § 71 AsylG Rn. 8).
4. Es besteht auch ein Anordnungsgrund.
Da das Bundesamt mit Schreiben vom 22. März 2021 der Zentralen Ausländerbehörde Unterfranken zuletzt mitteilte, dass der (fälschlicherweise) als isolierter Folgeschutzantrag geführte Antrag vom 26. Februar 2021 abschlägig verbeschieden wurde, da der Antragsteller nach Maßgabe der Abschiebungsandrohung im Bescheid vom 30. Mai 2017 vollziehbar ausreisepflichtig ist, da die Frist zur freiwilligen Ausreise bereits abgelaufen ist und da dem Antragsteller keine neue Duldung mehr erteilt wurde, droht ihm derzeit entgegen § 71 Abs. 5 AsylG die Abschiebung in die Ukraine, sodass eine einstweilige Anordnung zur Sicherung seiner Rechtsposition geboten ist. Der Antragsteller hat somit zur effektiven Sicherstellung seiner im Rahmen des Folgeantrags gesetzlich eingeräumten Verfahrensstellung Anspruch auf Erlass einer die Abschiebung einstweilen abwendenden gerichtlichen Anordnung.
Der Antragsgegnerin war deshalb als actus contrarius zu ihrer vorhergehenden Erklärung gegenüber der Zentralen Ausländerbehörde Unterfranken aufzugeben, der zuständigen Ausländerbehörde unverzüglich mitzuteilen, dass die Abschiebung des Antragstellers aufgrund des Folgeantrags vom 26. Februar 2021 bis zu einer Mitteilung des Bundesamtes, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorliegen, nicht vollzogen werden darf.
5. Dem Antrag war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Das Unterliegen des Antragstellers hinsichtlich der beantragten Zwischenverfügung erweist sich als geringfügig (§ 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO). Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
6. Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Bevollmächtigten war im Eilverfahren abzulehnen, da der obsiegende Antragsteller bis zur gerichtlichen Entscheidung keine Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse abgab (§ 166 VwGO i.V.m. § 117 Abs. 2 ZPO).


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