Verwaltungsrecht

Unbegründeter Asylantrag eines staatenlosen Palästinensers aus Libyen

Aktenzeichen  B 4 K 16.31391

Datum:
5.7.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
AsylG AsylG § 3, § 4
EMRK EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1 Für einen palästinensischen Volkszugehörigen, der keine andere Staatsangehörigkeit erworben hat und der – da es keinen Staat Palästina gibt, der eine palästinensische Staatsangehörigkeit vermitteln kann – staatenlos ist, kommt eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 lit. b AsylG in Betracht (vgl. VG Frankfurt (Oder) BeckRS 2017, 112656). (Rn. 14) (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Furcht vor Verfolgung ist begründet bzw. die Gefahr eines ernsthaften Schadens besteht tatsächlich, wenn einem Ausländer Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG bzw. ein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 AsylG aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich droht. Dabei ist als Prognosemaßstab bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft ebenso wie bei der des subsidiären Schutzes in Orientierung an der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK (“real risk”) der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen.  (Rn. 19) (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit als Zivilperson ergibt sich regelmäßig nicht allein aus Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein durch einen bewaffneten Konflikt ausgesetzt ist (EuGH BeckRS 2014, 80262). Vielmehr ist eine individuelle Betroffenheit erforderlich, die sich zum einen aus gefahrerhöhenden Umständen ergeben kann, die in der Person des Betroffenen selbst zu finden sind, die sich zum anderen aber auch daraus ableiten kann, dass die sich aus dem bewaffneten Konflikt ergebende Gefahrendichte ein so hohes Niveau erreicht, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit Gefahr liefe, einer Bedrohung ausgesetzt zu sein. (Rn. 22) (red. LS Clemens Kurzidem)
4 Angesichts der sich in absoluten Zahlen ausdrückenden Betroffenheit der Zivilbevölkerung, vor allem in Tripolis, von weniger als 1:7000 gemessen an der Einwohnerzahl, lässt eine Würdigung der Gesamtumstände unter Beachtung der aktuellen Entwicklungen in Libyen, hier insbesondere die “gemeinsame” Bekämpfung und Vertreibung des Islamischen Staats, die internationale Unterstützung der Übergangsregierung in Tripolis durch die Vereinten Nationen sowie nicht zuletzt die jüngste Annäherung der beiden Machtblöcke unter Vermittlung Ägyptens und die hierbei in Aussicht gestellten demokratischen Wahlen, den Schluss zu, dass in Libyen insgesamt, jedenfalls aber in Tripolis, keine ernsthafte Bedrohung des Lebens iSv § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG bei einer Rückkehr besteht. (Rn. 22) (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage, über die aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 27.06.2017 trotz Ausbleibens der Beklagten entschieden werden kann, nachdem bei der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen wurde (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist nicht begründet, weil der Bescheid des Bundesamtes vom 28.09.2016 rechtmäßig und der Kläger dadurch nicht in seinen Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO).
Das Bundesamt hat zu Recht den Kläger nicht als Asylberechtigten anerkannt, ihm nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, ihm keinen subsidiären Schutz gewährt und festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen. Demzufolge ist auch die Abschiebungsandrohung nach Libyen gemäß § 34 AsylG in Verbindung mit § 59 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 AufenthG rechtmäßig.
Seinen gemäß Ziffer 2 des Bescheides vom 28.09.2016 abgelehnten Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter hat der Kläger nicht weiter verfolgt. Insoweit ist der Bescheid bestandskräftig geworden.
Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) hat der Kläger weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 1 AsylG noch einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 und Abs. 3 AsylG noch einen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG.
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Herkunftsland ist nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 AsylG das Land, dessen Staatsangehörigkeit der Ausländer besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Buchstabe a) bzw. das Land, in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Buchstabe b). Da es keinen Staat Palästina gibt, der eine palästinensische Staatsangehörigkeit vermitteln kann, ist der Kläger als palästinensischer Volkszugehöriger, der keine andere Staatsangehörigkeit erworben hat, staatenlos, sodass für ihn die Alternative b in Betracht kommt (VG Frankfurt (Oder), Beschluss vom 30.05.2017 – 6 K 1442/17.A, juris).
Die einzelnen Verfolgungshandlungen werden in § 3a AsylG näher umschrieben, die einzelnen Verfolgungsgründe werden in § 3b AsylG einer näheren Begriffsbestimmung zugeführt. Nach § 3c AsylG kann eine Verfolgung ausgehen vom Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern der Staat oder die ihn beherrschenden Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG, d.h. wirksam und nicht nur vorübergehend, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Subsidiär Schutzberechtigter ist ein Ausländer gemäß § 4 Abs. 1 AsylG, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht, wobei als ernsthafter Schaden gilt 1. die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, 2. Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder 3. eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Gemäß § 4 Abs. 3 AsylG gelten die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend, wobei an die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens treten.
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf der Ausländer nicht abgeschoben werden, wenn eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK zwar nicht von Akteuren im Sinne des § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3c AsylG ausgeht, aber dennoch wegen der im Zielstaat herrschenden schwierigen Lebensbedingungen tatsächlich droht.
Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet bzw. die Gefahr eines ernsthaften Schadens besteht tatsächlich, wenn dem Ausländer eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG bzw. ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich droht. Hinsichtlich des Prognosemaßstabs ist bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft ebenso wie bei der des subsidiären Schutzes in Orientierung an der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK („real risk“) der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht aller Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung bzw. vor einem ernsthaften Schaden hervorgerufen werden kann (VG München, Urteil vom 02.02.2017 – M 17 K 16.34939, juris Rn. 20 m. w. N.).
Die Tatsache, dass ein Drittstaatsangehöriger bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist gem. Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Betroffene erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Zur Privilegierung des Vorverfolgten bzw. Vorgeschädigten wird in Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU (sowohl für die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz als auch für die Gewährung subsidiären Schutzes) eine tatsächliche (aber im Einzelfall widerlegbare) Vermutung normiert, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden, sofern ein innerer Zusammenhang zwischen der erlittenen Verfolgung bzw. dem erlittenen Schaden und der befürchteten Verfolgung bzw. dem befürchteten Schaden besteht. Dadurch wird der Vorverfolgte / Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei der Rückkehr erneut realisieren werden (VG München, a.a.O. Rn. 21 m. w. N.).
Das Gericht muss – für einen Erfolg der Klage – von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals und von der zu treffenden Prognose, dass dieses die Gefahr politischer Verfolgung bzw. eines ernsthaften Schadens begründet, vollständig überzeugt sein. Angesichts des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich Asylsuchende insbesondere hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Herkunftsstaat befinden, kommt dabei dem persönlichen Vorbringen des Asylsuchenden und dessen Würdigung für die Überzeugungsbildung eine gesteigerte Bedeutung zu. Demgemäß setzt ein Asylanspruch bzw. die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft voraus, dass der Asylsuchende den Sachverhalt, der seine Verfolgungsfurcht begründen soll, schlüssig darlegt. Dabei obliegt es ihm, unter genauer Angabe von Einzelheiten und gegebenenfalls unter Ausräumen von Widersprüchen und Unstimmigkeiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, der geeignet ist, das Asylbegehren lückenlos zu tragen. Auf die Glaubhaftigkeit seiner Schilderung und die Glaubwürdigkeit seiner Person kommt es entscheidend an. Seinem persönlichen Vorbringen und dessen Würdigung ist dabei gesteigerte Bedeutung beizumessen. Der Asylbewerber muss die persönlichen Umstände seiner Verfolgung und Furcht vor einer Rückkehr hinreichend substantiiert, detailliert und widerspruchsfrei vortragen, er muss kohärente und plausible wirklichkeitsnahe Angaben machen (VG München, a.a.O. Rn. 22).
Zur allgemeinen derzeitigen Lage in Libyen hat das Verwaltungsgericht Chemnitz Folgendes ausgeführt (Urteil vom 11.05.2017 – 7 K 2874/16.A, juris Rn. 18 ff):
„Die politische Lage in Libyen stellt sich ausweislich des Länderinformationsblatts der Staatendokumentation Libyen vom 23.01.2017 des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich wie folgt dar:
Nach dem Sturz Gaddafis 2011 entstand in Libyen aufgrund eines frühen Abzugs internationaler staatlicher Institutionen ein Machtvakuum, das die Ausbreitung von Milizen und bewaffneten Gruppen ermöglichte, die brutal um Gebiete kämpften. Die Gewalteskalation kulminierte, als das House of Representatives (HoR) im August 2014 von Tripolis in die östliche Stadt Tobruk vertrieben wurde, während das selbst ernannte konkurrierende Parlament, der Generalnationalkongress (GNC), die Macht in Tripolis übernahm. Es erfolgte die politische Spaltung des Landes und beide Seiten bekämpften sich im Osten und Westen des Landes. Seit Mitte 2014 gab es folglich zwei konkurrierende Lager: Das im Juni/Juli 2014 gewählte Parlament House of Representatives (HoR) mit der Regierung Abdallah al-Thinni, welches die militärischen Kräfte im Osten des Landes, die sich ab Mai 2014 unter Führung von General Kalifa Haftar mit dem Namen „Würde“ (Karama) formiert hatten, integrierte. Im Westen ließ die als „Morgenröte“ (Fajr) benannte militärische Allianz aus islamistischen Milizen und Revolutionären aus der wichtigen Hafenstadt Misrata den im Juni 2014 abgewählten allgemeinen Volkskongress (GNC) wieder auferstehen und bildete eine Gegenregierung „der nationalen Rettung“. Ihren Legitimitätsanspruch stützte Fajr seit dem 06.11.2014 auf ein Urteil des obersten Gerichtshofes, der die Gesetze, die zur Wahl des HoR führten, für verfassungswidrig erklärt hatte.
Keine der beiden Regierungen konnte in der Folgezeit politisch oder militärisch großräumig effektive Macht ausüben. Libyen fragmentierte in zahlreiche Kampfzonen mit jeweils eigener Dynamik. Die zunehmende Einnistung der Terrorgruppe IS, insbesondere in der zentrallibyschen Küste (Großraum Syrte), verstärkte jedoch lagerübergreifend das Bewusstsein, einen gemeinsamen Feind zu haben. Parallel fanden unter Vermittlung der UNO seit September 2014 kontinuierlich Verhandlungen zwischen den verschiedenen Streitparteien statt, die am 17.12.2015 in die Unterzeichnung des politischen Abkommens „Libyan Political Agreement – LPA“ in Marokko mündeten. Dieses LPA bewirkte die Einrichtung eines 9köpfigen Präsidialausschusses sowie des Government of National Accord – GNA -, geführt von Premier Fayezs Serraj, im März 2016. Die USA und führende europäische Staaten sicherten der Einheitsregierung ihre Unterstützung zu und gaben in einer gemeinsamen Stellungnahme bekannt, diese als einzige legitime Vertretung Libyens anzuerkennen. Hardliner der libyschen Machtblöcke werfen der Einheitsregierung jedoch vor, sie sei von außen etabliert worden und nicht aus einem internen politischen Prozess entstanden und daher abzulehnen. Beide Lager legitimierten das neu gebildete Kabinett daher nicht. Das Resultat dieser einzigartigen Situation ist ein Libyen mit drei Regierungen.
Knapp acht Monate nach Beginn der Offensive gegen den IS in Syrte hat Libyens Ministerpräsident Fajez al-Serraj Ende Dezember 2016 die Rückeroberung der IS-Hochburg Syrte verkündet. Syrte war das letzte größere vom IS kontrollierte Gebiet in Libyen. Allerdings müsse nach Serraj der Kampf gegen den Terrorismus fortgeführt werden.
Insgesamt ist die Lage im ganzen Land sehr unübersichtlich. Es kommt immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, ohne dass staatliche Organe ausreichenden Schutz garantieren. Bewaffnete Gruppen mit zum Teil unklarer Zugehörigkeit treten häufig als Vertreter der öffentlichen Ordnung auf. In großen Teilen des Landes herrschen bewaffnete Milizen oder sonstige bewaffnete Kräfte. Im ganzen Land besteht ein hohes Risiko von Anschlägen und Entführungen. Die Kriminalität ist hoch (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Libyen, 23.01.2017, BfA, Bundesamt für Fremdwesen und Asyl, Republik Österreich, Seiten 6-8).
Aktuell geht aus einem jüngeren Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 16.02.2017 („Deal ohne Handschlag“, veröffentlich unter www.sueddeutsche.de) hervor, dass beide Machtblöcke sich aufgrund einer Initiative der Regionalmacht Ägypten in Kairo für einen gemeinsamen Fahrplan und Parlamentswahlen in ganz Libyen verständigt haben sollen. Daher sei mit einer Entspannung der Lage zu rechnen.
Hinsichtlich der Lage der Zivilbevölkerung lassen sich folgende Erkenntnisse gewinnen:
Amnesty International berichtet im Amnesty Report 2016 betreffend Libyen über mögliche Kriegsverbrechen sowie andere schwerwiegende Verletzungen des humanitären Völkerrechts und Menschenrechtsverstöße, welche insbesondere auch die Zivilbevölkerung beträfen. So seien alle Konfliktparteien daran beteiligt, Zivilpersonen zu verschleppen und zu inhaftieren, darunter auch Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen und medizinisches Personal, als Vergeltung für deren Herkunft oder vermeintliche politische Zugehörigkeit. In vielen Fällen seien die Betroffenen als Geisel gehalten worden, um einen Gefangenenaustausch zu erreichen oder Lösegeld zu erpressen. Häftlinge seien gefoltert worden und in anderer Weise misshandelt und es sei zu summarischen Tötungen gekommen. Die Konfliktparteien seien außerdem für wahllose und unverhältnismäßige Angriffe sowie für direkte Angriffe auf Zivilpersonen und zivile Ziele verantwortlich gewesen.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung stellte am 18.03.2016 fest („Die Zivilbevölkerung zahlt den Preis“, veröffentlicht unter www.faz.net), in der Hafenstadt Benghasi tobe ein Krieg zwischen islamistischen Milizen eines Schura-Rates, zu denen die Dschihadistengruppe Ansar al Scharia gehört und den Truppen von General Chalifa Haftar. Zuletzt habe Haftar verkündet, seine Gegner aus der Stadt vertrieben zu haben. Die Kämpfe seien aber nicht vorbei und die Lage für Zivilisten sei dramatisch. Fast die Hälfte der Bevölkerung der Großstadt Benghasi sei vertrieben worden. Viele dieser Binnenflüchtlinge würden nun unter erbärmlichen Bedingungen leben. Zehntausende Menschen seien während der Kämpfe getötet worden. Die Gesundheitsversorgung sei am Boden. Schulen seien Flüchtlingsunterkünfte, die Universität sei zerbombt. Abertausende Familien seien durch die Kämpfe eingeschlossen.
Die Tagesschau berichtet am 28.02.2017 („Geiselnahmen – ein florierendes Geschäft“, veröffentlich unter www.tagesschau.de), dass die Libyer mit kriminellen Milizen und ständigen Geiselnahmen zu kämpfen hätten.
Aus der Dokumentation bekannter Vorfälle des Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD) ergeben sich für das gesamte Land im Jahr 2015 1.255 Vorfälle und 2.705 Todesopfer. Im ersten Halbjahr 2016 dokumentierte ACCORD insgesamt 496 Vorfälle und 1.294 Todesopfer (Zahlen veröffentlicht in Home Office, Country Policy an Information Note, Libya: Security and humanitarian situation, January 2017). Diesen steht eine Gesamteinwohnerzahl von rund 6,2 Millionen gegenüber. Für die von der Einheitsregierung kontrollierte Stadt Tripolis mit 1,6 Millionen Einwohnern wurden für 2015 168 Vorfälle und 111 Todesopfer sowie für das erste Halbjahr 2016 87 Vorfälle und 103 Todesopfer erfasst.
Diese Auskunftslage heranziehend, die bereits Zweifel lässt, ob trotz der jüngsten Entwicklungen (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 16.02.2017) flächendeckend noch ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG anzunehmen ist, kann die Kammer jedenfalls nicht feststellen, dass eine ernsthafte und individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers bei einer Rückkehr nach Libyen, speziell nach Tripolis, droht.
Eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit als Zivilperson ergibt sich regelmäßig nicht allein aus Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein durch einen bewaffneten Konflikt ausgesetzt ist (EuGH, Urteil vom 30.08.2014, C-258/12, juris). Vielmehr ist – wie der Begriff schon vorgibt – eine individuelle Betroffenheit erforderlich. Diese kann sich zum einen aus gefahrerhöhenden Umständen ergeben, die in der Person des Betroffenen selbst zu finden sind, etwa durch die politische Stellung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe. Sie kann sich aber auch daraus ableiten, dass die sich aus dem bewaffneten Konflikt ergebende Gefahrendichte ein so hohes Niveau erreicht, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit Gefahr liefe, einer Bedrohung ausgesetzt zu sein (EuGH, Urteil vom 30.08.2014, a. a. O.). Beides ist vorliegend nicht der Fall.
Gefahrerhöhende individuelle Umstände liegen beim Kläger ersichtlich nicht vor, … Die Kammer vermag aber auch keine individuelle Betroffenheit aus der Gefahrendichte abzuleiten. Die bestehende Gefahrendichte wird durch Abwägung sämtlicher den Konflikt betreffender Umstände ermittelt. Als besonders wichtiges Kriterium ist hierbei das Tötungs- und Verletzungsrisiko zu berücksichtigen. Hierbei sind die Gesamtzahl der in den betreffenden Gebieten lebenden Zivilpersonen einerseits und die der Akte willkürlicher Gewalt andererseits zu ermitteln und die daraus zu gewinnende Quote in die wertende Gesamtbetrachtung einzustellen (SächsOVG, Beschluss vom 20.01.2016, 5 A 163/15.A, juris, Rn. 14 f.; EuGH, Urteil vom 17.02.2009, C-465/09, juris; BVerwG, Urteil vom 27.04.2010, 10 C-4/09, juris).
Nach den bereits genannten Zahlen ergibt sich für Libyen ein Risiko von 1:2.292 und für Tripolis ein solches von 1:7.767. Selbst wenn man zur Berücksichtigung der bei den Vorfällen zwar nicht getöteten, wohl aber verletzten Personen, sowie zur Berücksichtigung möglicher nicht bekannt gewordener Vorfälle die angegebenen Opferzahlen erheblich erhöht, etwa vervierfacht, wäre das Risiko binnen eines Jahres etwa im Großraum Tripolis aufgrund eines innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes getötet oder verletzt zu werden, mit weniger als 1:1900 auszuweisen und damit noch weitaus geringer als das vom Bundesverwaltungsgericht in anderer Sache für unbedenklich gehaltene Risiko von 1:800 (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. November 2011, 10 C-13/10, juris; BayVGH, Beschluss vom 06.04.2017 – 13a ZB 17.30254 -, juris; Prof. Dr. B., Die Bestimmung der „Gefahrendichte“ im Rahmen der Prüfung der Anerkennung als Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter; ZAR, 2017,110). Dabei bleibt zugunsten des Klägers unberücksichtigt, dass die angegebenen Opferzahlen neben Zivilisten wohl auch Kämpfer enthalten.
Angesichts der sich in absoluten Zahlen ausdrückenden Betroffenheit der Zivilbevölkerung, vor allem in Tripolis von weniger als 1:7000 gemessen an der Einwohnerzahl, lässt die Würdigung der Gesamtumstände unter Beachtung der aktuellen Entwicklungen in Libyen, hier insbesondere die „gemeinsame“ Bekämpfung und Vertreibung des Islamischen Staats, die internationale Unterstützung der Übergangsregierung in Tripolis durch die Vereinten Nationen sowie nicht zuletzt die jüngste Annäherung der beiden Machtblöcke unter Vermittlung Ägyptens und die hierbei in Aussicht gestellten demokratischen Wahlen den Schluss zu, dass in Libyen insgesamt, jedenfalls aber in Tripolis, keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens i. S. v. § 4 Abs. 1 Satz 2 Ziffer 3 AsylG bei einer Rückkehr besteht.
Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AsylG bestehen unter Bezugnahme auf die vorgenannten Ausführungen nicht.“
Diese Ausführungen macht sich das erkennende Gericht vollumfänglich zu Eigen. Zu ergänzen ist, dass der Kläger eine Vorverfolgung bzw. Vorschädigung ebenso wenig glaubhaft gemacht hat wie gefahrerhöhende individuelle Umstände.
Die behauptete Verschleppung bzw. Entführung des Klägers ist nicht glaubhaft. Es ist bereits nicht nachvollziehbar, warum der Kläger dieses bedeutsame Ereignis beim Bundesamt überhaupt nicht erwähnt hat, obwohl es nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung der Anlass für die Ausreise gewesen sein soll. Die Erklärung, er habe nicht gewusst, dass dies für seinen Asylantrag von Bedeutung sei, vermag nicht zu überzeugen, zumal in der Anhörung beim Bundesamt ganz konkret nach dem Grund seiner Ausreise gefragt wurde. Darüber hinaus stimmen das schriftliche Vorbringen und die Schilderung in der mündlichen Verhandlung inhaltlich nicht überein. Während im Schriftsatz vom 22.06.2017 von einer Verschleppung mit dem Ziel einer Zwangsrekrutierung im Kampf gegen die Rebellen, von Bedrohung und Misshandlung und von einer Freilassung dank der Vermittlung eines religiösen Bekannten der Familie die Rede ist, berichtet der Kläger von einer offensichtlich lösegeldmotivierten Entführung und einer Befreiung unter Einsatz von Waffen. Auch gibt der Kläger an, die Entführung sei kurz vor der Ausreise passiert, während es im Schriftsatz heißt, „später“ seien der Kläger und sein Bruder von Rebellen der Nähe zum Gaddafi-Regime bezichtigt und aufgefordert worden, für die Rebellen zu kämpfen. Das weitere schriftliche Vorbringen, wegen der Weigerung habe die Familie des Klägers ihre Wohnung verloren, und das Geschäft des Vaters sei enteignet worden, stellte sich in der mündlichen Verhandlung als unzutreffend heraus. Nach den Angaben des Klägers verfügte die Familie bis zur Ausreise über eine gemietete Wohnung und eine gemietete Werkstatt. Schließlich hat der Kläger auch nichts davon berichtet, dass die Kfz-Lackierer-Werkstatt seines Vaters Familienangehörige von Gaddafi als Kunden gehabt habe und er deshalb dem Verdacht einer Unterstützung des Gaddafi-Regimes besonders ausgesetzt gewesen sei. Alles in allem begründen die Steigerung des Vorbringens und die darin enthaltenen Unstimmigkeiten und Widersprüche Zweifel an seiner Wahrhaftigkeit, die so erheblich sind, dass das Gericht die erforderliche Überzeugung von einer Vorverfolgung bzw. Vorschädigung oder vom Vorliegen gefahrerhöhender individueller Umstände nicht gewinnen konnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 ff der ZPO.


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