Verwaltungsrecht

Verhältnismäßigkeit einer Ausweisungsverfügung gegenüber einem Straftäter

Aktenzeichen  10 ZB 21.84

Datum:
22.1.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 1652
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2, Nr. 3, Nr. 4, § 124a Abs. 4 S. 4
GG Art. 6 Abs. 1
EMRK Art. 8 Abs. 1

 

Leitsatz

Für faktische Inländer besteht kein generelles Ausweisungsverbot; allerdings ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen (Rn. 4). (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 1 K 20.769 2020-12-11 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 21. April 2020 weiter, mit dem er unter Anordnung des Sofortvollzugs aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen und ein zuletzt auf die Dauer von sieben Jahren befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet worden ist.
Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Die weiter geltend gemachten Zulassungsgründe der besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten (124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) sind schon nicht hinreichend dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO).
Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen. Solche Zweifel bestünden nur dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Soweit sich der Kläger zur Begründung der Unverhältnismäßigkeit der Ausweisungsverfügung auf eine Verletzung von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK beruft, weil er faktischer Inländer sei und keine tragfähigen Bindungen mehr zum Herkunftsland seiner Eltern (Türkei), jedoch starke Bindungen in Deutschland habe und deshalb nicht anders behandelt werden dürfe als junge Straffällige mit deutscher Staatsangehörigkeit, greift dieser Einwand nicht durch. Denn für faktische Inländer besteht kein generelles Ausweisungsverbot; allerdings ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen. Erforderlich ist daher eine auf den konkreten Einzelfall bezogene individuelle Gefahrenprognose unter Berücksichtigung aktueller Tatsachen, die die Gefahr entfallen lassen oder nicht unerheblich vermindern können (vgl. BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 19; B.v. 25.8.2020 – 2 BvR 640/20 – juris Rn. 24 jew. m.w.N.). Diesen Maßstäben wird die angefochtene Entscheidung des Verwaltungsgerichts gerecht. Denn das Verwaltungsgericht hat zu Recht festgestellt, dass beim Kläger infolge der auch aktuell bestehenden hohen Wiederholungsgefahr schwerer Straftaten (insbesondere Gewalt- und Betäubungsmittelstraftaten), seiner bisher nicht erfolgreich therapierten Suchtmittelabhängigkeit und Persönlichkeitsstörung sowie seiner gravierenden Straffälligkeit selbst während des Strafvollzugs eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung bestehe, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich mache. Dabei hat es in rechtlich nicht zu beanstandender Weise in die Abwägung eingestellt, dass sich der Kläger weder wirtschaftlich noch sozial nachhaltig im Bundesgebiet integriert und vielfach Straftaten im Bereich der Betäubungsmittel- und Gewaltkriminalität begangen habe, aufgrund seines Elternhauses und seiner Urlaubsaufenthalte mit der türkischen Kultur und Tradition vertraut sei, zumindest ausbaufähige türkische Sprachkenntnisse besitze und über zwei in der Türkei lebende Geschwister verfüge, die ihn bei seiner Reintegration gegebenenfalls unterstützen könnten. Die Einschätzung des Erstgerichts, der Kläger könne nach möglichen Anfangsschwierigkeiten dort Fuß fassen, ist entgegen dem Zulassungsvorbringen nach alledem keine bloße Spekulation, vielmehr hat das Verwaltungsgericht nachvollziehbar und schlüssig ausgeführt, mangels wirtschaftlicher und sozialer Integration im Bundesgebiet stünde er dort letztlich vor den gleichen Herausforderungen und Schwierigkeiten.
Auch mit dem Vorbringen, er beabsichtige, seine Verlobte, eine türkische Staatsangehörige, die im Besitz einer Niederlassungserlaubnis sei und kurz vor der Einbürgerung stehe, sobald wie möglich zu heiraten, sodass ihm der Vorwirkungsschutz nach Art. 6 GG zugutekomme, kann der Kläger die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung nicht durchgreifend in Zweifel ziehen. Unabhängig davon, dass eine bevorstehende Eheschließung vom Kläger lediglich behauptet und deshalb der besondere (Vorwirkungs-)Schutz nach Art. 6 Abs. 1 GG nicht schlüssig dargelegt worden ist, wäre das Gewicht dieser Ehe nach der ständigen Rechtsprechung des Senats relativiert, weil die Ehe erst im Wissen um die Straftaten und die bereits erfolgte Ausweisung, somit im Wissen um eine unsichere Aufenthaltsperspektive, geschlossen würde (BayVGH, B.v. 5.11.2018 – 10 ZB 18.1710 – juris Rn. 18; B.v. 9.5.2019 – 10 ZB 19.317 – juris Rn. 7 jew. m.w.N.). Demgemäß ist die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Aufenthaltsbeendigung sei nicht unzumutbar, weil die in Deutschland lebende Familie des Klägers sowie seine Verlobte ihn in der Türkei besuchen und mittels Telefon und Internet den Kontakt aufrechterhalten könnten, nicht ernstlich erschüttert.
Ausführungen zu den weiter ausdrücklich benannten Zulassungsgründen gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 VwGO fehlen ebenso wie zu dem behaupteten Verstoß gegen obergerichtliche Rechtsprechung (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO). Auch auf die vom Verwaltungsgericht für rechtmäßig erachtete Befristungsentscheidung geht das Zulassungsvorbringen nicht ein.
Die Kostenentscheidung folgt jeweils aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung für die Zulassungsverfahren beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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