Verwaltungsrecht

Verletzung des rechtlichen Gehörs in Form eines Überraschungsurteil

Aktenzeichen  9 ZB 20.30351

Datum:
12.2.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 4589
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78 Abs. 3, § 3e, § 77 Abs. 2, § 78 Abs. 3 Nr. 3, § 80, § 83b
VwGO § 138

 

Leitsatz

Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs in Form eines Überraschungsurteils liegt dann vor, wenn einen bis dahin nicht erörterter tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkt zur Grundlage der Entscheidung gemacht wird und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (ebenso Beck RS 2018, 21831). (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 30 K 17.41981 2019-12-06 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Kläger, nach seinen Angaben Staatsangehöriger Sierra Leones, begehrt die Anerkennung als Asylberechtigter, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die Zuerkennung subsidiären Schutzes sowie die Feststellung von Abschiebungshindernissen. Mit Urteil vom 6. Dezember 2019 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Soweit sich der Kläger auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils und besondere rechtliche Schwierigkeiten beruft, wird bereits kein im Asylverfahrensrecht vorgesehener Zulassungsgrund dargelegt (vgl. BayVGH, B.v. 8.10.2019 – 9 ZB 19.32166 – juris Rn. 6). Der Zulassungsgrund einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) liegt ebenso wenig vor, wie der im Zulassungsvorbringen angeführte Verfahrensmangel (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG).
1. Der vom Kläger geltend gemachte Zulassungsgrund einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) liegt nicht vor.
Die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass eine konkrete noch nicht geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage aufgeworfen wird, deren Beantwortung sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird und die über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder für die Weiterentwicklung des Rechts hat. Zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes ist eine Frage auszuformulieren und substantiiert anzuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird (vgl. BayVGH, B.v. 17.12.2019 – 9 ZB 19.34094 – juris Rn. 3). Dem wird das gesamte Zulassungsvorbringen nicht gerecht.
Der Kläger sieht eine grundsätzliche Bedeutung in der Frage, „ob bei fluchtauslösenden Problemen mit nichtstaatlichen Personen/Organisationen betroffener Personen auch auf die Möglichkeit des Schutzes durch Sierra Leone, namentlich dessen Sicherheitsbehörden verwiesen werden kann oder ob nicht auf eine derartige Möglichkeit des Schutzsuchens bei Sierra Leone gänzlich zu verzichten ist und vielmehr die betroffene Person ausschließlich darauf verwiesen werden kann, Selbstschutz in der Familie zu suchen und insoweit entsprechende Feststellungen, ob dies der betreffenden Person überhaupt möglich ist, zu treffen sind“. Soweit das Verwaltungsgericht auf die fehlende Glaubhaftigkeit des klägerischen Vortrags abgestellt hat, ist die Frage bereits nicht entscheidungserheblich. Darüber hinaus hat das Verwaltungsgericht – bei Wahrunterstellung des klägerischen Vortrags – weiter ausgeführt, dass es dem Geheimbund der Gbangbani-Society nicht möglich sei, Personen in Sierra Leone ausfindig zu machen und sich den Erkenntnismitteln keine Erkenntnisse über gezielte überörtliche (Organisations-)Strukturen entnehmen ließen. Abgesehen davon, dass das Zulassungsvorbringen dem nicht entgegentritt und keine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung aufzeigt, setzt es sich nicht mit den eingeführten Erkenntnismitteln auseinander. Stützt sich das Verwaltungsgericht – wie hier – bei seiner Entscheidung auf bestimmte Erkenntnismittel oder gerichtliche Entscheidungen, ist erforderlich, dass das Zulassungsvorbringen zumindest einen überprüfbaren Hinweis auf andere Gerichtsentscheidungen oder auf vom Verwaltungsgericht nicht berücksichtigte sonstige Tatsachen- oder Erkenntnisquellen enthält, die den Schluss zulassen, dass die aufgeworfene Frage einer unterschiedlichen Würdigung zugänglich ist und damit einer Klärung im Berufungsverfahren bedarf (BayVGH, B.v. 11.12.2019 – 9 ZB 19.34164 – juris Rn. 5).
2. Die im Zulassungsvorbringen angeführte Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 VwGO) ist nicht gegeben, weil das Verwaltungsgericht keine überraschende Entscheidung getroffen hat.
Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht gemäß Art. 103 Abs. 1 GG sichert den Beteiligten im gerichtlichen Verfahren ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden. Das Gericht hat die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Es ist aber nicht verpflichtet, auf sämtliche Tatsachen und Rechtsansichten einzugehen, die im Laufe des Verfahrens vorgebracht worden sind. Nur wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvorbringens eines Beteiligten zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht eingeht, lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war. Art. 103 Abs. 1 GG enthält darüber hinaus ein Verbot von Überraschungsentscheidungen. Ein unzulässiges „Überraschungsurteil“ liegt vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (BayVGH, B.v. 27.8.2018 – 9 ZB 18.31866 – juris Rn. 5 m.w.N.). Der Kläger trägt vor, das Verwaltungsgericht habe überraschend auf eine inländische Fluchtalternative abgestellt und ihm nicht ausreichend Gelegenheit gegeben, zu seinen persönlichen Verhältnissen vorzutragen. Daraus ergibt sich die behauptete Verletzung rechtlichen Gehörs aber nicht.
Das Verwaltungsgericht hat in der mündlichen Verhandlung vom 5. Dezember 2019 den Kläger zu seinen familiären Verhältnissen befragt und sich in den Urteilsgründen – auch unter Bezugnahme auf den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (§ 77 Abs. 2 AsylG) – ausführlich mit den persönlichen Verhältnissen des Klägers befasst. Dass es im Rahmen der Prüfung der Asylgründe auch auf eine mögliche inländische Fluchtalternative ankommt, ist im Hinblick auf die Gesetzeslage (§ 3e AsylG) nicht überraschend; das Verwaltungsgericht muss insoweit den geltend gemachten Anspruch des Klägers entsprechend den gesetzlichen Vorgaben umfassend prüfen. Eine Pflicht des Verwaltungsgerichts, den anwaltlich vertretenen Kläger dabei unter allen möglichen rechtlichen Gesichtspunkten zu beraten, besteht darüber hinaus nicht (vgl. BayVGH, B.v. 24.5.2016 – 9 ZB 13.2539 – juris Rn. 24 m.w.N.). Der Kläger wendet sich mit seinem Vorbringen vielmehr gegen die Sachverhalts- und Beweiswürdigung durch das Verwaltungsgericht, womit kein im Asylverfahrensrecht vorgesehener Zulassungsgrund angesprochen wird (vgl. BayVGH, B.v. 9.10.2018 – 9 ZB 16.30738 – juris Rn. 7).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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