Verwaltungsrecht

Unzulässige Abschiebungsanordnung im Dublin-Verfahren: keine Trennung von Mutter und Kleinkind

Aktenzeichen  Au 4 K 20.50138

Datum:
2.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 23206
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 20 Abs. 3
AufenthG § 11, § 75 Nr. 12
AsylG § 34a Abs. 1 S. 1, § 31 Abs. 1 S. 5
GG Art. 6

 

Leitsatz

Ist die Überstellung eines minderjährigen Kindes in den zuständigen Dublin-Staat wegen der gerichtlich angeordneten aufschiebenden Wirkung der Klage ausgeschlossen, darf keine Abschiebungsanordnung gegenüber der Mutter ergehen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 23.7.2020 (Gesch.-Z.: 7163771-272) wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Klage, über die gem. § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, ist zulässig und begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 23. Juli 2020 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Die nach § 34a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG für eine Abschiebungsanordnung (Nr. 3 des Bescheids vom 23.7.2020) erforderlichen Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Norm verlangt, dass der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll; ferner, dass feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann.
Zwar hat das Verwaltungsgerichts Regensburg in seinem Urteil vom 29. Mai 2020 (RN 7 K 17.51851) die Zuständigkeit Italiens für die Durchführung der Asylverfahren der Klägerinnen im Grundsatz bejaht; die auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG i.V.m. der Dublin III-VO beruhende Unzulässigkeitsentscheidung des Bescheids vom 15. August 2017 (dort Ziff. 1) wurde durch das Urteil nicht aufgehoben (vgl. auch UA, S. 6 f.). Die Klägerinnen haben jedoch bezüglich dieses Urteils einen Antrag auf Zulassung der Berufung beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof gestellt (9 ZB 20.50011; vgl. Bundesamtsakte, Bl. 319 ff.), über den noch nicht entschieden ist. Diesbezüglich fällt zwar auf, dass die an das Verwaltungsgericht Regensburg adressierte Antragsschrift der Klägerseite vom 16. Juli 2020 wohl zunächst beim Verwaltungsgericht Augsburg eingegangen ist (vgl. Bundesamtsakte, Bl. 321). Die Frage einer fristgerechten Stellung des Antrags auf Zulassung der Berufung ist jedoch vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof als Rechtsmittelgericht zu klären. Angesichts dieses noch anhängigen Rechtsmittelverfahrens bezüglich der Unzulässigkeitsentscheidung in Ziff. 1 des Bescheids vom 15. August 2017 steht jedenfalls derzeit (§ 77 Abs. 1 AsylG) nicht i.S.d. § 34a Abs. 1 Satz 1 a.E. AsylG fest, dass die Abschiebung auch durchgeführt werden kann.
Zwar ist die Beklagte nicht gehindert, eine Abschiebungsanordnung – wie im Ausgangsbescheid vom 15. August 2017 geschehen – mit der Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG zu verbinden, auch wenn gegen die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig noch Klage erhoben werden kann und somit diesbezüglich noch keine Bestandskraft eingetreten ist. Die Zulässigkeit einer solchen Verbindung ist allerdings in § 31 Abs. 1 Satz 5 AsylG vorgesehen. Vorliegend hat die Beklagte jedoch eine von der Ablehnungsentscheidung getrennte Abschiebungsanordnung erlassen; hinsichtlich der Ablehnungsentscheidung ist noch ein Rechtsmittel anhängig, welches die Annahme hindert, dass die Abschiebung auch i.S.d. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG durchgeführt werden kann. Dass es für den erneuten Erlass einer Abschiebungsanordnung eines rechtskräftigen Urteils hinsichtlich der Ablehnung des Asylantrags als unzulässig bedarf, sieht offensichtlich auch die Beklagte so. Sie hat sich im streitgegenständlichen Bescheid auf die – vermeintliche – Rechtskraft der Entscheidung des Verwaltungsgerichts Regensburg berufen und sich zuvor nach dem Eintritt der Rechtskraft erkundigt; in Reaktion hierauf wurde die Erstellung des streitgegenständlichen Bescheids veranlasst (vgl. Bundesamtsakte, Bl. 293 bis 296).
Zudem steht vorliegend nicht i.S.d. § 34a Abs. 1 Satz 1 a.E. AsylG fest, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann, weil hinsichtlich der Abschiebungsanordnung betreffend den Sohn bzw. Bruder der Klägerinnen,, die aufschiebende Wirkung von dessen Klage (Au 4 K 19.50817) mit Beschluss vom 7. Januar 2020 (Au 4 S 19.50818) angeordnet worden ist. Im Rahmen des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG obliegt es dem Bundesamt auch zu prüfen, ob inlandsbezogene Hindernisse der Abschiebung entgegenstehen (vgl. Faßbender in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 1.10.2019, § 34a AsylG, Rn. 14 m.w.N.). Die Abschiebung der Klägerinnen getrennt von ihrem erst knapp zweijährigen Sohn bzw. Bruder – welcher nach Aktenlage auch bei den Klägerinnen wohnt – würde gegen Art. 6 GG, Art. 8 EMRK verstoßen; dessen Abschiebung ist jedoch derzeit wegen der gerichtlich angeordneten aufschiebenden Wirkung seiner Klage ausgeschlossen.
2. Da sich somit die Abschiebungsanordnung gem. § 34a AsylG als rechtswidrig erweist, gilt dies auch für die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (Nr. 4 des Bescheids vom 23.7.2020). Sind die Voraussetzungen des § 34a AsylG – wie hier – nicht gegeben, kann auch keine Aufgabe des Bundesamts nach § 75 Nr. 12 AufenthG für die Entscheidungen nach § 11 AufenthG bestehen.
3. Der Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO zu entsprechen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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