Verwaltungsrecht

Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis bei Wegfall des humanitären Grundes (Tod der aufenthaltsberechtigten Mutter eines mittlerweile Volljährigen)

Aktenzeichen  AN 5 S 21.01358

Datum:
7.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 40070
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 17
AufenthG § 25a
AufenthG § 25 Abs. 5
AufenthG § 5

 

Leitsatz

Tenor

1. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Klage- und Antragsverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt …, …, wird abgelehnt.
2. Der Antrag im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
3. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens im einstweiligen Rechtsschutz.
4. Der Streitwert im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Kläger und Antragsteller (im Folgenden: Kläger) wendet sich gegen einen Bescheid der Beklagten und Antragsgegnerin (im Folgenden: Beklagte), mit dem sein Antrag auf Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt wurde. Gegenständlich begehrt er die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage sowie die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Klage- und Antragsverfahren.
Der 2001 im heutigen … (damals As.; K.) geborene Kläger ist wohl aserbaidschanischer und kasachischer Staatsangehöriger. Er reiste nach den Angaben im Asylverfahren mit seinen Eltern und seiner Schwester am 20. Juli 2012 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Asylanträge der Familie – die maßgeblich mit einer schweren Krebserkrankung der Mutter des Klägers begründet waren – wurden mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 8. April 2014 abgelehnt. Während des laufenden Gerichtsverfahrens änderte das Bundesamt hinsichtlich der Mutter des Klägers mit Bescheid vom 14. Juli 2014 den Ausgangsbescheid ab und stellte bezüglich dieser ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG betreffend Aserbaidschan fest. Da daraufhin im Übrigen die Asylklagen – darunter auch die Klage des Klägers – zurückgenommen worden waren, erlangte der ablehnende Bundesamtsbescheid gegenüber dem Kläger Bestandskraft.
Im Nachgang zur Entscheidung des Bundesamtes erhielt die Mutter des Klägers erstmals am 1. August 2014 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG und der Kläger und die restlichen Familienangehörigen zur Wahrung der Familieneinheit Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Die Aufenthaltserlaubnis des Klägers wurde letztmalig am 20. März 2017 bis zum 31. Dezember 2017 verlängert. Die Mutter des Klägers verstarb am 19. Mai 2017. Am 29. Dezember 2017 beantragte der Kläger zuletzt die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis.
In der Bundesrepublik besuchte der Kläger zunächst bis zum Schuljahr 2015/2016 drei verschiedene Mittelschulen. Er erlangte nach eigenen Angaben – aus den Akten ist dies nicht ersichtlich – einen Mittelschulabschluss. Am 24. August 2015 erging gegenüber dem Kläger ein Bußgeldbescheid der Beklagten, da er zwischen 27. Februar 2015 und 20. Mai 2015 an 27 Tagen unentschuldigt dem Unterricht ferngeblieben war. Im Schuljahr 2016/2017 besuchte der Kläger die Berufsschule zur sonderpädagogischen Förderung, um dort ein Arbeitsqualifizierungsjahr zu absolvieren. Ab 21. September 2017 nahm der Kläger an einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme teil (BvB Reha), die er zum 28. Februar 2018 beendete. Eine im September 2018 begonnene Berufsausbildung zum Koch brach der Kläger am 25. März 2019 nach eigenen Angaben aus gesundheitlichen Gründen ab. Der Kläger gab an, auf Grund des Todes seiner Mutter unter psychischen Beeinträchtigungen zu leiden. Aktuell geht der Kläger keiner Beschäftigung nach und bezieht Leistungen nach dem SGB II. Ebenso ist er – trotz wiederholter Anforderungen der Beklagten und ausführlicher Korrespondenz – derzeit nicht im Besitz eines Ausweisdokuments seines Heimatlandes.
Mit Urteil des Amtsgerichts … vom 15. März 2021 wurde der Kläger wegen Diebstahls (der Kläger hatte diverse Gegenstände im Gesamtwert von ca. 600 EUR aus einem Keller entwendet und weiterverkauft) zu einer Woche Dauerarrest verurteilt. Dem Urteil lässt sich unter anderem entnehmen, dass der Kläger seit dem Tod seiner Mutter viel Alkohol und zeitweise auch Marihuana konsumiert. Bereits am 12. Juni 2020 sei er durch unerlaubten Besitz von Betäubungsmitteln aufgefallen.
Mit Schreiben der Beklagten vom 3. Mai 2021 wurde der Kläger zu der beabsichtigten Ablehnung der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis angehört. Am 31. Mai 2021 äußerte sich der Kläger dahingehend, dass er seit neun Jahren in Deutschland lebe und wichtige Entwicklungsschritte hier erlebt habe. Er sehe sich als Deutschen. Zudem beabsichtige er im Sommer seine Ausbildung als Koch weiterzuführen; er warte hier noch auf Rückmeldungen potentieller Arbeitgeber. Eine Abschiebung würde ihn vor sprachliche sowie kulturelle Herausforderungen stellen. Seine Kernfamilie und seine erweiterte Verwandtschaft lebe in Deutschland.
Mit Bescheid vom 23. Juni 2021 lehnte die Beklagte die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab (Ziffer 1) und forderte den Kläger zur Ausreise aus der Bundesrepublik binnen 30 Tagen auf (Ziffer 2). Die Abschiebung insbesondere nach Aserbaidschan bzw. Kasachstan wurde angedroht (Ziffer 3) und das Einreise- und Aufenthaltsverbot für den Fall der Abschiebung auf drei Jahre befristet (Ziffer 4).
Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus, die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis auf Grundlage von § 25 Abs. 5 AufenthG sei zu versagen, da mit dem Tod der Mutter des Klägers das aus dem Schutzgebot des Art. 6 GG resultierende rechtliche Ausreisehindernis zur Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet entfallen sei. Auch sonstige Ausreisehindernisse stünden der Aufenthaltsbeendigung nicht entgegen. Insbesondere liege kein unzulässiger Eingriff in das Privatleben des Klägers nach Art. 8 EMRK vor. Dieser sei trotz seines langjährigen Aufenthalts nicht derart in die Lebensverhältnisse integriert, dass eine Rückkehr unzumutbar sei. Insbesondere sei es zu keiner durchgreifenden Integration des Klägers gekommen. Dieser habe keinen qualifizierten Schulabschluss und keine Berufsausbildung nachweisen können. Zudem sei der Kläger auch mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. Der Kläger verfüge über Sprachkenntnisse seines Herkunftslandes. Dort habe er mehr als die Hälfte seines Lebens verbracht und einen Teil seiner Schulausbildung absolviert. Eine Rückkehr in die Heimat sei ihm zumutbar. Dies gelte umso mehr, als auch der Vater des Klägers zwischenzeitlich ausreisepflichtig sei.
Die Anwendung des § 25a Abs. 1 AufenthG scheide aus, da der Antragsteller nicht im Besitz einer Duldung sei und auch keine faktischen Duldungsgründe vorlägen. Die derzeitige Passlosigkeit des Klägers begründe kein einen Duldungsanspruch auslösendes Abschiebungshindernis, da Abschiebungen nach Aserbaidschan und Kasachstan auch mit Passersatzpapieren erfolgen könnten.
Weiterhin erfülle der Kläger die Erteilungsvoraussetzung des § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG nicht, da aufgrund der bisherigen Ausbildungs- und Lebensverhältnisse von keiner positiven Integrationsprognose auszugehen sei.
Zudem lägen auch die allgemeinen (Regel-)Erteilungsvoraussetzungen nicht vor: Der Kläger erfülle weder die Passpflicht, noch sei der Lebensunterhalt gesichert. Daneben bestünden auch Ausweisungsinteressen nach § 54 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG und § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG, die der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entgegenstünden (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Eine hilfsweise Ermessensentscheidung nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG falle zu Lasten des Klägers aus, da private Interessen, die die öffentlichen Interessen an der Erfüllung der Regelerteilungsvoraussetzungen überwögen, nicht ersichtlich seien.
Mit Schriftsatz vom 23. Juli 2021 hat der Klägerbevollmächtigte Klage erhoben und beantragt,
den Bescheid vom 23. Juni 2021 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
Zusätzlich wurde beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Versagung des Aufenthaltstitels und die Abschiebungsandrohung anzuordnen und dem Kläger Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt K., N., zu gewähren.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis zu Zwecken der Ausbildung. Aufgrund der erfolgten Integration habe er auch einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG. Die Ausführungen der Beklagten zur mangelnden Integration seien nicht stichhaltig. Zudem habe die Beklagte ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt, da sie die besondere Trauersituation des Klägers nach dem Tod seiner innigsten Bezugsperson verkannt habe. Es liege auch ein Verstoß gegen Art. 6 GG vor, da das familiäre Zusammenleben des Klägers mit seiner Schwester falsch gedeutet werde. Die Wertungen der Beklagten seien zudem nicht mit rechtsstaatlichen Grundsätzen zu vereinbaren, da eine Berücksichtigung des jugendgerichtlichen Urteils eine Missachtung des in § 2 JGG normierten rechtsstaatlichen Grundsatzes des Jugendstrafrechts darstelle. Aufgrund der Unschuldsvermutung müssten nicht abgeurteilte Taten unbeachtet bleiben. Die Beklagte habe dagegen eine Schuldzuweisung ohne rechtsstaatliches Verfahren vorgenommen, was den Bescheid i.S.d. Art. 44 Abs. 1 BayVwVfG in Gänze „infiziere“.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen und den Antrag abzulehnen.
Der Kläger habe weder zum Zeitpunkt der Antragstellung am 29. Dezember 2017 noch zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses die Voraussetzungen des § 17 AufenthG a.F. erfüllt, da er in beiden Zeitpunkten keine betriebliche Ausbildung absolviert habe bzw. absolviere. Eine Aufenthaltserlaubnis zur Suche eines Ausbildungs- und Studienplatzes nach § 17 AufenthG (n.F.) erfordere einen gesicherten Lebensunterhalt. Hinsichtlich des vermeintlichen Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach §§ 25a, 25b AufenthG verweise die Beklagte auf den fehlenden Duldungsstatus des Klägers. Zudem seien auch strafrechtliche Verstöße in einem verwaltungsrechtlichen Verfahren verwertbar, ohne dass es hierfür einer rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilung bedürfe.
Bezüglich der Einzelheiten wird auf die zum Verfahren beigezogenen Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
1. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Klage- und Antragsverfahren war mangels hinreichender Erfolgsaussichten abzulehnen (§ 166 VwGO i.V.m. §§ 114, 121 ZPO).
Gemäß § 166 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i.V.m. § 114 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hinreichende Erfolgsaussicht ist etwa dann gegeben, wenn schwierige Rechtsfragen zu entscheiden sind, die im Hauptsacheverfahren geklärt werden müssen. Auch wenn eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt und keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Mittellosen ausgehen wird, ist vorab Prozesskostenhilfe zu gewähren (vgl. BVerfG, B.v. 14.4.2003 – 1 BvR 1998/02 – NJW 2003, 2976). Insgesamt dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussichten eines gerichtlichen Verfahrens nicht überspannt werden, eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Erfolges genügt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 166 Rn. 26). Die Beiordnung eines Rechtsanwalts ist im Verfahren ohne Vertretungszwang immer geboten, wenn es in einem Rechtsstreit um nicht einfach zu überschauende Tat- und Rechtsfragen geht (vgl. Eyermann, a.a.O. Rn. 38).
a) Bei summarischer Prüfung der derzeitigen Sach- und Rechtslage ist eine hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne des § 114 Satz 1 ZPO zu verneinen. Die Klage ist (jedenfalls) unbegründet. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten ist aller Voraussicht nach nicht rechtswidrig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, da er wohl keinen Anspruch auf Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis hat und auch die von der Beklagten verfügten Annexentscheidungen rechtmäßig sein dürften.
aa) Der Kläger hat nach summarischer Prüfung keinen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis zur (beabsichtigten) Berufsausbildung.
Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 17 AufenthG (n.F.) kommt – sofern deren Erteilung auf Grund des sog. Trennungsprinzips (vgl. hierzu zuletzt BayVGH, B.v. 12.2.2021 – 19 CE 21.6 – juris Rn. 12) vorliegend klägerseits überhaupt noch zulässigerweise in das Verfahren eingeführt werden kann – nicht in Betracht, da der Kläger zum insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung die tatbestandlichen Voraussetzungen nicht erfüllt. Nach § 17 AufenthG (n.F.) kann einem Ausländer zum Zweck der Suche nach einem Ausbildungsplatz zur Durchführung einer qualifizierten Berufsausbildung eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, der Lebensunterhalt gesichert ist, er über einen Abschluss einer deutschen Auslandsschule oder über einen Schulabschluss verfügt, der zum Hochschulzugang im Bundesgebiet oder in dem Staat berechtigt, in dem der Schulabschluss erworben wurde, und er über gute deutsche Sprachkenntnisse verfügt.
Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger nach Aktenlage nicht. Insbesondere ist sein Lebensunterhalt derzeit nicht gesichert. Insoweit normiert § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG eine zwingende Erteilungsvoraussetzung, die diesbezüglich gleichzeitig die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG verdrängt (vgl. Fleuß in BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, Stand: 1.7.2021, § 17 Rn. 7). Im Übrigen erfüllt der Kläger auch nicht die besondere Anforderung des § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG, da er weder über einen Abschluss einer deutschen Auslandsschule noch einen sonstigen Schulabschluss, der zum Hochschulzugang im Bundesgebiet berechtigt, verfügt.
Der Kläger hat auch keinen Anspruch nach § 16a AufenthG, der Nachfolgevorschrift des § 17 AufenthG a.F.: Unabhängig von der Frage der Zulässigkeit des Begehrens übt der Kläger derzeit keine betriebliche Ausbildung aus und er hat auch kein entsprechendes Ausbildungsplatzangebot vorgelegt.
bb) Auch die besonderen Erteilungsvoraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG sind nach summarischer Prüfung nicht (mehr) erfüllt.
Nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Unter „Ausreise“ im Sinne dieser Vorschrift ist sowohl die zwangsweise Abschiebung als auch die freiwillige Ausreise zu verstehen (vgl. BVerwG, U.v. 10.11.2009 – 1 C 19.08 – juris Rn. 12, U.v. 27.6.2006 – 1 C 14.05 – juris Rn. 15 jeweils m.w.N.). Eine freiwillige Ausreise ist im Sinne von § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG aus rechtlichen Gründen unmöglich, wenn ihr rechtliche Hindernisse entgegenstehen, welche die Ausreise ausschließen oder als unzumutbar erscheinen lassen. Derartige Hindernisse können sich sowohl aus inlandsbezogenen Abschiebungsverboten ergeben, zu denen unter anderem auch diejenigen Verbote zählen, die aus Verfassungsrecht (etwa mit Blick auf Art. 6 GG) oder aus Völkervertragsrecht (etwa aus Art. 8 EMRK) in Bezug auf das Inland herzuleiten sind, als auch aus zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten (z.B. nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG; vgl. BVerwG, U.v. 27.6.2006 – 1 C 14.05 – juris Rn. 17). Bei Bestehen solcher Abschiebungsverbote hat nicht nur die zwangsweise Rückführung des betroffenen Ausländers zu unterbleiben, sondern es ist ihm in aller Regel auch eine freiwillige Rückkehr in sein Heimatland aus denselben rechtlichen Gründen nicht zuzumuten und damit unmöglich im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG.
Die Ausreise des Klägers ist vorliegend wohl weder aus familiären Gründen (Art. 6 GG) noch auf Grund einer besonderen Verwurzelung des Klägers in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland (Art. 8 EMRK) dauerhaft unmöglich.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewähren weder Art. 6 GG noch Art. 8 EMRK einen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt im Bundesgebiet. Die in Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Ausländerbehörde bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren, die bestehenden familiären Bindungen des Ausländers zu Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfG, B.v. 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris Rn. 17). Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris Rn. 16). Art. 6 GG entfaltet die Schutzwirkungen dabei nicht schon aufgrund formalrechtlicher familiärer Bindungen; entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern (vgl. BVerfG, B.v. 12.5.1987 – 2 BvR 1226/83 – juris Rn. 87).
Vorliegend bestehen keine derart engen Bindungen des Klägers zum Bundesgebiet, die eine Ausreise nach den o.g. Grundsätzen rechtlich unmöglich machen würden. Eine besondere Verbundenheit des Klägers zu seiner volljährigen Schwester ist nicht erkennbar, zumal der Kläger und seine Schwester auch nicht zusammenleben. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch, dass das Aufenthaltsgesetz einfachgesetzlich im Bereich des Familiennachzugs (§ 27 ff. AufenthG) den Zuzug und damit das Zusammenleben von Geschwistern nicht besonders privilegiert. Im Gegenteil: Ein Nachzug von Geschwistern wäre nur unter den tatbestandlich äußerst engen Voraussetzungen des § 36 Abs. 2 AufenthG („Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte“) möglich. Zwar erkennt die Kammer, dass die Geschwister in der Bundesrepublik gemeinsam mit dem Tod der Mutter und den schwierigen Umständen um den Vater (u.a. gemeinsame Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung) konfrontiert waren. Gleichwohl ergibt sich hieraus nicht eine aus Art. 6 GG erwachsende Notwendigkeit, den Kläger bei seiner Schwester in der Bundesrepublik zu belassen. Denn einerseits wurde bereits nicht glaubhaft gemacht, inwieweit der Kläger und seine Schwester derzeit verbunden und notwendig aufeinander angewiesen sein sollen und andererseits bestünde auch die Möglichkeit, dass die Geschwister ihre familiäre Lebensgemeinschaft in der gemeinsamen Heimat fortführen. Zwingende Gründe für einen Verbleib der Schwester in der Bundesrepublik Deutschland wurden nicht vorgetragen und sind auch aus den Akten nicht ersichtlich. Bezüglich der familiären Beziehung des Klägers zu seinem Vater ist anzumerken, dass letzterer ebenfalls ausreisepflichtig ist (vgl. insoweit Bl. 336 ff. der Behördenakte) und damit prognostisch nicht in der Bundesrepublik verbleiben wird.
Einer Ausreise steht im Übrigen auch nicht Art. 8 EMRK entgegen, da der Kläger nicht in besonderem Maße im Bundesgebiet verwurzelt ist. Maßgebliche Anhaltspunkte für eine Integration des Ausländers in Deutschland sind eine zumindest mehrjährige Dauer des Aufenthalts in Deutschland, gute deutsche Sprachkenntnisse und eine soziale Eingebundenheit in die hiesigen Lebensverhältnisse, wie sie etwa in der Innehabung eines Arbeits- oder Ausbildungsplatzes, in einem festen Wohnsitz, ausreichenden Mitteln, um den Lebensunterhalt einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten zu können, und fehlender Straffälligkeit zum Ausdruck kommen (vgl. HessVGH, B v. 15.2.2006 – 7 TG 106/06 – NVwZ-RR 2006, 826/827 m.w.N.).
Zwar erkennt die Kammer, dass sich der Kläger inzwischen neun Jahre in der Bundesrepublik aufhält. Gleichwohl ist ihm in dieser Zeit eine nachhaltige Integration in die Lebensbedingungen der Bundesrepublik Deutschland nicht gelungen. Zwar besuchte dieser die Schule und erwarb nach seinen eigenen Angaben (ein Nachweis hierfür findet sich nicht in den Ausländerakten) einen Mittelschulabschluss. Eine betriebliche Ausbildung brach der Kläger jedoch ab, ohne im weiteren beruflich Fuß fassen zu können. Derzeit geht er nach Aktenlage keiner Beschäftigung nach. Zu beachten ist auch, dass der Kläger in der Bundesrepublik bereits straffällig geworden ist (eine Woche Dauerarrest wegen Diebstahls) und nachweislich Drogen konsumiert hat. Gleichzeitig geht die Kammer nicht davon aus, dass dem Kläger eine Rückkehr in sein Heimatland auf Grund einer etwaigen Entwurzelung nicht zumutbar ist: Der Kläger absolvierte dort einen Teil der Schulausbildung, beherrscht die Landessprache und verbrachte dort auch die Hälfte seines Lebens. Ebenso wird er prognostisch in der Heimat auf die Hilfe seines ebenfalls ausreisepflichtigen Vaters zurückgreifen können.
Da auch weitere Gesichtspunkte nicht ersichtlich sind, aus denen sich eine dauerhafte Unmöglichkeit der Ausreise des Klägers ergeben könnte, ist bereits der Tatbestand des Art. 25 Abs. 5 AufenthG nicht erfüllt.
cc) Die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach §§ 25a, 25b AufenthG kommt bereits deswegen nicht in Betracht, da der Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung in der Tatsacheninstanz (vgl. BayVGH, B.v. 12.2.2021 – 19 CE 21.6) kein „geduldeter Ausländer“ ist. Ein Ausländer ist geduldet, wenn ihm eine rechtswirksame Duldung erteilt worden ist oder er einen Rechtsanspruch auf Duldung hat.
Der Kläger ist nicht im Besitz einer Duldung und hat auf eine solche auch keinen Anspruch, da einerseits seine Ausreise rechtlich nicht unmöglich ist (s.o.). Es ist davon auszugehen, dass eine Abschiebung des Klägers auch tatsächlich möglich ist. Insoweit hat die Beklagte in ihrem Bescheid ausführlich dargestellt, dass Abschiebungen nach Aserbaidschan und Kasachstan auch ohne einen gültigen Reisepass mittels sog. „Heimreisescheinen“ möglich sind. Dass ein solcher zeitnah ausgestellt werden kann, ist vorliegend auch wahrscheinlich, da die Identität des Klägers aufgrund seiner Geburtsurkunde und eines Eintrages im abgelaufenen kasachischen Reisepass seiner verstorbenen Mutter ausreichend geklärt sein dürfte.
Darüber hinaus hat die Beklagte zutreffend eine positive Integrationsprognose i.S.d. § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG verneint. Insbesondere kann nach der Gesetzesbegründung bei straffällig gewordenen Jugendlichen oder Heranwachsenden – wie dem Kläger – in aller Regel eine positive Integrationsprognose nicht angestellt werden (vgl. Hecker in BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, § 25a Rn. 10).
Nach den bereits im Zusammenhang mit § 25 Abs. 5 AufenthG gemachten Ausführungen ist der Kläger im Bundesgebiet auch im Übrigen noch nicht hinreichend integriert. Vielmehr scheint es in den letzten Jahren zu einer „Abwärtsentwicklung“ des Klägers gekommen zu sein, die sich weiter fortzusetzen droht. So erfolgten nach Schulbesuch und vermeintlichem Schulabschluss zunächst ein Abbruch der Ausbildung, Alkohol- und Drogenkonsum und letztlich auch die aktuelle Straffälligkeit. Diese kann auch nicht mit dem Verlust der Mutter im Mai 2017 gerechtfertigt werden. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger in Zukunft sein Leben wieder geordnet gestalten können wird, wurden insoweit nicht vorgetragen und sind auch nicht ersichtlich.
dd) Unabhängig davon, dass der Kläger für keinen der in Betracht kommenden Aufenthaltstitel die besonderen Erteilungsvoraussetzungen erfüllt, liegen darüber hinaus auch die Regelerteilungsvoraussetzungen nicht vor.
So hat der Kläger die Sicherung seines Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG bereits nicht glaubhaft gemacht.
Zudem steht einem Anspruch des Klägers auf Aufenthaltserlaubnis ein Ausweisungsinteresse entgegen (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG), da er durch das Amtsgericht … wegen eines Diebstahls zu einem Jugendarrest von einer Woche verurteilt wurde. Dies begründet ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG. Nach dieser Norm wiegt das Ausweisungsinteresse u.a. schwer, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen hat. Eine vorsätzlich begangene Straftat, wie der abgeurteilte Diebstahl, ist grundsätzlich kein geringfügiger Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift (vgl. BayVGH, B.v. 19.9.2017 – 10 C 17.1343 – juris Rn. 6; B.v. 5.7.2016 – 10 ZB 14.1402 – juris Rn. 14 m.w.N; NdsOVG, B.v. 20.6.2017 – 13 LA 134/17 – juris Rn. 10 m.w.N. zu § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG a.F.; s. dazu auch Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, AufenthG § 54 Rn. 95 m.w.N.; Fleuß in BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, Stand: 1.4.2021, AufenthG § 54 Rn. 323 ff.).
Offenbleiben – da für das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses hier unerheblich – kann an dieser Stelle, ob die Beklagte im konkreten Fall durch die Staatsanwaltschaft nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellte Strafverfahren hätte berücksichtigen dürfen. Die Beklagte hat die Versagung der Aufenthaltserlaubnis vorliegend nämlich erkennbar nicht auf die nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellten Tatvorwürfe gestützt. Die bloße Erwähnung der nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellten Strafverfahren in den Gründen zu I. macht den Bescheid nicht rechtswidrig, geschweige denn nichtig.
Der Kläger erfüllt auch nicht die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG (Passpflicht). Insoweit ist anzumerken, dass die Erfüllung der Passpflicht (vgl. BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 17.12 – juris Rn. 18 ff.) nur durch den Besitz eines anerkannten und gültigen Passes oder Passersatzes erfüllt wird (vgl. Maor in BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, Stand 1.7.2021, AufenthG § 5 Rn. 19). Nach Aktenlage konnte der Kläger jedoch bislang – trotz ersichtlich mehrfacher und wiederholter Anfrage der Beklagten – noch keinen Pass vorlegen. Auch etwaige Bemühungen des Klägers oder Botschaftsvorsprachen ersetzen nicht das Vorhandensein eines anerkannten Passes oder Passersatzes (vgl. BayVGH, B.v. 11.12.2017 – 10 ZB 17.1682 – juris Rn. 11).
Nach alldem hat der Kläger nach summarischer Prüfung keinen Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
ee) Auch im Hinblick auf die Annexentscheidungen (Ausreiseaufforderung, Abschiebungsandrohung und das für den Fall der Abschiebung erlassene Einreise- und Aufenthaltsverbot) begegnet der Bescheid keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 117 Abs. 5 VwGO analog auf die zutreffenden Ausführungen im Bescheid der Beklagten Bezug genommen.
Nach alldem wird die Klage voraussichtlich keine Aussicht auf Erfolg haben.
b) Auch für den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO kann mangels Erfolgsaussichten in der Sache keine Prozesskostenhilfe gewährt werden. Der Antrag ist zwar jedenfalls im Hinblick auf die Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis und die Abschiebungsandrohung zulässig. Er ist aber unbegründet. Da der streitgegenständliche Verwaltungsakt voraussichtlich rechtmäßig ist (s.o.), überwiegt das öffentliche Interesse an seiner Vollziehung das private Aussetzungsinteresse des Klägers. Etwaige weitere Gesichtspunkte, die trotz voraussichtlicher Rechtmäßigkeit des Bescheides auf ein Überwiegen des privaten Aussetzungsinteresses des Klägers hindeuten könnten, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
c) Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe war nach alldem für das Klage- und Antragsverfahren abzulehnen.
Kann Prozesskostenhilfe nicht gewährt werden, so kommt auch eine Beiordnung eines Bevollmächtigten nach § 121 ZPO nicht in Betracht.
2. Anknüpfend an die obenstehenden Ausführungen war auch der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage abzulehnen. Dieser ist aus den oben genannten Gründen nach summarischer Prüfung unbegründet.
3. Die Kostenentscheidung für das Antragsverfahren beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts für das Antragsverfahren fußt auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG i.V.m. den Ziffern 8.1 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.


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