Verwaltungsrecht

Verfolgung durch Taliban und staatliche Behörden in Pakistan

Aktenzeichen  M 19 K 17.32220

Datum:
4.8.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 159563
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 3e
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

Aus dem Umstand, dass es wegen des Asylsuchenden unter Beteiligung eines seiner Familienmitglieder zu einer bewaffneten Auseinandersetzung mit dem Militär gekommen ist, bei der auch Taliban-Kämpfer ums Leben gekommen sind, ergibt sich das besondere Verfolgungsinteresse. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 27. Januar 2017 wird in Nrn. 1 und 3 bis 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten über die Sache verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Der Klageantrag ist dahin auszulegen (§ 88 VwGO), dass die Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. Januar 2017 nur in Nr. 1 und 2 bis 6 begehrt wird. Die so ausgelegte Klage hat Erfolg. Der streitgegenständliche Bescheid ist in Nr. 1 sowie 3 bis 6 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 und Abs. 1 VwGO). Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.
Das Gericht geht dabei davon aus, dass der Kläger die pakistanische Staatsangehörigkeit besitzt. Nach Section 4 des Pakistani Nationality Act ist er als in Pakistan geborene Person pakistanischer Staatsangehöriger. Eine doppelte (pakistanische und afghanische) Staatsangehörigkeit des Klägers liegt nicht vor. Zwar sollen nach Art. 2 des Citizenship Law of Afghanistan alle Abkömmlinge von afghanischen Müttern und Vätern, egal, ob im In- oder Ausland geboren, als Afghanen angesehen werden und die afghanische Staatsangehörigkeit erhalten. Die hierfür erforderliche Erklärung nach Art. 14 des Citizenship Law of Afghanistan hat der Kläger jedoch nie abgegeben (Quelle: Wikipedia – Nationality Law Pakistan und Afghanistan).
Nach § 3 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich
1. aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2. außerhalb des Landes befindet
a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder
b) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Weitere Einzelheiten zum Begriff der Verfolgung, den maßgeblichen Verfolgungsgründen sowie zu den in Betracht kommenden Verfolgungs- und Schutzakteuren regeln die §§ 3a bis d AsylG.
Wie auch das Bundesamt hat das Gericht keine Zweifel hinsichtlich der Glaubwürdigkeit des vom Kläger vorgetragenen Sachverhalts. Die Sachverhaltsschilderung stimmt mit den vorliegenden Erkenntnismittel überein. Zudem hat der Kläger den Sachverhalt beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung jeweils übereinstimmend, detailreich und frei von Widersprüchen vorgetragen. Nachfragen des Gerichts konnte er stets plausibel und detailliert beantworten. Der Sachvortrag wird zudem bestätigt durch die vorgelegte Bescheinigung des AHQ Hospitals G… vom Juni 2014 und den Bericht des Office Of The Political Agent vom 20. Juni 2014.
Aufgrund des vorgetragenen Sachverhalts geht das Gericht davon aus, dass der Kläger in Pakistan sowohl von den Angehörigen der Taliban als auch von den staatlichen pakistanischen Behörden verfolgt wird. Die Angehörigen der Taliban haben Anlass, die Flucht aus der Taliban Schule als Abwendung von der Organisation und damit als gruppierungsfeindliche politische Haltung zu werten. Die staatlichen pakistanischen Behörden haben ihrerseits Anlass zu der Annahme, der Kläger stehe den Taliban nahe oder sei gar deren Mitglied. Dieser Verdacht kann sich ergeben aufgrund der von Schusswaffengebrauch begleiteten Auseinandersetzung zwischen Taliban und Militär vor dem Haus des Klägers, bei der sein Bruder ums Leben gekommen ist. Die staatlichen pakistanischen Behörden konnten aufgrund der vorgefundenen Situation nicht zweifelsfrei erkennen, dass der Kläger sich gerade von den Taliban abgewandt hatte.
Der Kläger kann auch nicht auf interne Schutzmöglichkeiten in anderen Landesteilen Pakistans verwiesen werden. Das Gericht teilt insoweit nicht die Auffassung des Bundesamts. Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nach § 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat. Nach der aktuellen Erkenntnislage (Auswärtiges Amt, Lagebericht, a.a.O., S. 21) können potentiell Verfolgte in den Großstädten Rawalpindi, Lahore, Peshawar oder Multan zwar aufgrund der dortigen Anonymität sicherer als auf dem Land leben. In einem flächen- und bevölkerungsmäßig großen Land wie Pakistan (Fläche 880.254 qkm, ca. 200 Millionen Einwohner) ohne funktionierendes Meldewesen ist es auch grundsätzlich möglich, bei Aufenthaltnahme in einer der größeren Städte dauerhaft der Aufmerksamkeit der lokalen Behörden oder eines Verfolgers zu entgehen (Auswärtiges Amt, Stellungnahme an VG Leipzig v. 15.1.2014). Im vorliegenden Fall ist es dem Kläger jedoch nicht möglich, sich in einer dieser Großstätte niederzulassen und dort unterzutauchen. Das Gericht geht davon aus, dass er sich hierdurch zum einen nicht den Nachforschungen der Taliban entziehen kann und zum anderen nicht i.S.v. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Das Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD) zitiert mit Stellungnahme vom 5. Februar 2015 Informationen, nach denen es zwar nicht die Strategie der Taliban sei, einzelne Personen durch das Land zu verfolgen. Allerdings müsse dies in jedem Fall einzeln geprüft werden. Laut Bericht eines Vertrauensanwaltes könne eine Person, die von einem Konfliktherd mit Taliban fliehe, relativ sicher in einer pakistanischen Stadt in den Provinzen Sindh oder Punjab leben. Eine low-profile Person, die zum Beispiel nach Karachi flüchte, werde dort von den Taliban nicht aufgespürt werden, da es für die Taliban keine Priorität habe, low-profile Personen zu suchen. Die nach diesem Erkenntnismittel vorzunehmende Einzelfallprüfung ergibt im vorliegenden Fall, dass die Taliban hier jedoch ein besonderes Verfolgungsinteresse im Hinblick auf den Kläger haben. Dieses resultiert zwar nicht aus seiner Flucht aus der Taliban Schule, da diese lediglich als low-profile-Handlung einzustufen ist. Das besondere Verfolgungsinteresse der Taliban ergibt sich jedoch aus dem Umstand, dass es wegen des Klägers und unter Beteiligung seines Bruders zu einer bewaffneten Auseinandersetzung mit dem Militär gekommen ist, bei der auch Taliban-Kämpfer ums Leben gekommen sind. Aufgrund dieses Vorfalls ist eine low-profile-Einstufung des Klägers nicht mehr möglich. Ihm ist weiter eine Wohnsitznahme in einer pakistanischen Großstadt ohne Rückgriffsmöglichkeit auf familiäre Bindungen nicht zuzumuten. Er hat nie in einer solchen Großstadt gelebt, sondern in der ländlichen FATA-Region. Zudem verfügt er nicht über eine abgeschlossene Berufsausbildung. Weiter ist er weder der Sprachen Urdu und Punjabi noch des Arabischen ausreichend mächtig. Ferner hat er – wie der Eindruck in der mündlichen Verhandlung ergeben hat – psychische Probleme, die seine volle Leistungsbereitschaft beeinträchtigen.
Vor dem Hintergrund, dass dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, kommt es auf die weiteren Fragen, ob die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes und der Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen, nicht mehr an. Die auf § 34 Abs. 1, § 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG gestützte Abschiebungsandrohung war aufzuheben, ebenso das auf der Abschiebung beruhende Einreise- und Aufenthaltsverbot.
Der Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordung (ZPO).


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