Verwaltungsrecht

Verbot des Regelbetriebs einer Kinderkrippe

Aktenzeichen  M 26 S 20.2253

Datum:
17.6.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 14831
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayIfSMV § 3 S. 2
IfSG § 4 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1, § 28 Abs. 1 S.1, § 32
GG Art. 3 Abs. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin vom 25.05.2020 gegen die Nummer 1.1 der Allgemeinverfügung des Antragsgegners vom 29.05.2020, Az. G51b-G8000-2020/122-344, wird angeordnet.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf EUR 2.500,– festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen das Verbot des Regelbetriebs der von ihr betriebenen Kindertageseinrichtung durch Allgemeinverfügung des Antragsgegners.
Die Antragstellerin betreibt in A* … eine Kinderkrippe in privater Trägerschaft. Gemäß der Betriebserlaubnis darf die Kinderkrippe von maximal 20 Kindern gleichzeitig besucht werden. 10 Kinder besuchen eine Langzeitgruppe mit täglicher Betreuungszeit über und 10 Kinder eine Kurzzeitgruppe mit täglicher Betreuungszeit unter 6 Stunden. Die Antragstellerin bietet 10 Ganztagsplätze und 10 Halbtagsplätze (Betreuung vor- oder nachmittags) für Kinder zwischen Null und ca. dreieinhalb Jahren an.
Die Räumlichkeiten im Erdgeschoss mit einer Fläche von ca. 180 m² umfassen zwei Gruppenräume, einen Ruhe- und Mehrzweckraum, eine Teeküche, ein Bad mit Kinder-WC sowie ein Gäste- und Personal-WC und verfügen über mehrere Eingänge zur Straße hin. Die Kinder werden in Gruppen mit maximal 10 anwesenden Kindern durch die Antragstellerin sowie eine weitere pädagogische Fachkraft und vier Ergänzungskräfte betreut. Das Personal ist den Kindergruppen fest zugeordnet.
Am 25. Mai 2020 ließ die Antragstellerin Anfechtungsklage gegen das Verbot der regulären Betreuungsangebote erheben und beantragte gleichzeitig im vorliegenden Verfahren:
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin vom 25.05.2020 gegen die Allgemeinverfügung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 19.05.2020, bekanntgemacht als BayMBl. 2020 Nr. 275, dortiges Az. G7VZ-G8000-2020/122-326, wird wiederhergestellt.
Zur Begründung wurde vorgetragen, das Betreuungsangebot der Antragstellerin weiche in Bezug auf die räumlichen Gegebenheiten, die Zahl der betreuten Kinder und den Personalschlüssel erheblich von einer herkömmlichen Kindertageseinrichtung ab.
Der Regelbetrieb der Antragstellerin erfülle die Merkmale der bereits seit 25. Mai 2020 wieder zulässigen Großtagespflege, wie sie in der Begründung der Allgemeinverfügung beschrieben seien. Er sei unter infektionsschutzrechtlichen Gesichtspunkten weniger problematisch als der zulässige Notbetrieb einer regulären Kindertagesstätte oder der Regelbetrieb in nicht gebäudebezogenen Einrichtungen (wie Waldkindergärten). In dieser sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung des Betreuungsangebots der Antragstellerin gegenüber anderen Betreuungsformen liege ein Verstoß gegen Artikel 3 Abs. 1 GG.
Die angegriffene Regelung hätte nicht als Allgemeinverfügung ergehen dürfen, sondern in Form einer Rechtsverordnung.
Das Verbot des Regelbetriebs von gebäudebezogenen Kindertagesstätten sei von der Eingriffsgrundlage des § 28 Abs. 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes nicht gedeckt, da ein pauschales Verbot als Schutzmaßnahme aktuell weder geeignet noch erforderlich sei. Gemäß der Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene unter Beteiligung anderer Fachgesellschaften vom 18. Mai 2020 spielten Kinder nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen keine herausragende Rolle in der Ausbreitungsdynamik des Coronavirus. Mit dieser fachwissenschaftlichen Einschätzung setze sich die Begründung der Allgemeinverfügung im Rahmen der Ermessenserwägungen nicht auseinander.
Im Rahmen der Notbetreuung dürfe die Antragstellerin aktuell nur sieben von 20 Kindern betreuen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er trägt vor, die angegriffene Maßnahme sei von § 28 Abs. 1 S.1 IfSG gedeckt und habe in Form der Allgemeinverfügung ergehen dürfen. Es sei nach wie vor ungeklärt, inwieweit das Coronavirus von Kindern übertragen werden könne. Die zeitlich begrenzte Einstellung des Regelbetriebs von Kindertageseinrichtungen bei zulässiger Notbetreuung sei ein in Abwägung mit dem verfolgten Ziel der Eindämmung des Ansteckungsgeschehens und der Entlastung des Gesundheitssystems verhältnismäßiger Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der Antragstellerin. Art. 3 Abs. 1 GG sei nicht verletzt. Der Betrieb der Antragstellerin unterscheide sich nach Gruppengrößen und Betreuungsschlüssel nicht wesentlich von regulären bayerischen Kinderkrippen. Die Anzahl der Kindergruppen spiele infektionsschutzrechtlich keine wesentliche Rolle, so dass auch insofern eine Privilegierung der Antragstellerin nicht geboten sei. Der Antragstellerin sei unbenommen, eine Notbetreuung in ihrem Betrieb anzubieten.
Die Großtagespflege sei nicht mit den Kindertagesstätten vergleichbar, sondern mit privat organisierten Betreuungsgruppen in einer familiären oder nachbarschaftlichen Organisation nach § 3 Satz 2 BayIfSMV. Auch nicht gebäudebezogene Kindertageseinrichtungen seien mit gebäudebezogenen Einrichtungen infektionsschutzrechtlich nicht vergleichbar, da der hierfür typische Aufenthalt im Freien infektionsschutzrechtlich wesentlich unproblematischer sei als der in geschlossenen Räumen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vortrags der Beteiligten wird Bezug genommen auf die Gerichtsakten im vorliegenden Verfahren sowie im Verfahren M 26 K 20.2252.
II.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO hat Erfolg; er ist zulässig und begründet.
1. Der Antrag ist zulässig. Die dem Antrag zugrundeliegende Klage vom 25. Mai 2020, die sich noch gegen die Vorgängerregelung in der Allgemeinverfügung vom 19. Mai 2020 richtete, richtet sich nunmehr bei sachgerechter Auslegung anhand des Klagebegehrens (§ 88 VwGO) gegen das in der Allgemeinverfügung vom 29. Mai 2020 aus der Vorgängerregelung übernommene und aktuell weiter geltende Verbot der Regelbetreuung in gebäudebezogenen Kindertageseinrichtungen nach Nr. 1.1. der Allgemeinverfügung. Nicht von der Klage erfasst ist bei sachgerechter Auslegung das an die Kinder gerichtete entsprechende Betretungsverbot hinsichtlich Kindertageseinrichtungen in Nr. 1.2 der Allgemeinverfügung, weil sich dieses Verbot nicht an die Antragstellerin richtet und sie diesbezüglich nicht klagebefugt ist.
Ein Rechtsschutzbedürfnis für den Antrag ist jedenfalls bei Zugrundelegung der Information der Antragstellerin, dass unter der aktuell geltenden Rechtslage lediglich sieben der 20 von ihr betreuten Kindern von den Regelungen der Notbetreuung erfasst sind, gegeben. Durch die Aufhebung des Verbots der Regelbetreuung kann die Antragstellerin ihre Rechtsstellung nicht nur formal, sondern auch tatsächlich verbessern.
2. Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Falle des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene, originäre Ermessensentscheidung. Es hat zwischen dem in der gesetzlichen Regelung zum Ausdruck kommenden Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes und dem Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung ihres Rechtsbehelfs abzuwägen. Im Rahmen dieser Abwägung sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Eilverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben wird, tritt das Interesse der Antragstellerin regelmäßig zurück. Erweist sich der zugrundeliegende Verwaltungsakt bei dieser Prüfung hingegen als rechtswidrig und das Hauptsacheverfahren damit voraussichtlich als erfolgreich, ist das Interesse an der sofortigen Vollziehung regelmäßig zu verneinen. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens hingegen offen, kommt es zu einer allgemeinen Abwägung der widerstreitenden Interessen.
Bei summarischer Prüfung spricht viel dafür, dass die Klage der Antragstellerin gegen Nr. 1.1 der streitgegenständlichen Allgemeinverfügung des Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 29. Mai 2020 erfolgreich sein wird, weil sich die dort getroffene Regelung nach der im Eilverfahren allein möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung als rechtwidrig erweist und die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Im Rahmen des Eilverfahrens geht das Gericht davon aus, dass sich das in Nummer 1.1 der streitgegenständlichen Allgemeinverfügung angeordnete Verbot des Regelbetriebs von gebäudebezogenen Kindertageseinrichtung zwar auf § 28 Abs. 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes, das zuletzt durch Art. 1 des Gesetzes vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 587) geändert worden ist (IfSG), als Rechtsgrundlage stützen kann (2.1) und als Allgemeinverfügung ergehen konnte (2.2.1). Das Verbot steht aber mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht in Einklang (2.2.2).
2.1. Die angegriffene Verfügung findet in § 28 Abs. 1 IfSG eine hinreichende gesetzliche Grundlage.
Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG trifft die zuständige Behörde, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden, die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten.
Bei § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG handelt es sich um eine Generalklausel, die die zuständigen Behörden zum Handeln verpflichtet (gebundene Entscheidung). Hinsichtlich Art und Umfang der Bekämpfungsmaßnahmen – „wie“ des Eingreifens – ist der Behörde jedoch ein Ermessen eingeräumt. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass sich die Bandbreite der Schutzmaßnahmen, die bei Auftreten einer übertragbaren Krankheit in Frage kommen können, nicht im Vorfeld bestimmen lässt. Das behördliche Ermessen wird dadurch beschränkt, dass es sich um „notwendige Schutzmaßnahmen“ handeln muss, nämlich Maßnahmen, die zur Verhinderung der (Weiter-) Verbreitung der Krankheit geboten sind. Darüber hinaus sind dem Ermessen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt.
Die Tatbestandsvoraussetzung des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG – d.h. die Feststellung von Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheiden – ist derzeit nach der aktuellen Einschätzung des vom Gesetzgeber durch § 4 Absatz 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 IfSG hierzu vorrangig berufenen Robert-Koch-Instituts (RKI) (vgl. https://…
bewertung.html) unverändert im ganzen Bundesgebiet und damit auch im Freistaat Bayern erfüllt.
Der Begriff der „Schutzmaßnahmen“ ist umfassend und eröffnet der Infektionsschutzbehörde ein möglichst breites Spektrum an geeigneten Schutzmaßnahmen, welches durch die Notwendigkeit der Maßnahme im Einzelfall begrenzt wird (BayVGH, B.v. 30.3.2020, 20 CS 20.611). Das Verbot des Regelbetriebs von gebäudebezogenen Kindertagesstätten ist demnach grundsätzlich vom Tatbestandsmerkmal „Schutzmaßnahmen“ gedeckt.
Im Rahmen der bisherigen Eilentscheidungen sind sowohl das erkennende Gericht als auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof vorläufig davon ausgegangen, dass die bislang auf § 28 Abs. 1 IfSG gestützten Maßnahmen mit dem Vorbehalt des Gesetzes vereinbar sind, weil Generalklauseln als Auffangnormen typischerweise auch dazu dienen, auf vom Gesetzgeber nicht vorhersehbare Situationen reagieren zu können und eine Rechtsgrundlage für erforderliche Maßnahmen zu schaffen. Sollte sich aufgrund der Fortentwicklung der Pandemielage jedoch zeigen, dass die grundrechtsbeeinträchtigenden Maßnahmen nicht mehr nur kurzfristiger Natur sind, sondern längere Zeit fortdauern, erscheint allerdings zweifelhaft, ob der Vorbehalt des Gesetzes als wesentlicher Grundsatz einer parlamentarischen Staatsform ohne den Erlass eines Maßnahmegesetzes durch den parlamentarischen Bundesgesetzgeber als Rechtsgrundlage für mittelfristig und langfristig wirkende Maßnahmen, die intensiv in Grundrechte eingreifen, gewahrt werden kann (BayVGH, B.v. 27.4.2020 – 20 NE 20.793).
2.2. Das Verbot des Regelbetriebs von gebäudebezogenen Kindertagesstätten in Nr. 1.1 der streitgegenständlichen Allgemeinverfügung ist bei summarischer Prüfung rechtswidrig.
2.2.1 Die Allgemeinverfügung begegnet zwar in formeller Hinsicht keinen Bedenken. Insbesondere ist die Wahl des Instruments der Allgemeinverfügung für die vorliegend getroffene Maßnahme nicht zu beanstanden.
Die getroffene Regelung stützt sich auf § 28 Abs. 1 IfSG. Für hierauf gestützte Maßnahmen ist die Form einer Rechtsverordnung nicht zwingend vorgeschrieben (allerdings nach § 32 IfSG möglich), so dass Maßnahmen als Verwaltungsakt erlassen werden können. Hieraus folgt, dass dem zuständigen Ministerium auch die Handlungsform der Allgemeinverfügung zu Gebote steht, wenn sich die zu treffende Maßnahme an eine Vielzahl von Personen richtet. Wenngleich die Schließung von Kindertagesstätten alle Träger derselben sowie mittelbar auch alle in Kindertagesstätten angemeldete Kinder in Bayern und damit eine Vielzahl von Personen betrifft, handelt es sich um die Regelung eines Einzelfalls im Sinne von Art. 35 Satz 1 und 2 BayVwVfG, da die Zahl der von der Regelung umfassten Fälle und der Adressatenkreis nach allgemeinen Merkmalen bestimmt bzw. bestimmbar sind und sich die Regelung auf einen konkreten Sachverhalt bezieht, indem sie anlassbezogen ergangen und zeitlich befristet ist sowie konkret bestimmte Fallkonstellationen erfasst. Es liegt mithin eine konkret-generelle Regelung vor, die mit der Handlungsform der Allgemeinverfügung getroffen werden kann (vgl. VG München, B.v. 20.3.2020 – M 26 S 20.1222; B.v. 28.4.2020 – M 26 S 20.1657; BayVGH, B.v. 18.5.2020 – 20 CS 20.1056 – juris Rn. 6).
2.2.2. Bei Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG sind die notwendigen Schutzmaßnahmen zu treffen, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Die Befugnis steht damit sowohl inhaltlich als auch zeitlich unter einem strengen Verhältnismäßigkeitsvorbehalt (BayVGH, B.v. 30.3.2020 – 20 NE 20.632). Die einschlägigen betroffenen Grundrechte sowie der Gleichheitsgrundsatz sind beachten.
Das Gericht geht im Ausgangspunkt nach den verfügbaren wissenschaftlichen Informationen weiterhin (vgl. bereits VG München, B.v. 28.4.2020, M 26 S 20.1657) davon aus, dass Kinder bei der Ausbreitung des Coronavirus nicht nur eine zu vernachlässigende Rolle spielen.
Das RKI führt dazu aus, dass in der Mehrzahl der vorliegenden Studien Kinder zwar seltener von einer Infektion mit SARS-CoV-2 betroffen sind als Erwachsene. Ob Kinder genauso empfänglich für eine Infektion sind wie Erwachsene, sei nicht endgültig geklärt. Die Symptomatik der Erkrankung sei bei Kindern häufig geringer ausgeprägt als bei Erwachsenen, auch asymptomatische Verläufe kämen häufiger als bei Erwachsenen vor.
Zur Frage, inwiefern Kinder und Jugendliche zur Verbreitung von SARS-CoV-2 in der Bevölkerung beitragen, lägen bislang nur wenige Daten vor. In den meisten Studien habe sich sich, dass Kinder durch Erwachsene infiziert wurden. Da die Betreuungs- und Bildungseinrichtungen während der meisten Untersuchungen geschlossen bzw. nur eingeschränkt geöffnet waren, seien die Ergebnisse aber nicht auf die Alltagssituation übertragbar. Aufgrund der hohen Kontagiosität des Virus, dem engen Kontakt zwischen Kindern und Jugendlichen untereinander und dem häufigeren symptomlosen bzw. milden Verlauf erscheine es plausibel, dass Übertragungen stattfinden (vgl. RKI, https://…
Die Schließung von allen gebäudebezogenen Kindertageseinrichtungen im Regelbetrieb und damit auch der streitgegenständlichen Kinderkrippe ist aber materiell rechtswidrig; sie steht mit dem Grundrecht der Antragstellerin auf Gleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG nicht im Einklang.
Die angefochtene Regelung verstößt aller Voraussicht nach gegen den Gleichheitsgrundsatz, weil sie insbesondere im Wesentlichen gleiche Sachverhalte ungleichbehandelt, obwohl nach dem bisherigen Stand des Verfahrens hierfür keine sachliche Rechtfertigung besteht.
Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Das hieraus folgende Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln, gilt für ungleiche Belastungen und ungleiche Begünstigungen. Art. 3 Abs. 1 GG verwehrt dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung. Differenzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Dabei gilt ein stufenloser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen. Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Anforderungen an den die Ungleichbehandlung tragenden Sachgrund ergeben sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die von gelockerten, auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen können. Eine strengere Bindung des Gesetzgebers kann sich aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben. (BVerfG, B.v. 18.7.2019 – 1 BvL 1/18, 1 BvL 4/18, 1 BvR 1595/18- NJW 2019, 3054; BayVGH, B.v. 27.4.2020 – 20 NE 20.793 -, juris Rn. 35).
Die angefochtene Regelung stellt die Kindertageseinrichtung der Antragstellerin im Vergleich zu Einrichtungen der Großtagespflege schlechter, obwohl hierfür kein aus infektionsschutzrechtlicher Sicht tragfähiges Differenzierungskriterium besteht.
Großtagespflege liegt nach der gesetzlichen Definition vor, wenn sich mehrere Tagespflegepersonen zusammenschließen und diese mehr als acht gleichzeitig anwesende Kinder betreuen (vgl. Art. 9 Abs. 2 Satz 2 Bayerisches Kinderbildungs- und -betreuungsgesetz – BayKiBiG). Der Antragsgegner geht in seiner Begründung der Vorgängerregelung vom 19. Mai 2020 davon aus, dass in Großtagespflegestellen in der Regel zwei feste Tagespflegepersonen insgesamt 8 bis maximal 10 Kinder zeitgleich in angemieteten Räumlichkeiten betreuen. Kennzeichnend für die Großtagespflege ist die Zuordnung der Kinder zu einer bestimmten Tagespflegeperson (vgl. OVG NRW, B.v. 29.1.2020 – 12 B 655/19 -, juris).
Großtagespflegestellen als „gebäudebezogenen“ Einrichtungen der Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern ist seit dem 25. Mai 2020 der Regelbetrieb wieder erlaubt, während die Kinderkrippe der Antragstellerin als gebäudebezogene Kindertageseinrichtung weiterhin nur eine Notbetreuung anbieten darf.
Ein tragfähiger infektionsschutzrechtlicher Grund für eine Ungleichbehandlung der Großtagespflege und der konkreten Kinderkrippe der Antragstellerin ist nicht erkennbar. Der Antragsgegner sieht den Unterschied der Betreuungsform der Großtagespflege zur Betreuung in einer Kindertageseinrichtung darin, dass dort gruppenübergreifende Angebote, gemeinsame Nutzung von Räumen mit anderen Gruppen und ein Wechsel der Betreuungspersonen „nicht üblich“ sei. Es handle sich um familienähnlich geführte Betreuung mit hoher Bindungsqualität und einer festen und überschaubaren Kinderzahl. Infektionswege und Kontaktpersonen könnten in dieser Betreuungsform problemlos nachvollzogen werden.
Diese Erwägungen begegnen insoweit keinen Bedenken, als sie an die typischerweise unterschiedliche Infektionsschutzrechtliche Gefährdungslage in Einrichtungen der Großtagespflege und in Kindertageseinrichtungen, soweit sie eine gewisse Größe aufweisen, anknüpfen. Es ist nachvollziehbar und nicht zu beanstanden, dass der Antragsgegner Kinderbetreuung in überschaubaren und festen Gruppen mit fest zugeordneten Betreuungspersonen unter infektionsschutzrechtliche Gesichtspunkten positiver beurteilt und sie generell gegenüber Kinderbetreuungsformen, bei denen dies nicht der Fall ist, privilegiert.
Die Antragstellerin hat aber überzeugend dargelegt, dass die konkret von ihr betriebene Kinderkrippe sich so weit von den Verhältnissen einer typischen Kindertageseinrichtung entfernt und denen in einer Großtagespflegestelle angenähert ist, dass es aus infektionsschutzrechtlicher Sicht geboten ist, sie den Großtagespflegestellen gleichzustellen.
Nach ihren Angaben, die sie eidesstattlich versichert hat, bietet sie Kinderbetreuung in festen Gruppen von maximal 10 anwesenden Kindern mit festem pädagogischen Fachpersonal ohne Rotation der Kinder oder des Personals in getrennten Räumlichkeiten an. Damit besteht auch in ihrer Einrichtung eine Betreuung mit „hoher Bindungsqualität“ und einer festen und überschaubaren Kinderzahl. Gruppenübergreifende Angebote und gemeinsame Nutzung von Räumen mit anderen Gruppen sowie Wechsel der Betreuungspersonen sind bei ihr ebenfalls nicht vorgesehen. Damit können auch in ihrer Einrichtung Infektionswege und Kontaktpersonen problemlos nachvollzogen werden. Ein Grund für die Schlechterstellung der Einrichtung der Antragstellerin gegenüber Großtagespflege ist damit nicht ersichtlich. Ob die Großtagespflege wiederum mit privat organisierten Betreuungsgruppen in einer familiären oder nachbarschaftlichen Organisation nach § 3 Satz 2 BayIfSMV vergleichbar ist, ist nicht entscheidungserheblich.
Gerade wenn das Kriterium der Gruppengröße ein infektionsschutzrechtlich entscheidendes Kriterium ist, wovon sowohl die mehr Begründung der angegriffenen Allgemeinverfügung als auch die Antragserwiderung (S. 7 und 8) ausgehen, liegt ein tragfähiger Grund für ein Verbot des Regelbetriebs der Einrichtung der Antragstellerin nicht vor. Dann wäre es aus Sicht des Gerichts eher sachgerecht, insgesamt ein Regelungsmodell zu wählen, welches die Gruppengröße bzw. die verfügbare Fläche für die Gruppe als Anknüpfungspunkt für die Zulassungen von Betreuungsformen erfasst, wie es die Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmeverordnungen für ihre jeweiligen Regelungsbereiche seit jeher vorsehen.
Die Tatsache, dass der gleichheitswidrige Rechtszustand nach Ankündigung des Antragsgegners nur noch bis 1. Juli 2020 besteht, vermag die Bedenken an der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Ungleichbehandlung nicht zu entkräften.
Ob daneben auch eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung im Vergleich mit nicht gebäudebezogenen Kindertageseinrichtungen wie Waldkindergärten besteht, bedarf keiner Entscheidung.
Nach alledem erweist sich Nr.1.1 der angefochtenen Allgemeinverfügung nach summarischer Prüfung als rechtswidrig und das Hauptsacheverfahren damit voraussichtlich als erfolgreich. Damit war die aufschiebende Wirkung der Klage vom 25. Mai 2020 anzuordnen.
Dem Antrag war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG in Verbindung mit Nummer 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.


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