Verwaltungsrecht

Urteil

Aktenzeichen  4 A 274/20 MD

Datum:
31.3.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG Magdeburg 4. Kammer
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:VGMAGDE:2022:0331.4A274.20MD.00
Spruchkörper:
undefined

Leitsatz

Je nach den Umständen des Einzelfalles kann auch eine religiöse Verfolgung von zum Christum Konvertirter im Irak angenommen werden.

Tenor

Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.
Im Übrigen wird die Beklagte unter insoweitiger Aufhebung ihres Bescheides vom 26.05.2020 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger zu 1/3 und die Beklagte zu 2/3; Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Dem jeweiligen Vollstreckungsschuldner bleibt nachgelassen, die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Der Kläger, ein irakischer Staatsangehöriger und kurdischer Volkszugehörigkeit, begehrt mit seiner Klage unter Aufhebung des Bescheides vom 26.05.2022 die Gewährung internationalen Schutzes.
Das Gericht folgt der Darstellung des Sachverhalts im angefochtenen Bescheid und sieht – bis auf die nachfolgenden Ergänzungen – unter Verweis auf die im Bescheid vom 26.05.2022 gemachten Ausführungen gemäß § 77 Abs. 2 AsylG von Darstellung des Tatbestandes im Übrigen ab.
Er reiste im Juni 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 20.06.2019 seinen Asylantrag, welcher auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränkt war.
In seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt (nachfolgend: Bundesamt) am 25.07.2019 gab er im Wesentlichen an, sein Heimatort sei D. (N.), wo die Familie in einem Haus gelebt und zwei Felder besessen habe. Er habe auch die Schule bis zur neunten Klasse besucht. Von dort sei die Familie geflohen, nachdem der IS am 03.08.2014 auf dem Vormarsch gewesen sei. Das Dorf sei von Yeziden und Muslimen bewohnt worden. Das Haus der Familie sei zerstört worden. Vor seiner Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland habe er für fünf Jahre in der Stadt Z. (Dohuk) mit seiner Familie in einem Camp gewohnt. In dieser Zeit habe er in einer Molkerei eine Ausbildung erhalten und gearbeitet. Die Ausreise habe der Vater durch den Verkauf jedenfalls eines Feldes und des Autos finanziert. Nach Deutschland habe er kommen wollen, da die Menschenrechte hier geachtet würden. In Z. habe es für ihn keine Zukunft gegeben. Das Leben im Irak sei sehr schwer. Es gebe nichts zu essen und keine Arbeit.
Mit Bescheid vom 26.05.2022 wies das Bundesamt seinen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie Gewährung subsidiären Schutzes zurück (Ziff. 1 und 2). Abschiebeverbote wurden nicht festgestellt (Ziff. 3). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik binnen 30 Tagen ab Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Ihm wurde die Abschiebung angedroht (Ziff. 4). Es wurde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot festgestellt. Zur Begründung führte das Bundesamt aus, die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen nicht vor. Eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung in seinem Heimatland habe der Kläger nicht dargelegt. Ebenso wenig seien Gründe für die Anerkennung subsidiären Schutzes vorgetragen oder ersichtlich. Auch seien die Voraussetzungen für die Feststellung für eines Abschiebeverbotes nicht erfüllt.
Am 10.06.2020 hat der Kläger hiergegen Klage erhoben.
Er trägt im Wesentlichen vor, er sei früher Muslim gewesen. Nachdem sein Asylantrag abgelehnt worden sei, habe er angefangen, mit seinem Glauben zu hadern, da seine intensiven Gebete, gerichtet auf den Aufenthalt in Deutschland, nicht erhört worden seien. Er sei zwar immer noch geborener Muslim gewesen, jedoch habe er keinen Glauben mehr gehabt. Dann habe er in der Gemeinschaftsunterkunft einen (konvertierten) Christen kennengelernt und mit diesem während des gemeinsamen Kochens auch über das Christentum gesprochen. Er habe sich dabei irgendwann sehr gut gefühlt und habe mehr wissen wollen. Er sei zu Gottesdiensten in eine Gemeinde nach Helmstedt eingeladen worden und dort auch hingegangen um mehr über den Glauben zu erfahren. In Deutschland habe er – anders als im Irak – kein Hemmnis vor dem Kontakt mit Christen gehabt, da hier seine Familie nicht gewesen sei, welche ihm sonst Probleme gemacht habe. In der Gemeinde seien ihm viele Informationen zum Christentum zu teil geworden und er habe sich nach sechsmonatiger Befassung mit dieser Religion für eine Konversion entschieden. Er habe für sich erkannt, dass das Christentum Wahrheit sei, von der er sich auch nicht mehr abwenden wolle. Er sei in der Kirche St. Marienberg am 13.06.2021 getauft worden und mittlerweile Mitglied der Evangelisch-Lutherischen Kirchgemeinde Georg C… in H.. Er besuche regelmäßig die Gottesdienste und Veranstaltungen der evangelischen Kirchgemeinde. Seit seiner Taufe engagiere er sich mehr und mehr in der christlichen Gemeinde. Er nehme an Deutschkursen teil und helfe auch beim Erklären von Bibeltexten und beim Übersetzen. Der Kläger fahre auch Mitglieder der Gemeinde zu den Gottesdiensten und anschließend wieder nach Hause. Im Irak würden (konvertierte) Christen verfolgt, geschlagen, diskriminiert und bedroht. Die Konversion sei für Muslime quasi untersagt. Man werde von der Gesellschaft nahezu ausgeschlossen. Im Irak könne er seinen Glauben nicht frei ausleben. Ihm sei bewusst, dass er bei einer Rückkehr in den Irak als Konvertit wahrscheinlich umgebracht werden würde, aber dennoch wolle er – unabhängig, ob hier oder im Irak – weiter offen als Christ leben, auch in die Kirche gehen und beten. Seine Familie habe sich, nachdem er sie von seiner Konversion unterrichtet habe, von ihm abgewendet. Sein Vater habe ihm gesagt, es wäre besser gewesen, wenn sein Onkel ihn getötet hätte als dass er in Deutschland Christ geworden sei. Dennoch habe er versucht, seinem Vater das Christentum näher zu bringen. Auch habe er sich bemüht, Muslimen in der Gemeinschaftsunterkunft den christlichen Glauben näher zu bringen. Er sei von diesen zwar abgelehnt und zurückgewiesen worden, jedoch habe er sich nicht entmutigen lassen. Er habe das Gefühl gehabt, Jesus sei bei ihm gewesen, was ihm Stärke gegeben habe.
Im Übrigen drohe ihm bei einer Rückkehr in den Irak eine konkrete Gefahr für Leib, Leben und Gesundheit. Es liege eine besondere Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit vor. In Zaxo und Dohla sei die Sicherheitslage prekär. Es herrsche ein bewaffneter Konflikt, sowohl in der Hauptstadt Bagdad als auch in weiteren Gebieten des Landes.
Der Kläger hat ursprünglich beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 26.05.2020 zu verpflichten, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen; ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG hinsichtlich Irak festzustellen; die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes ins Bundesgebiet bezüglich des Klägers aufzuheben; hilfsweise, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 26.05.2020 zu verpflichten, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und dem Kläger den subsidiären Schutzstatuts zuzuerkennen; ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG festzustellen; die Beklagte unter Aufhebung des vorgenannten Bescheides zu verpflichten, über den Asylantrag des Klägers sowie über die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes erneut unter Beachtung der Rechtsaufassung des Gericht zu entscheiden.
Der Kläger beantragt unter Zurücknahme seiner Klage im Übrigen nunmehr,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 26.05.2020 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen;
hilfsweise, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 26.05.2020 zu verpflichten, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen;
weiter hilfsweise, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 26.05.2020 zu verpflichten, ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen;
weiter hilfsweise, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 26.05.2020 zu verpflichten, über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
Die Beklagte beantragt schriftlich,
die Klage abzuweisen
und bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten, insbesondere das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 31.03.2022, sowie den Verwaltungsvorgang Bezug genommen. Diese waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

A. Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, war das Verfahren nach § 92 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 VwGO unanfechtbar einzustellen.
B. Im Übrigen hat er mit seiner zulässigen Klage Erfolg. Sie ist bereits im Hauptantrag begründet.
Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 26.05.2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger daher in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Dem Kläger steht im hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) der begehrte Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zu.
Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Eine Furcht vor Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist begründet, wenn dem Ausländer diese aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (ständige Rechtsprechung, vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 11.12.2019 – 1 B 79.19 -, nach juris). Dabei ist eine beachtliche Wahrscheinlichkeit anzunehmen, wenn bei zusammenfassender Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhaltes die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (ständige Rechtsprechung, vgl. BVerwG, a.a.O.). Gemäß § 28 Abs. 1a AsylG kann die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auch auf Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftslandland verlassen hat (sogenannte objektive Nachfluchtgründe), oder auf einem Verhalten des Ausländers nach seiner Ausreise aus dem Herkunftsland (sogenannte subjektive Nachfluchtgründe) beruhen.
Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind gemäß § 3c AsylG unter anderen der Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen.
Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3 Abs. 1 und § 3b AsylG und den als Verfolgung eingestuften Handlungen eine Verknüpfung bestehen, wobei es unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinen Verfolgern zugeschrieben werden, § 3b Abs. 2 AsylG. Sollte dem Asylbewerber eine inländische Fluchtalternative zustehen im Sinne von § 3d AsylG, so wird ihm die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3e AsylG nicht zuerkannt.
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist, oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist. Diese Legaldefinition der Verfolgungshandlung erfährt in § 3a Abs. 2 AsylG eine Ausgestaltung durch einen nicht abschließenden Katalog von Regelbeispielen. Danach kann etwa die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (Nr. 1) ausreichen. Die Annahme einer Verfolgungshandlung setzt einen gezielten Eingriff in ein flüchtlingsrechtlich geschütztes Rechtsgut voraus (vgl. OVG NRW, Urteil vom 12.10.2021 – 9 A 549/18.A, BeckRS 2021, 32255 Rn. 19 ff. m. w. N.).
Die in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe werden in § 3b AsylG konkretisiert. Der Begriff der „Religion“ umfasst auch theistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme und Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigung oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind (§ 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 20.02. 2013 – 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936, 939 f.; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 03.04.2020 – 2 BvR 1838/15, BeckRS 2020, 9319) ist in Fällen, in denen nicht schon die bloße Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft – wie bei Christen im Gegenzug zu Jesiden bis 2017 im Irak – als solche die Gefahr einer Verfolgung begründet, bei der Frage, ob ein Eingriff in die Religionsfreiheit eine hinreichend schwere Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG, Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 darstellt, – in einem ersten Schritt – in objektiver Hinsicht festzustellen, welche Maßnahmen und Sanktionen gegenüber dem Betroffenen im Herkunftsstaat voraussichtlich ergriffen werden, wenn er eine bestimmte Glaubenspraxis dort ausübt, und wie gravierend diese sind. Die erforderliche Schwere kann insbesondere erreicht sein, wenn ihm durch die Betätigung seines Glaubens – im privaten oder öffentlichen Bereich – die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, (tatsächlich) strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Dabei kann bereits der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf die Glaubensbetätigung die Qualität einer Verfolgung erreichen.
Sodann ist – in einem zweiten Schritt – in subjektiver Hinsicht festzustellen, ob die Befolgung einer solchermaßen als verfolgungsträchtig bestimmten Glaubenspraxis ein zentrales Element für die religiöse Identität des Schutzsuchenden und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar ist. Maßgeblich ist dabei, wie der Einzelne seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist. Beide Prüfungsschritte unterliegen der eigenständigen tatrichterlichen Würdigung der Verwaltungsgerichte. Die innere Tatsache, dass die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für die religiöse Identität des Betroffenen zentrale Bedeutung hat, muss zur Überzeugung der Gerichte feststehen (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), (BVerfG, Beschluss vom 03.04.2020 – 2 BvR 1838/15, BeckRS 2020, 9319 Rn. 27). Das Gericht muss auf einer hinreichenden Tatsachengrundlage von der Richtigkeit seiner gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle richterliche Überzeugung erlangt haben (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.02.2014 – 10 C 6.13 -, juris Rn. 18 m. w. N.). Für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit des Vorbringens gilt nach den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen, dass es dem Asylsuchenden obliegt, von sich aus umfassend die Verfolgungsgründe substantiiert, unter Angabe genauer Einzelheiten und in sich stimmig darzulegen. Der Vortrag, insbesondere zu den in die eigene Sphäre fallenden Ereignissen, muss geeignet sein, den Schutzanspruch lückenlos zu tragen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 – 9 C 321.85 -, juris Rn. 9). Das Gericht muss sich in vollem Umfang die Überzeugung von der Wahrheit des von dem Asylsuchenden behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals verschaffen, wobei allerdings der typische Beweisnotstand hinsichtlich der Vorgänge im Herkunftsland bei der Auswahl der Beweismittel und bei der Würdigung des Vortrags und der Beweise angemessen zu berücksichtigen ist. Unauflösbare Widersprüche und erhebliche Steigerungen des Vorbringens sind hiermit unvereinbar und können dazu führen, dass dem Vortrag im Ganzen nicht geglaubt werden kann, es sei denn, die Widersprüche und Unstimmigkeiten können überzeugend aufgelöst werden (vgl. VG Berlin, Urteil vom 22.05.2018 – 25 K 22/17, BeckRS 2018, 10974 Rn. 14).
Nach diesen Maßstäben ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, da das Gericht im Ergebnis der mündlichen Verhandlung vom 31.03.2022 unter Berücksichtigung des persönlich gewonnenen Eindrucks von dem Kläger zu der Überzeugung gelangt, dass er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung i. S. v. § 3 AsylG außerhalb des Iraks befindet.
a) Das Gericht ist unter Berücksichtigung der der Entscheidung zugrundeliegenden Erkenntnismittel davon in diesem konkreten Einzelfall überzeugt, dass es objektiv beachtlich wahrscheinlich ist, dass der Kläger von der kurdischen Gesellschaft bei Rückkehr in die autonome Region Kurdistan aufgrund der Konversion verfolgt wird. Der Abfall vom Islam ist im Irak nicht ausdrücklich strafgesetzlich verboten. Jedoch verbietet das irakische Strafgesetzbuch z. B. die Beleidigung von religiösen Ritualen. Der Abfall vom Glauben wird nicht nur als Beleidigung angesehen, sondern auch als unnatürlich (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Rechtliche Folgen bei Konversion eines Sunniten zu christlicher Gemeinschaft; Verhalten schiitischer Milizen oder anderer Personengruppen (abseits der Gruppe Islamischer Staat) gegenüber zum Christentum konvertierten Personen; Auswirkungen einer Konversion zum Christentum auf den Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt (Stand 26.07.2019)). Die Gesetze und Vorschriften zum Personenstand verbieten die Konversion von Muslimen zu anderen Religionen (vgl. BFA, Länderinformation (Stand 15.10.2021), S. 87 [und gleichen Inhalts: BFA, Länderinformation (Stand 02.03.2022), S. 98]; USDOS, 2020 Report on International Religious Freedom: Iraq (Stand 12.05.2021)). Eine (offizielle) Änderung des Personenstandes eines geborenen Muslims nach einer Konversion zum Christentum ist nicht möglich (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Rechtliche Folgen bei Konversion eines Sunniten zu christlicher Gemeinschaft; Verhalten schiitischer Milizen oder anderer Personengruppen (abseits der Gruppe Islamischer Staat) gegenüber zum Christentum konvertierten Personen; Auswirkungen einer Konversion zum Christentum auf den Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt (Stand 26.07.2019)). Seit Einführung des neuen Personalausweisdokuments deklarieren diese zwar die Religionszugehörigkeit nicht mehr offen nach außen. Zu Beantragung des Dokuments muss jedoch eine Angabe der Religion erfolgen (vgl. BFA, Länderinformation (Stand 15.10.2021), S. 85 [und gleichen Inhalts: BFA, Länderinformation (Stand 02.03.2022), S. 95]). Ein Wechsel der Religion nach Konversion kann in den offiziellen Unterlagen nicht vermerkt werden, wenn sich eine Person nicht von einer anderen Religion zum Islam hinwendet (AA, Amtshilfeersuchen des BayVGH [09.03.2022]). Auch verlangen die Personenstandsgesetze, dass minderjährige Kinder behördlich als Muslime bezeichnet werden, wenn ein Elternteil als Muslim gilt, selbst wenn das Kind das Ergebnis einer Vergewaltigung ist. Auch die Registrierung der Kinder von Konvertiten als Christen ist auch nach neuem Personenstandsgesetz aus dem Jahr 2016 nicht möglich (Der Bundesbeauftragte der Bundesregierung für weltweite Religionsfreiheit, Irak, abrufbar unter https://religionsfreiheit.bmz.de/de/der-bericht/laender-A-Z/irak/index.html [30.03.2022]; DIS/Landinfo – Danish Immigration Service [Dänemark]; Norwegian Country of Origin Information Center [Norwegen]: Kurdistan Region of Iraq (KRI): Women and men in honour-related conflicts [09.11.2018], S. 57). Das Personenstandsrecht verbietet es, muslimischen Frauen, Nicht-Muslime zu heiraten (vgl. BFA, Länderinformation (Stand 15.10.2021), S. 87 [und gleichen Inhalts: BFA, Länderinformation (Stand 02.03.2022), S. 98]). Es besteht ein gesetzlicher Widerspruch zwischen den (verfassungsrechtlich) garantierten Rechten einerseits und dem Islam als Rahmen für die Gesetzgebung andererseits, der dazu führt, dass es bei der Anwendung der Gesetze Spielraum für unterschiedliche Auslegungen gibt. So ist es auf der einen Seite erlaubt, seinen Glauben frei zu wählen, andererseits ist der Abfall vom Glauben jedenfalls als Beleidigung strafbar, sodass dies eine Strafverfolgung nach sich ziehen kann. Die Richter können das Recht nach religiösen Regeln interpretieren und in Ermangelung spezialgesetzlicher Regelung auf islamische Regelungen zurückgreifen, da der Islam die Hauptquelle der Gesetzgebung ist (vgl. vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Rechtliche Folgen bei Konversion eines Sunniten zu christlicher Gemeinschaft; Verhalten schiitischer Milizen oder anderer Personengruppen (abseits der Gruppe Islamischer Staat) gegenüber zum Christentum konvertierten Personen; Auswirkungen einer Konversion zum Christentum auf den Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt (Stand 26.07.2019; AA, Lagebericht (02.03.2020), S. 12); VG Hannover, Urteil vom 11.11.2019 – 6 A 612/17-, juris; VG Magdeburg, Urteil vom 04.06.2021 – 4 A 732/17, BeckRS 2021, 17654 Rn. 19). In der irakischen Gesellschaft – auch in der KRI – ist die Feindseligkeit gegenüber Konvertiten weit verbreitet und Familien sowie Stämme, aber auch die Gesellschaft, sehen Konversion als Verletzung der kollektiven Ehre, was je nach Radikalität der Verwandtschaft, auch zum Tode des Konvertiten führen kann (vgl. vgl. BFA, Länderinformation (Stand 15.10.2021), S. 87 [und gleichen Inhalts: BFA, Länderinformation (Stand 02.03.2022), S. 98]; Open Doors e. V., Länderprofil Irak [Berichtszeitraum 01.10.2020 bis 30.09.2021]). Eine öffentliche Konversion würde nicht nur zur Ausgrenzung oder Gewalt durch die Gemeinschaft, den Stamm oder die Familie führen, sondern auch zu Gewalt durch islamistische Gruppen. Es gibt eine unbekannte Anzahl vom Islam zum Christentum Konvertierter, die ihre Religion aber aus Furcht nicht öffentlich ausübten (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Rechtliche Folgen bei Konversion eines Sunniten zu christlicher Gemeinschaft; Verhalten schiitischer Milizen oder anderer Personengruppen (abseits der Gruppe Islamischer Staat) gegenüber zum Christentum konvertierten Personen; Auswirkungen einer Konversion zum Christentum auf den Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt (Stand 26.07.2019) m. w. N.; vgl. BFA, Länderinformation (Stand 15.10.2021), S. 87 [und gleichen Inhalts: BFA, Länderinformation (Stand 02.03.2022), S. 98]). Insoweit ist es kein Widerspruch, dass Christen selbst nicht zwingend einer Verfolgung unterliegen (vgl. VG Hannover, Urteil vom 11.11.2019 – 6 A 612/17 -, juris). Denn es wird davon ausgegangen, dass man in seine Religion hineingeboren wird und diese bis zu seinem Tod beibehält.
Das Gericht ist insoweit nicht der Ansicht, dass der Kläger, dessen Vater ihm bereits deutlich gemacht hat, dass sein Tod besser als eine Konversion zum Christentum gewesen wäre, erst „austesten“ muss, ob die übrige Sippe die Konversion duldet oder nicht. Er hat auch hinreichend substantiiert und – nach dem persönlichen Eindruck des Gerichts – mit ausreichend Nachdruck dargelegt, dass ihm im Falle seiner Rückkehr gesellschaftliche Ausschluss oder sogar der Tod drohen kann. Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung wegen seiner Konversion kann im vorliegenden Einzelfall auch mit Blick auf die genannten Erkenntnismittel angenommen werden. Denn diesen lässt sich entnehmen, dass viele Konvertiten die Angaben zur Religion gerade nicht machen, weil sie die Reaktion der anderen, und auch jene der Gesellschaft fürchten (vgl. DIS/Landinfo – Danish Immigration Service [Dänemark]; Norwegian Country of Origin Information Center [Norwegen]: Kurdistan Region of Iraq (KRI): Women and men in honour-related conflicts [09.11.2018], S. 57). Es ist somit mit erheblichen Konsequenzen zu rechnen. Ein solches Verhalten ist dem Kläger indes nicht zumutbar. Nach den Auskünften ist es zudem so, dass wer seine Religion wechseln möchte, auch in der Autonomen Region Kurdistan nicht nur mit bürokratischen Hindernissen zu rechnen hat, sondern auch mit lebensgefährlichen Konsequenzen. Dies mag dann nicht so problematisch sein, wenn eine Person, ihren Glauben dezent ausübt oder gar nicht erst mitteilt. Indes ist dies dem Kläger vorliegend nicht zumutbar. Der Kläger hat bereits in Deutschland anderen Muslimen versucht, den christlichen Glauben näher zu bringen, obwohl er offen von diesen hierfür abgelehnt worden ist. Ebenso geschah dies gegenüber seinem Vater. Er ist ersichtlich von der christlichen Religion erfüllt und hat auch hier bereits Gefahren wegen seiner Glaubensüberzeugung auf sich genommen. Daher ist ein Gebiet, in dem in weiten Teilen die Überzeugung herrscht, dass Konvertiten unnatürlich seien, kein Ort, an dem der Kläger mit seiner offenen und zutiefst überzeugten Art von der Richtigkeit des christlichen Glaubens, wird überleben können. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass der Kläger, weil sein Glauben nichts anderes zulässt, sich auch im Irak einer christlichen Kirche anschließen wird und auch andere hierzu einladen wird. Sein Glauben wird öffentlich werden. Dies wird ihn exponieren und in einem zunehmend konservativen gesellschaftlichen Klima, erheblichen Gefahren aussetzen.
Zudem ist zu bedenken, dass gemäß § 3 a Abs. 2 Nr. 2 AsylG als Verfolgung unter anderem auch gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen gelten, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Art und Weise angewandt werden. Dabei muss die Maßnahme für sich genommen oder mit anderen Maßnahmen eine gewisse Intensität erreichen, um als flüchtlingsrelevant angenommen zu werden. Da die Religionsfreiheit eines der Fundamente einer demokratischen Gesellschaft und ein grundlegendes Menschenrecht ist, kann auch nicht erwartet werden, dass jemand seinen Glauben still ausübt (vgl. EuGH, Urteil vom 05.09.2012 – C-71/11, C-99/11, juris). Insoweit ist vorliegend festzustellen, dass der Kläger auch im Übrigen erheblichen Diskriminierungen ausgesetzt sein wird, die insbesondere aus der Art der Registrierung der Religion nach den Personenstandgesetzen folgen. Er wird erhebliche Schwierigkeiten haben, eine Familie zu gründen und zugleich seine Religion auszuüben. Kein Muslim wird seine Tochter mit ihm verheiraten und auch Christen werden zögern, weil er offiziell als Muslim gilt. Etwaige Kinder werden – wie bereits oben beschrieben – als Muslime gelten, denn der Kläger wird die islamische Religion offiziell nicht beseitigen können. Auch dies stellt eine Verfolgung dar, die die Flüchtlingseigenschaft neben der bereits erwähnten Verfolgung (objektiv) begründet.
b) Das Gericht ist ferner davon überzeugt, dass der am 13.06.2021 getaufte Kläger derart vom christlichen Glauben beseelt ist, dass dieser für ihn identitätsprägend ist und seine Konversion von einer so tiefen Überzeugung getragen ist, dass er den Glauben auch bei einer Rückkehr in den Irak ausleben wollen würde. Der Glauben ist für ihn nach dem durch das Gericht in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindruck derart unverzichtbar geworden, dass es für ihn unzumutbar ist, hierauf unter Berücksichtigung der im Irak drohenden Repressalien zu verzichten.
Gegenstand der Prüfung der Glaubhaftigkeit ist die Frage, ob die Angaben der jeweiligen Aussageperson hinsichtlich eines bestimmten tatsächlichen Geschehens zutreffen oder nicht. Dabei ist die Aussage zunächst dahingehend zu überprüfen, ob es Merkmale bzw. Anzeichen vorliegen, die für ihre Glaubhaftigkeit sprechen. Die Rechtsprechung zieht dabei aussagepsychologisch gewonnene Kennzeichen, sog. „Realitäts-“, „Real-“ oder „Glaubhaftigkeitsanzeichen“, insbesondere Detailreichtum, Angaben zu im Hintergrund stehenden Umständen, die Schilderung eigener subjektiver Empfindungen oder Gefühle sowie eine nicht chronologische und unpräzise – gleichwohl inhaltlich ausführliche – Erzählweise im Gegensatz zur Wiedergabe angelernter oder ausgedachter Informationen, etc. heran (vgl. bspw. BVerwG, Urteil vom 19.07.2006 – 2 WD 13.05 -, NVwZ-RR 2007, 182; LSG BaWü., Urteil vom 15.12.2011 – L 6 VG 584/11 -, BeckRS 2012, 70690; VG Karlsruhe, Urteil vom 13.03.2019 – A 4 K 16909/17, BeckRS 2019, 8126 Rn. 34). Dabei ist im Einzelfall derjenige zu fordernde Maßstab an Detailreichtum, Hintergrundumständen und zur Erzählweise anhand der jeweiligen Aussageperson und ihrer subjektiven Kompetenzen, Kenntnisse und Fähigkeiten zu bestimmen. Es ist danach zu fragen, ob im Falle des Vorliegens abstrakter Realitätskennzeichen die konkrete Aussageperson subjektiv nach ihren intellektuellen Fähigkeiten und nach den von ihr erwartbaren – ggf. auch fachlichen Kenntnissen – über den Aussagegegenstand in der Lage wäre, eine Aussage der festgestellten Qualität auch dann abzuliefern, wenn sie nicht der Wahrheit entspräche (VG Karlsruhe, Urteil vom 13.03.2019 – A 4 K 16909/17, BeckRS 2019, 8126 Rn. 35 m. w. N.). Im Rahmen der tatrichterlichen Beweiswürdigung ist die besondere Bedeutung des Grundrechts auf Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit zu beachten. Umstände, unter denen das Gericht die Überzeugung von dieser inneren Tatsache gewinnt, sind grundsätzlich einer abstrakt-generellen Verallgemeinerung nicht zugänglich. Es handelt sich stets um eine Frage des jeweiligen Einzelfalls (BVerfG, Beschluss vom 03.04.2020 – 2 BvR 1838/15, a. a. O, Rn. 34). Es bedarf im Rahmen der Beweiswürdigung jedoch in aller Regel der Gesamtschau einer Vielzahl von Gesichtspunkten, die Aufschluss über die religiöse Identität des Schutzsuchenden geben können, wie etwa die religiöse Vorprägung des Betroffenen und seiner Familie, eine Glaubensbetätigung bereits im Herkunftsland, der äußere Anstoß für den Konversionsprozess sowie dessen Dauer oder Intensität, die inneren Beweggründe für die Abwendung vom bisherigen Glauben, die Vorbereitung auf die Konversion und deren Vollzug, die Information und Reaktion des familiären und sozialen Umfeldes, das Wissen über die neue Religion und die Konversionskirche, die Bedeutung und Auswirkungen des neuen Glaubens für beziehungsweise auf das eigene Leben sowie Art und Umfang der Betätigung des neuen Glaubens wie zum Beispiel die Teilnahme an Gottesdiensten, an Gebeten und am kirchlichen Leben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 03.04.2020 – 2 BvR 1838/15, a. a. O, Rn. 35; Berlit/Dörig/Storey, Glaubhaftigkeitsprüfung bei Asylklagen aufgrund religiöser Konversion oder Homosexualität: Ein Ansatz von Praktikern (Teil 1), ZAR 2016, 281, 284 ff.). Bei alledem haben die Tatsachengerichte jedoch zu beachten, dass Gesichtspunkten der vorerwähnten Art stets nur die Bedeutung von Indizien zukommt, und dass sie sich im Rahmen der tatrichterlichen Würdigung jeglicher inhaltlicher Bewertung des Glaubens des Einzelnen und der Kirchen zu enthalten haben. Eine inhaltliche „Glaubensprüfung“ – etwa eine eigene Auslegung oder Priorisierung einzelner Glaubensinhalte gegenüber anderen Aspekten der jeweils betroffenen Religion – ist ihnen verschlossen, weil dies die verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit, das eigene Verhalten an den Lehren des Glaubens auszurichten und innerer Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln, entleeren würde. Zudem gilt, dass die Vertrautheit des Schutzsuchenden mit den Lehraussagen einer Religionsgemeinschaft zwar ein Indiz für die identitätsprägende Bedeutung eines Übertritts zu dieser Religion darstellen kann – wenn auch nicht zwingend muss -, dass indes der Umkehrschluss nicht in jedem Fall zulässig ist. Eine identitätsprägende Hinwendung zu einem Glauben kann vielmehr auch ohne eine derartige Vertrautheit vorliegen, wenn aussagekräftige und gewichtige Umstände des Einzelfalles festzustellen sind, die die Prognose rechtfertigen, dass der Schutzsuchende sich den Verhaltensleitlinien seines neu gewonnenen Glaubens derart verpflichtet sieht, dass er ihnen auch nach Rückkehr in seinen Heimatstaat folgen und sich damit der Gefahr von Verfolgung oder menschenunwürdiger Behandlung aussetzen wird. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV gebieten es, auch derartige Fallkonstellationen zutreffend zu erfassen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 03.04.2020 – 2 BvR 1838/15, a. a. O, Rn. 37 f.).
Gemessen daran gelangte die erkennende Einzelrichterin unter Berücksichtigung des von dem Kläger in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks zu der Überzeugung, dass der Kläger sich dem christlichen Glauben nicht aus asyltaktischen Gründen hingegeben, sondern diesen wahrhaft verinnerlicht hat.
Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung sehr deutlich gemacht, dass der Islam während seines Lebens im Irak und auch noch in Deutschland eine besondere Rolle gespielt hat. Seine Familie sei religiös gewesen und dies immer noch. Jedoch habe er bereits als Kind angefangen, kriegerische Handlung im Namen des islamischen Glaubens zu hinterfragen, was jedoch von seiner Familie damit abgetan worden sei, dass es Hass überall gebe. Seine Abwendung vom Glauben – fernab seiner Familie – hat er für das Gericht plausibel dargelegt. Er hat deutlich gemacht, dass er trotz seiner Hinwendung und seines Einsatzes in Form von Beten nicht habe verstehen können, weswegen sein Gott ihm nicht habe helfen können in Deutschland zu bleiben, was ihn frustriert habe. Das habe zu einem vorübergehenden Abfall vom Glauben geführt. Für das Gericht nachvollziehbar und ihn sich glaubhaft hat der Kläger dann in der mündlichen Verhandlung geschildert, wie er in Deutschland zum christlichen Glauben gefunden hat. Er hat dargelegt, über den Kontakt zu seinen Zimmernachbarn in der Gemeinschaftsunterkunft, welcher selbst Konvertit sei, zum Besuch der christlichen Gemeinschaft gekommen zu sein. Dabei hat er auch auf die Frage, weswegen er, wie zuvor geschildert, im Irak keinen Kontakt zu Christen, der über heimliches Grüßen hinausgegangen sei, gehabt habe, durchaus plausibel dargelegt, dass er in Deutschland die Reaktion seiner Familie habe nicht fürchten müssen. Der Kläger beschönigte seine Hinwendung zum Christentum auch nicht und zeigte auf, dass die Konversion für ihn nicht leichtfertig erfolgte. Er machte mit Nachdruck deutlich, dass er anfangs durchaus ein unwohles Gefühl gehabt habe. Dieses sei jedoch verschwunden und er fühle sich im christlichen Glauben und seiner Gemeinde, in der er sich engagiere, nun sehr wohl. Er habe sich intensiv mit dem Glauben und den Schriften auseinandergesetzt und Gespräche geführt. Der Kläger machte sehr deutlich, dass er sich nicht dem christlichen Glauben und Leben hingegeben hätte, wenn er für sich nicht zu der Erkenntnis gelangt wäre, dass der christliche Glaube für ihn Wahrheit bedeute. Wie differenziert er mit dem Glauben umgeht, verdeutlichte der Kläger, als die erkennende Richterin ihn unter Bezugnahme auf die derzeitige Situation in Ukraine fragte, wie es denn sein könne, dass kriegerische Auseinandersetzungen im Irak ihn haben Zweifeln lassen, er aber nun weiter fest ihm christlichen Glauben verankert sei. Er machte deutlich, dass kriegerische Gewalt im Irak und im Nahen Osten häufig unter dem Deckmantel des Glaubens geführt würde. Im Gegensatz dazu fuße der Krieg in der Ukraine auf politischen Erwägungen, weswegen sein Glaube hierdurch nicht erschüttert sei. Er bete auch jeden Tag, dass Frieden kommen möge. Auf die Frage, ob Beten an Regeln gebunden sei, vermochte der Kläger nicht direkt zu antworten, sondern erwiderte vielmehr mit dem „Vaterunser“. Nach Umstellung der Frage, machte er jedoch deutlich, dass es keine direkten Regeln zur Art des Betens gibt. Er zeigte auf, dass er das Gebet als Gespräch mit Gott zum Beginn des Tages begreift, was imponierte. Etwas zögerlich reagierte der Kläger, als das Gericht ihn auf die Bedeutung von Vergebung ansprach. Die dadurch aufgeworfenen Zweifel räumte der Kläger jedoch nachhaltig durch seine weiteren Darlegungen dazu, was Vergebung für Christen und insbesondere für ihn bedeute, aus. So machte er deutlich, dass er auch seinem Vater, der ihm wegen seiner Konversion quasi den Tod wünsche, vergebe, da Jesus dies lehre. Der Kläger brachte mehrfach zum Ausdruck, dass Jesus für ihn eine zentrale Bedeutung einnehme. Unter anderem erzählte er von seinen Begegnungen mit Muslimen in der Gemeinschaftsunterkunft und seinen Versuchen, diesen den christlichen Glauben näher zu bringen. Obwohl er deutlich – für die Einzelrichterin über seine Mimik erkennbar – von der Ablehnung ihm gegenüber bedrückt war, brachte er ebenso zum Ausdruck, dass er dennoch nicht mit seinem Glauben und seiner Situation gehadert habe, da er Jesus an seiner Seite gespürt habe. Dies habe ihm das Gefühl der Stärke gegeben. Er sich deshalb gut gefühlt habe, anderen den christlichen Glauben näher bringen zu wollen. Ihm ist auch deutlich bewusst, sollte er als Konvertit in den Irak zurückkehren, sein offener Umgang mit dem Glauben durch die Besuche einer Kirche und das Beten ihm Repressalien bis hin zum Tod einbringen könnten. Dennoch überzeugte er das Gericht, dass er weiter am christlichen Glauben festhalten werde, was auch komme. Auf die hilfsweise durch die Klägerseite angeregte Vernehmung des Vorsitzenden der Evangelischen Gemeinschaft Helmstedt e. V. als Zeugen kam es insoweit nicht an.
c) Wirksamen Schutz gegen Verfolgung und Diskriminierung i. S. v. § 3d AsylG können die Sicherheitskräfte nicht geben, im Gegenteil lässt sich den Erkenntnismitteln entnehmen, dass auch Behörden, die Volksmobilisierungskräfte (PMF) und Polizei die Konvertiten und Christen nicht nur belästigen, sondern ihnen Gewalt antun oder sie enteignen (vgl. BFA, Länderinformation (Stand 15.10.2021), S. 85 ff. [und gleichen Inhalts: BFA, Länderinformation (Stand 02.03.2022), S. 96 ff.]); DIS/Landinfo – Danish Immigration Service [Dänemark]; Norwegian Country of Origin Information Center [Norwegen]: Kurdistan Region of Iraq (KRI): Women and men in honour-related conflicts [09.11.2018], S. 68; Open Doors e. V., Länderprofil Irak [Berichtszeitraum 01.10.2020 bis 30.09.2021]).
d) Dem Kläger steht auch keine inländische Fluchtalternative i. S. v. § 3e AsylG zur Verfügung, denn in den übrigen Landesteilen ist eine Verfolgung der Konvertiten noch mehr zu befürchten als in der Autonomen Region Kurdistan, in welche sich Minderheiten zurückgezogen haben (vgl. Open Doors e. V., Länderprofil Irak [Berichtszeitraum 01.10.2020 bis 30.09.2021]: Der Irak ist auf dem Weltverfolgungsindex auf Platz 14 von 78). Der Kläger muss somit im gesamten Irak mit einer Verfolgung als Konvertit rechnen.
C. Da dem Kläger somit die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen war, sind die Abschiebungsandrohung und die Ausreiseaufforderung sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben.
D. Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klage auf § 155 Abs. 2 VwGO und im Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83 b AsylG. Die Entscheidung über vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 ZPO.


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