Verwaltungsrecht

Verletzung von Art. 3 EMRK bei Abschiebung eines alleinerziehenden Elternteils mit zwei Kindern ohne familiäres Netzwerk nach Afghanistan

Aktenzeichen  M 18 K 17.30390

Datum:
15.9.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 58 Abs. 2
AsylG AsylG §§ 3, 4
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5

 

Leitsatz

1. Eine Rechtsbehelfsbelehrung mit dem Hinweis, dass die Klage “in deutscher Sprache abgefasst sein“ muss, ist rechtsfehlerhaft iSd § 58 Abs. 2 S. 1 VwGO, da durch diesen Wortlaut für den juristischen Laien die Möglichkeit der Klageerhebung zur Niederschrift nicht ausreichend erkennbar ist. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ob schon afghanische Frauen, die infolge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr nach Afghanistan ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann, eine bestimmte soziale Gruppe iSd § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG bilden, kann dahingestellt bleiben, wenn ein westlicher Lebensstil schon nicht durch den Vortrag der Ausländerin und das in der mündlichen Verhandlung dargetane Erscheinungsbild belegt wird. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei Abschiebung eines alleinerziehenden Elternteils mit zwei Kindern ohne familiäres Netzwerk nach Afghanistan ist eine Verletzung von Art. 3 EMRK anzunehmen, da eine Sicherung der Existenz der Familie unter den derzeitigen wirtschaftlichen Bedingungen in Afghanistan nicht gelingen würde. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom … wird in den Nummern 4 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens tragen die Kläger ¾, die Beklagte ¼.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Gründe

Die zulässige Klage ist nur teilweise begründet.
1. Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 15. September 2017 entschieden werden, obwohl die Beklagte nicht erschienen ist. In der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden könne (§ 102 Abs. 2 VwGO). Die Beklagte wurde formgerecht geladen. Auf die Einhaltung der Ladungsfrist wurde mit allgemeiner Prozesserklärung verzichtet.
2. Die Klage ist zulässig, insbesondere ist die Klagefrist zum Zeitpunkt der Klageerhebung am 9. Januar 2017 noch nicht abgelaufen gewesen. Zwar statuiert § 74 Abs. 1, 1. Halbsatz AsylG für die vorliegende Klage grundsätzlich eine Klagefrist von zwei Wochen nach der Zustellung der Entscheidung. Die Zustellung datiert vom 14. September 2016.
Jedoch erfolgte nach § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO aufgrund unrichtig erteilter Rechtsbehelfsbelehrung:die Verlängerung der Klagefrist auf ein Jahr nach Zustellung der Entscheidung. Die vom Bundesamt beim streitgegenständlichen Bescheid gegebene Rechtsbehelfsbelehrung:lautet wie folgt: „Die Klage muss den Kläger, die Beklagte und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen und in deutscher Sprache abgefasst sein.“ Ein weiterer Hinweis auf die Möglichkeit, Klage zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Gerichtes nach § 81 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu erheben, ist nicht Inhalt der Rechtsbehelfsbelehrung:. Die Formulierung, die eine Klage erfordert, die „in deutscher Sprache abgefasst“ ist, ist rechtsfehlerhaft im Sinne des § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO, da durch diesen Wortlaut für den juristischen Laien die Möglichkeit der Klageerhebung zur Niederschrift nicht ausreichend erkennbar ist und kein weitere Hinweis auf diese Möglichkeit in der Rechtsbehelfsbelehrung:erfolgte (VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 18. April 2017, A 9 S 333/17, Rn. 28ff).
3. Die Klage ist nur teilweise begründet. Den Klägern steht lediglich ein Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverbote im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu.
3.1 Die Klagepartei hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG. Ein Anspruch hierauf besteht, wenn die Voraussetzungen der §§ 3 bis 3e AsylG vorliegen. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich (Nr. 1) aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Nr. 2) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann (…) und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Eine Vorverfolgung ist von der Klägerin für sich und ihre Kinder nicht geltend gemacht worden. Es ist nicht dargelegt, dass die Klägerin (und ihre Kinder) aufgrund ihres Verhaltens bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aufgrund ihres Lebensstils verfolgt werden würde(n).
Von einer „Verfolgung“ kann dabei nur ausgegangen werden, wenn dem Einzelnen in Anknüpfung an die genannten Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zugefügt werden, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen, so dass der davon Betroffene gezwungen ist, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. An einer gezielten Rechtsverletzung fehlt es dabei regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsstaat zu erleiden hat, etwa in Folge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolutionen und Kriegen. Gemessen an diesen Maßstäben befindet sich die Klägerin nicht aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, die als in ihrer Identität westlich geprägte afghanische Frau seitens der Klagepartei umrissen wird, außerhalb ihres Heimatlandes. Für die Entscheidung des vorliegenden Falls kann dahingestellt bleiben, ob es eine solchermaßen abgrenzbare soziale Gruppe gibt (bejahend vgl. OVG Lüneburg, U.v. 21.9.2015 – 9 LB 20/14 – Ls. 1 und Rn. 26). Jedenfalls ergibt sich nach dem Vortrag der Klagepartei und allein dem sich in der mündlichen Verhandlung dargetanen äußeren Erscheinungsbild der Klägerin nicht zur Überzeugung des Gerichts, dass die Klägerin einer – unterstellt – abgrenzbaren sozialen Gruppe afghanischer Frauen angehört, die infolge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr nach Afghanistan ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grades ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann. Insoweit ist für die Annahme eines westlichen Lebensstils der afghanischen Frau erforderlich, dass die betreffende Frau in ihrer Identität von diesem maßgeblich geprägt ist, d.h. sie muss den westlichen Lebensstil auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruhend leben. Dies wird durch die vorgenannten Gründen – dem Vortrag der Klagepartei und allein dem sich in der mündlichen Verhandlung dargetanen äußeren Erscheinungsbild der Klägerin – nach Überzeugung des Gerichts nicht belegt. Die Trennung von ihrem Ehemann ist für die Annahme nicht ausreichend. Die zwei Kläger leben beim Vater, dem von der Klägerin das Aufenthaltsbestimmungsrecht eingeräumt wurde. Weiter ist auch die zukünftige berufliche Planung der Klägerin nicht geeignet eine derart starke westliche Prägung der Klägerin aufzuzeigen, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Anpassung in die Lebensverhältnisse in Afghanistan mehr möglich bzw. zumutbar scheint.
3.2. Ein Anspruch der Kläger auf die Zuerkennung von subsidiären Schutz nach § 4 AsylG ist nicht gegeben. Das Gericht nimmt hierzu auf die Begründungen im streitgegenständlichen Bescheid vom 7. September 2016, die nach Prüfung nicht rechtsfehlerbehaftet sind, nach § 77 Abs. 2 AsylG Bezug.
3.3 Die Kläger haben gegen die Beklagte einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK AufenthG hinsichtlich Afghanistan. Insoweit war der streitgegenständliche Bescheid des BAMF in Nrn. 4, 5 und 6 aufzuheben (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 c 14.10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 16f.)
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Die Reichweite der Schutznorm des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt. Eine unmenschliche Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK, die allein auf der humanitären Lage und den allgemeinen Lebensbedingungen beruht, ist möglich (vgl. BayVGH, B.v.30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris Rn. 5 m.w.N. der Rspr. des BVerwG und des EuGH). Humanitäre Verhältnisse verletzen Art. 3 EMRK zum einen in ganz außergewöhnlichen Fällen, wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung „zwingend“ seien. Dieses Kriterium sei angemessen, wenn die schlechten Bedingungen überwiegend auf Armut zurückzuführen seien oder auf die fehlenden staatlichen Mittel, um mit Naturereignissen umzugehen. Zum anderen könne – wenn Aktionen von Konfliktparteien zum Zusammenbruch der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Infrastruktur führten – eine Verletzung darin zu sehen seien, dass es dem Betroffenen nicht mehr gelinge, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen. Im Anschluss hieran stellt das Bundesverwaltungsgericht hieran darauf ab, ob es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen sei, verletze die Abschiebung des Ausländers Art. 3 EMRK. Die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen setzt ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraus; dies kann durchaus eine besondere Ausnahmesituation beim Ausländer notwendigerweise erfordern, wenn die allgemeine Lage nicht als so ernst eingestuft werden kann, als dass hieraus ohne weiteres eine Verletzung angenommen werden kann.
Das wäre bei der Klägerin unter Berücksichtigung der nachstehenden Ausführungen der Fall, wenn sie nach Afghanistan allein oder aber auch mit ihren minderjährigen Kindern ohne bzw. mit ihrem nach religiösem Ritus angetrauten Ehemann zurückkehren müsste. Die restliche Familie der Klägerin, d.h. ihre minderjährigen Kinder wie auch ihr nach religiösem Ritus angetrauter Ehemann befinden sich im Bundesgebiet. Ein aufnahmebereiter und hierzu -fähiger Familienverband steht der Klägerin in Afghanistan nicht zur Verfügung. Ab ihrer Heirat und für die Dauer ihrer Ehe steht der Klägerin hinsichtlich der traditionellen Familienverantwortlichkeiten nur die Familie des Ehemanns zur Verfügung, in die sie eingeheiratet hat. Diese ist angesichts des Vortrages des Ehemannes der Klägerin in seiner mündlichen Verhandlung und der Ausführungen der Klägerin bei der Bundesamt-Anhörung nicht als aufnahmewillig einzustufen. Die Familie der Klägerin lebt nach ihrer glaubhaften Aussage im Iran.
Die Klägerin macht zwar nicht geltend, dass ihr näher spezifizierte, konkrete Maßnahmen drohen würden, sondern sie beruft sich auf die allgemeine Lage in Afghanistan. Die zu erwartenden schlechten Lebensbedingungen und die daraus resultierenden Gefährdungen weisen vorliegend aber eine Intensität auf, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist (vgl. BayVGH, B.v.30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris Rn. 5).
Hierbei wird die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 21. November 2014 Az.: 13a B 14.30285 zugrunde gelegt und von der nämlichen Erkenntnislage wie dort ausgegangen, ergänzt um den aktuellen Lagebericht, der von keinerlei Verbesserung im Vergleich zum seinerzeitigen Lagebericht vom 31. März 2014 (Stand 2/2014), der neben anderen Grundlagen der Entscheidung zu Grunde liegt, berichtet. Diese Rechtsprechung ist auch auf den vorliegenden Fall einer nach staatlichem Recht ledigen, nach islamischem Recht verheirateten Frau mit zwei minderjährigen Kindern, die nach Afghanistan zurückkehren würde, anwendbar. Demnach ist bei Abschiebung eines alleinerziehenden Elternteils mit zwei Kindern ohne familiäres Netzwerk nach Afghanistan eine Verletzung von Art. 3 EMRK anzunehmen. Eine Sicherung der Existenz der Familie würde der Klägerin als alleinstehende Frau mit zwei Kindern und ohne familiäres Netzwerk unter den derzeitigen wirtschaftlichen Bedingungen in Afghanistan nicht gelingen (vertieft zu Witwen – vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, 13.9.2015, S. 15; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Alleinstehende Frau mit Kindern, 15.12.2011, Antwort auf Frage 2, S. 3, UNHCR-Richtlinie vom 19. April 2016 (UNHCR-RL 2016), S. 98).
Selbst bei einer – nicht gesicherten, sondern rein freiwilligen – Mitreise des Kindsvaters und getrennt lebenden Ehemannes ist eine Existenzsicherung für Familien ohne Vermögen/Arbeitsmittel oder sozialen Netzwerken in urbanen Zentren aktuell mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht möglich. Afghanistan zählt zu den ärmsten Ländern der Welt, mehr als ein Drittel der Bevölkerung lebt unter der nationalen Armutsgrenze und aufgrund des jahrelangen Bürgerkrieges und einer Vielzahl von Naturkatastrophen sind die urbanen Zentren durch die Anzahl an Binnenvertriebenen überlastet (UNHCR-RL 2016, S. 31ff). Verschärft wird die Lage durch (teilweise unfreiwillige) Rückkehrer aus Pakistan und Iran. Die Gesamtzahl der 2016 in urbane Zentren strömenden Binnenvertriebenen und Rückkehrern beträgt mehr als 1,3 Million Personen (United Nations, General Assembly Security Council, Report oft he Secretary-General on „The situation in Afghanistan“ vom 3. März 2017, S. 9), wobei die Zahl der Binnenvertriebenen im ersten Halbjahr 2017 im Vergleich um ein Drittel abgenommen hat (vgl. OCHA, Conflict induced displacements in 2017 – Snapshot 18.6.2017), die Zahl der Rückkehrer im Vergleich jedoch zunahm (United Nations, General Assembly Security Council, Report of the Secretary-General on „The situation in Afghanistan“ vom 15. Juni 2017, S. 10). Die Gefahr, mit anderen Binnenvertriebenen und Rückkehrern in informellen Siedlungen unter menschenunwürdigen Bedingungen leben zu müssen, ist insbesondere für Personen gegeben, die keine auf dem urbanen Arbeitsmarkt nutzbaren Fähigkeiten erlernt haben (UNHRC-RL 2016, S. 96 Fußnote 542; OCHA, 2017 Humanitarian Needs Overview, S.26). Grundsätzlich ist daher angesichts der noch vorherrschenden Clan-Struktur in Afghanistan und dem wesentlichen Lebenstils in Großfamilieneinheiten die Unterstützung bei der Niederlassung durch die Familie bzw. den Clan notwendig, um das wirtschaftliche Überleben unter menschenwürdigen Bedingungen zu sichern (UNHCR-RL 2016, S. 96f). Aufgrund der wirtschaftlichen Lage besteht bei fehlender Unterstützung durch den Clan/Großfamilie und fehlenden Ersparnissen das hohe Risiko, dass die Kinder der Familie durch Arbeit zum Einkommen beitragen müssen (UNHCR-RL 2016, S. 34, Fußnote 186; OCHA, 2017 Humanitarian Needs Overview, S. 41, Fußnote 10). Die Klägerin selbst kann ausweislich der in Afghanistan üblichen Rollenzuschreibung keinen Beruf ausüben (s.o.), sodass es auf den ggf. mitreisenden Ehemann ankäme. Dieser ist gelernter Goldschmied, wobei er seit 20 Jahren nicht mehr in dem Beruf gearbeitet hatte, sowie als Verkäufer tätig gewesen. Mangels Netzwerke in afghanischen urbanen Zentren und angesichts der großen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt für Verkäufer ist nicht davon auszugehen, dass er eine Anstellung in diesen Bereichen finden wird. Somit könnte der bereits 62 Jahre alte Kläger lediglich als Gelegenheitsarbeiter einen tagesabhängigen, minimalen Lohn erarbeiten, wenn er sich denn im Konkurrenzkampf gegen die vielen, erheblich jüngeren Binnenflüchtlinge/Rückkehrer durchsetzt, was dem Gericht sehr unwahrscheinlich scheint. Mangels möglich erscheinender Sicherung der Grundbedürfnisse ist eine erniedrigende Behandlung der Kläger nach Art. 3 EMRK bei einer Abschiebung nach Afghanistan zu befürchten.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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