Verwaltungsrecht

Unbegründeter Asylantrag eines in Deutschland geborenen nigerianischen Kleinkinds

Aktenzeichen  Au 9 K 21.30230

Datum:
22.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 15253
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 3e, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7, § 60a Abs. 1
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1. Eine einem Jungen in seinem Heimatstaat Nigeria drohende rituelle Beschneidung (Zirkumzision) wirkt nicht diskriminierend und kann mithin keine flüchtlingsrelevante Verfolgung darstellen. Die männliche Beschneidung wird in Nigeria aus soziokulturellen Gründen durchgeführt, nämlich um den Betroffenen als vollwertiges Mitglied in die Gesellschaft aufzunehmen. (Rn. 28) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Immer wieder aufkommende, gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen christlichen und muslimischen Gruppen in Nigeria bzw. die Angriffe und Auseinandersetzung mit “Boko Haram” sind überwiegend regional begrenzt und weisen nicht die Merkmale eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts iSv § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG auf (BVerwG BeckRS 2012, 45614). (Rn. 32) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Die schlechte wirtschaftliche Situation in Nigeria ebenso wie die Situation hinsichtlich der verschiedenen gewalttätigen Auseinandersetzungen und Übergriffe und die damit zusammenhängenden Gefahren führen grundsätzlich nicht zu einer individuellen, gerade dem Asylbewerber drohenden Gefahr, sondern sind unter diejenigen Gefahren zu subsumieren, denen die Bevölkerung oder relevante Bevölkerungsgruppen allgemein ausgesetzt sind und denen durch Anordnungen gem. § 60a Abs. 1 S. 1 AufenthG zu begegnen ist. (Rn. 35) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Die sich in Afrika ausbreitende Corona-Pandemie ist nicht geeignet, zur Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG bzw. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG zu führen. Ihr ist ebenfalls durch Anordnungen nach § 60a Abs. 1 S. 1 AufenthG zu begegnen. (Rn. 43 – 44) (red. LS Clemens Kurzidem)
5. Es bestehen derzeit keine belastbaren Anhaltspunkte dafür, dass sich die Wirtschafts- und Versorgungslage der Bevölkerung in Nigeria trotz internationaler humanitärer Hilfe und lokaler Hilfsbereitschaft infolge der Corona-Pandemie derart verschlechtert hat, dass eine Asylbewerberfamilie im Falle der Rückkehr nach Nigeria nicht mehr in der Lage wäre, den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder sicherzustellen. (Rn. 45 – 47) (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.  

Gründe

Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage des Klägers verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung vom 22. April 2021 teilgenommen hat. Die Beklagte wurde auf den Umstand, dass bei Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, in der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 VwGO). Die Beklagte ist zur mündlichen Verhandlung vom 22. April 2021 form- und fristgerecht geladen worden.
Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Der Bescheid des Bundesamts vom 25. Februar 2021 (Gz: …) ist, soweit er mit der Klage angegriffen worden ist, rechtmäßig und nicht geeignet, den Kläger in seinen Rechten zu verletzen. Der Kläger besitzt keinen Anspruch auf die von ihm begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG), auf Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) bzw. auf die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
1. Der Kläger besitzt keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach §§ 3 ff. AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
Die Tatsache, dass der Ausländer bereits verfolgt oder von Verfolgung unmittelbar bedroht war, ist dabei ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, wenn nicht stichhaltige Gründe dagegensprechen, dass er neuerlich von derartiger Verfolgung bedroht ist. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen eine Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dabei ist es Sache des Ausländers, die Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei genügt für diesen Tatsachenvortrag auf Grund der typischerweise schwierigen Beweislage in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
Wer bereits Verfolgung erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei der Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (kausal-) Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus (vgl. BVerfG, B.v. 12.2.2008 – 2 BvR 2141/06 – juris Rn. 20; VG Köln, U.v. 26.2.2014 – 23 K 5187/11.A – juris Rn. 26).
Gemessen an diesen Maßstäben konnte der Kläger eine individuelle Verfolgung nicht glaubhaft machen.
Die für den Kläger ausschließlich geltend gemachte Bedrohung der (rituellen) Zwangsbeschneidung stellt keinen Verfolgungsgrund nach § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3a AsylG dar. Denn die dem Kläger vermeintlich drohende Beschneidung wirkt nicht diskriminierend und kann mithin keine flüchtlingsrelevante Verfolgungshandlung darstellen. Zwar stellt eine Zwangsbeschneidung grundsätzlich eine an das Merkmal des Geschlechts anknüpfende Verfolgung einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 a.E. AsylG dar. Anknüpfungspunkt der Verfolgungshandlung ist das mit der Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht verbundene Vorhandensein männlicher Geschlechtsorgane. Allerdings ist es den gesetzlichen Regelungen der §§ 3 ff. AsylG immanent, dass eine Verfolgungshandlung nur dann vorliegt, wenn diese drohende (Verfolgung-) Handlung zielgerichtet auf Ausgrenzung und Herabwürdigung gerichtet ist. Dies ist bei der männlichen Beschneidung in Nigeria nicht der Fall. Die männliche Beschneidung wird aus soziokulturellen Gründen durchgeführt, nämlich um den Betroffenen als vollwertiges Mitglied in die Gesellschaft aufzunehmen. Von einem – für die Annahme einer politischen Verfolgung notwendigen – ausgrenzenden Charakter der Beschneidungspraxis kann deshalb nicht ausgegangen werden. Während die weibliche Beschneidung bzw. Genitalverstümmelung, bei der die äußeren Geschlechtsorgane eines Mädchens teilweise oder vollständig entfernt werden, mit gravierenden gesundheitlichen Folgen für die Betroffenen verbunden ist, stellt zwar auch die männliche Beschneidung zweifellos einen Eingriff in die körperliche Integrität dar. Dieser Eingriff, nämlich das teilweise oder vollständige Abtragen der Penisvorhaut, bleibt aber in den weitaus meisten Fällen ohne relevante gesundheitliche Folgen für den Betroffenen. Nach Angaben der WHO ist etwa ein Drittel der männlichen Weltbevölkerung beschnitten und es treten (nur) in 0,2 bis 2 Prozent aller Fälle Komplikationen auf, wenn der Eingriff unter adäquaten medizinischen Bedingungen durchgeführt wird (WHO, UNAIDS: Male Circumcision. Global trends and determinants of prevalence, safety and acceptability, 2007). Demnach droht dem Kläger keine politische Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG, da eine solche Maßnahme, wie sie der Kläger bzw. dessen Eltern aufzeigt, zum einen die Schwelle der asylerheblichen Intensität nicht überschreitet und sie sich zum anderen nicht als „ausgrenzende Verfolgung“ darstellt (vgl. BVerfG, E.v. 10.7.1989 – 2 BvR 502/86 – BVerfGE 80, 315).
Nach allem besitzt der Kläger keinen Anspruch auf die von ihm begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß §§ 3 ff. AsylG.
2. Der beantragte (unionsrechtliche) subsidiäre Abschiebungsschutz nach § 4 AsylG kommt zu Gunsten des Klägers ebenfalls nicht in Betracht.
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt dabei auch die Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG). Die Art der Behandlung oder Bestrafung muss eine Schwere erreichen, die dem Schutzbereich des Art. 3 EMRK zuzuordnen ist und für den Fall, dass die Schlechtbehandlung von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht, muss der Staat erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sein, Schutz zu gewähren (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3 c Nr. 3 AsylG).
Der Kläger ist im Falle seiner Rückkehr im intakten Familienverbund nicht einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG) ausgesetzt, auch nicht wegen seines christlichen Glaubens. Die immer wieder aufkommenden, gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen christlichen und muslimischen Gruppen, bzw. die Angriffe und Auseinandersetzung mit der Gruppierung „Boko Haram“ sind überwiegend regional begrenzt und weisen nicht die Merkmale eines innerstaatlichen Konflikts i.S. der Vorschrift und der dazu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung auf (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 2013 -, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13/10 -, U.v. 27. 4.2010 – 10 C 4/09 -, U.v. 14.7.2009 – 10 C 9/08 und U.v. 24.6.2008 – 10 C 43/07 – sowie B.v. 14.11.2012 – 10 B 22/12 – jeweils juris). Das Ausmaß dieser Konflikte ist in Intensität und Dauerhaftigkeit nicht mit Bürgerkriegsauseinandersetzungen, die in Nigeria (noch) nicht festzustellen sind, vergleichbar. Nach den allgemein zugänglichen Erkenntnismitteln (Tagespresse, Medien) und Erkenntnissen des Gerichts kam es zwar auch im Jahr 2017 und 2018 sehr häufig zu Anschlägen der Gruppe „Boko Haram“ und sind auch die Einsätze der nigerianischen Sicherheitskräfte mit Gewaltexzessen und willkürlichen Verhaftungen verbunden. Allerdings konzentrieren sich die Anschläge von „Boko Haram“ und die daraus folgenden Auseinandersetzungen immer noch hauptsächlich auf den Norden bzw. Nordosten Nigerias, während es im Süden und Südwesten des Landes nur vereinzelt zu Anschlägen bzw. Terrorakten gekommen ist. Eine landesweite Verübung von Terrorakten durch die Organisation „Boko Haram“ findet nicht statt (vgl. dazu: AA, Lageberichte von Nigeria vom 5. Dezember 2020, 10. Dezember 2018, 21. Januar 2018, 26. November 2016, 28. November 2014, jew. Zusammenfassung S.4, 5 sowie III. 1.4., vom 28. August 2013, vom 6. Mai 2012, 7. März 2011, 11. März 2010 und vom 21. Januar 2009, jeweils Ziffer II.1.4). Ein Bürgerkrieg findet in Nigeria nicht statt; Bürgerkriegsparteien sind nicht vorhanden.
Der Kläger ist zusammen mit seiner Familie in der Lage, diesen Konflikten durch Rückkehr in weniger gefährdete Gebiete im Sinne eines internen Schutzes aus dem Wege zu gehen. An dieser Stelle ist auch darauf zu verweisen, dass beide Elternteile des Klägers aus dem Süden Nigerias (Bundesstaat Edo State; …) stammen. Selbst wenn die Eltern des Klägers nicht an ihre vormaligen Aufenthaltsorte zurückkehren wollten, kommt nach Auffassung des Gerichts jedenfalls eine Rückkehr nach Lagos bzw. Abuja oder nach Port Harcourt, Owerri oder Ibadan in Betracht.
3. Nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) oder nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen zu Gunsten des Klägers ebenfalls nicht vor. Auch insoweit erweist sich der mit der Klage angegriffene Bescheid des Bundesamts vom 25. Februar 2021 als rechtmäßig und nicht geeignet, den Kläger in seinen Rechten zu verletzen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
a) Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die schlechte wirtschaftliche Situation in Nigeria – hier leben immer noch ca. 70% der Bevölkerung am Existenzminimum und sind von informellem Handel und Subsistenzwirtschaft abhängig (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria – Lagebericht – a.a.O. Nr. I.2.) – ebenso wie die Situation hinsichtlich der verschiedenen gewalttätigen Auseinandersetzungen und Übergriffe, z.T. auch durch die Sicherheitskräfte, und die damit zusammenhängenden Gefahren (s.o. und Lagebericht a.a.O. Nr. II.2. und 3.) grundsätzlich nicht zu einer individuellen, gerade dem Kläger drohenden Gefahr führt, sondern unter die allgemeinen Gefahren zu subsumieren ist, denen die Bevölkerung oder relevante Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt ist und die gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG durch Anordnungen gemäß § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind.
Der Umstand, dass im Falle einer Aufenthaltsbeendigung die Lage eines Betroffenen erheblich beeinträchtigt würde, reicht allein nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen; anderes kann nur in besonderen Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen, wie zum Beispiel im Falle einer tödlichen Erkrankung in fortgeschrittenen Stadium, wenn im Zielstaat keine Unterstützung besteht (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – BVerwGE 146, 12-31, juris, Rn. 23 ff. m.w.N.). Im Hinblick auf die Bewertung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK gelten dabei bei der Beurteilung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG die gleichen Voraussetzungen wie bei der Frage der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – a.a.O. – juris Rn. 22, 36).
Für den Kläger ist ein derartiges Abschiebungsverbot auf der Grundlage des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht zu erkennen. Dies gilt insbesondere unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers. Dieser kann zusammen mit seiner ebenfalls vollziehbar ausreisepflichtigen Familie nach Nigeria zurückkehren. Von den Eltern des Klägers, für die ebenfalls nationale Abschiebungsverbote abgelehnt wurden, können insbesondere altersbedingt Bemühungen erwartet werden, auf dem nigerianischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.
b) Für den Kläger besteht aber auch kein nationales Abschiebungsverbot auf der Grundlage des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
Ein Ausländer kann im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser allgemein bestehenden Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.
Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungswegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für die Betroffenen die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen den Betroffenen daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren (zum Ganzen BVerwG, U.v. 31.1.2013, a.a.O., Rn. 38).
Nach diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in der Person des Klägers nicht vor. Nennenswerte gesundheitsbedingte Gefahren wurden für den Kläger bereits nicht aufgezeigt. Im Verfahren wurde lediglich behauptet, dass der Kläger an behandlungsbedürftigen Nackenschmerzen leide und bei ihm eine Bewegungsstörung vorliege. Ärztliche Atteste wurden im Verfahren nicht vorlegt. Im Übrigen handelt es sich bei den geltend gemachten Beschwerden keinesfalls um eine lebensbedrohliche Erkrankung im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG. Der Ausländer muss eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung geltend machen, die sich durch eine Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. Dies ist vorliegend bereits nicht dargelegt. Weiter ist es nach § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch dann vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG).
Nach allem war der Antrag des Klägers auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes auf der Grundlage des § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG abzulehnen.
Dies gilt auch unter Berücksichtigung der sich wohl auch in Afrika ausbreitenden Corona-Pandemie. Auch dieser Umstand ist nicht geeignet, zur Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu führen. Insoweit gilt es die Vorschrift des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG zu beachten. Danach sind Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, nur bei einer Anordnung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Eine derartige allgemeine Entscheidung hinsichtlich des Zielstaats Nigeria i.S.d. § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG liegt derzeit nicht vor. Eine persönliche Betroffenheit von der Krankheit selbst hat der Kläger nicht aufgezeigt. Es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger gleichsam sehenden Auges dem Tod oder schwersten Gesundheitsschäden ausgeliefert wäre. Davon kann nicht ausgegangen werden.
Im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung sind überdies in Nigeria lediglich 164.000 Corona-Fälle bestätigt, wovon 154.000 Personen genesen sind und es lediglich zu 2.061 Todesfällen gekommen ist (Quelle: COVID-19 pandemic data, Wikipedia, Stand: 22. Apr. 2021). Im Zeitraum zwischen dem 8. und dem 21. April 2021 ist es in Nigeria insgesamt nur zu 990 neuerlichen Erkrankungsfällen gekommen. Demnach handelt es sich um eine lediglich abstrakte Gefährdung, der im Rahmen des § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu begegnen ist. Dieser Umstand ist daher nicht geeignet, für den Kläger ein Abschiebungsverbot auf der Grundlage des § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu begründen.
Es gibt derzeit keine belastbaren Anhaltspunkte dafür, dass sich Wirtschaft und Versorgungslage der Bevölkerung trotz internationaler humanitärer Hilfe und lokaler Hilfsbereitschaft infolge der Pandemie derart verschlechtern, dass die klägerische Familie nicht mehr in der Lage wäre, den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder (2) in Nigeria sicherzustellen. Der Internationale Währungsfonds gewährte Nigeria bereits im April 2020 Nothilfe in Höhe von 3,4 Milliarden US-Dollar, um Wirtschaft und Währung in der Corona-Krise auch angesichts des Verfalls der Ölpreise zu stabilisieren („IWF gewährt Nigeria wegen Corona-Krise Milliardenhilfe“, www.spiegel.de, 28. April 2020). Selbst wenn bei einer Rückkehr des Klägers noch die aktuellen nächtlichen Ausgangssperren gelten sollten, fehlt es an Anhaltspunkten dafür, dass diese Maßnahmen dauerhaft auf unbestimmte Zeit gelten würden. Die als „Lockdown“ bzw. „Ausgangssperre“ bezeichneten Maßnahmen wurden außerdem soweit ersichtlich bisher lediglich in Lagos, Abuja und Kano verhängt, jedoch ab Anfang Mai 2020 bereits wieder gelockert. Die Maßnahmen sind in Lagos und Abuja Mitte Juni 2020 ausgelaufen. Für andere Orte im Süden Nigerias bzw. landesweit fehlt es an Angaben darüber, dass aktuell überhaupt ein „Lockdown“, „Ausgangssperren“ oder vergleichbare Maßnahmen jedenfalls landesweit verhängt worden wären. Auch sind seit dem 14. September 2020 auch wieder Inlandsflüge in Nigeria uneingeschränkt möglich.
Im Übrigen genügt nicht eine allgemeine Behauptung mit Hinweis auf die Corona-Pandemie, dass eine Gefahr bestünde. Denn für die Beurteilung ist auf die tatsächlichen Umstände des konkreten Einzelfalls abzustellen. Erforderlich ist, durch Benennung bestimmter begründeter Informationen, Auskünfte, Presseberichte oder sonstiger Erkenntnisquellen zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür aufzuzeigen, dass der Betreffende etwa zu einer Risikogruppe gehört und in seinem speziellen Einzelfall mit einer Ansteckung, einschließlich eines schweren Verlaufs, zu rechnen ist. Anzugeben ist dabei weiter, wie viele Personen im Zielland konkret infiziert sind, einen schweren Verlauf haben und gestorben sind, ob landesweit eine betreffende Gefahr besteht bzw. konkret an dem Ort, an dem der Betreffende zurückkehrt und welche Schutzmaßnahmen der Staat zur Eindämmung der Pandemie getroffen hat (OVG NW, B.v. 23.6.2020 – 6 A 844/20.A – juris). An einem entsprechenden substantiierten Vorbringen des Klägers fehlt es. Durchgreifende Gründe für eine relevante Gefahr sind auch sonst nicht ersichtlich.
Unter Berücksichtigung der oben aufgeführten tagesaktuellen Fallzahlen und des damit einhergehenden Ansteckungsrisikos besteht in Nigeria derzeit nach dem oben genannten Maßstab keine hohe Wahrscheinlichkeit eines schweren oder tödlichen Verlaufs der Erkrankung für die Personengruppen, denen der Kläger angehört. Er muss sich letztlich, wie hinsichtlich etwaiger anderer Erkrankungen, wie etwa Malaria, HIV, Masern, Cholera, Lassa-Fieber, Meningitis oder Tuberkulose, bei der die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung und eines schweren Verlaufs teilweise um ein Vielfaches höher liegt als bei dem „Coronavirus“ (vgl. zu Malaria OVG NW, U.v. 24.3.2020 – 19 A 4479/19.A – juris; VG Karlsruhe, U.v. 26.2.2020 – A 4 K 7158/18 – juris), im Bedarfsfalle auf die Möglichkeiten des – zugegebenermaßen mangelhaften – nigerianischen Gesundheits- und Sozialsystems (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria vom 5. Dezember 2020, Stand: September 2020, Ziffer V.1.3, S. 24 ff.) verweisen lassen.
4. Die auf § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG gestützte Abschiebungsandrohung ist ebenfalls rechtmäßig. Die Ausreisefrist ergibt sich aus § 38 Abs. 1 AsylG.
Hinweise auf eine Fehlerhaftigkeit der Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 AufenthG bestehen im maßgeblichen Zeitpunkt nicht. Die Beklagte hat bezüglich der Befristung das ihr zustehende Ermessen erkannt und im Rahmen der gerichtlich gem. § 114 Satz 2 VwGO beschränkten Prüfung ordnungsgemäß ausgeübt.
5. Die Klage war mithin mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Als im Verfahren unterlegen hat der Kläger Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
6. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO.


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