Verwaltungsrecht

Verurteilung des Bundesamts zur Entscheidung über einen Asylantrag im Wege der Untätigkeitsklage

Aktenzeichen  M 15 K 16.30500

Datum:
26.4.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 75
RL 2013/32/EU Art. 31 Abs. 2
GG GG Art. 16a Abs. 1

 

Leitsatz

Die permanente Überlastung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge durch stark gestiegene Asylbewerberzahlen stellt, da es sich um eine andauernde Arbeitsüberlastung und nicht einen kurzfristigen Geschäftsanfall handelt, keinen sachlichen Grund für die Nichtentscheidung über einen Asylantrag im Sinne von § 75 S. 1 VwGO dar. In diesem Fall ist es Aufgabe des zuständigen Bundesministeriums bzw. der Behördenleitung, entsprechende organisatorische Maßnahmen zu treffen (wie VG Dresden BeckS 2015, 42191). (red. LS Clemens Kurzidem)
Priorisierungsentscheidungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, die rechtlich zulässig sind, stellen keinen zureichenden Grund nach § 75 S. 1 VwGO dar. Dies gilt insbesondere dann, wenn – nach einer Verfahrensdauer von zweieinhalb Jahren – das Bundesamt auf Anfrage des Gerichts keine Perspektive für eine Entscheidung aufzeigt, sodass offenbleibt, wann überhaupt über den Asylantrag des Klägers entschieden werden soll.  (red. LS Clemens Kurzidem)
Sowohl Art. 16a Abs. 1 GG wie auch Art. 31 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU gewähren dem Asylbewerber ein subjektiv-öffentliches Recht auf eine möglichst rasche Entscheidung über seinen Asylantrag, das durch die Untätigkeit des Bundesamts verletzt wird. (red. LS Clemens Kurzidem)
Ausgehend von den Vorgaben des § 75 VwGO erweist sich, sofern der Kläger keinen Sachantrag stellt, die Verurteilung des Bundesamts zu einer Entscheidung über den Antrag innerhalb einer Frist von drei Monaten ab Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung als angemessen. (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I.
Die Beklagte wird verpflichtet, das Asylverfahren der Kläger fortzusetzen und über ihre Asylanträge vom 19. September 2013 bis spätestens drei Monate nach Rechtskraft des Urteils zu entscheiden.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Gründe

Die Untätigkeitsklage, über die mit Einverständnis der Parteien ohne mündliche Verhandlung entschieden wird (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
Insbesondere liegt die Zulässigkeitsvoraussetzung des § 75 Satz 2 VwGO vor. Die Kläger haben im September 2013, also vor über zweieinhalb Jahren, einen Antrag auf Durchführung eines Asylverfahrens beim Bundesamt gestellt, über den bis heute nicht entschieden wurde. Auch ein Termin für die Durchführung der persönlichen Anhörung wurde nicht in Aussicht gestellt. Das Bundesamt hat sich zum Vorliegen eines Grundes für die verzögerte Bearbeitung und Entscheidung weder im Asylverfahren noch im Klageverfahren geäußert. Auch wenn gerichtsbekannt ist, dass das Bundesamt durch die stark erhöhten Asylbewerberzahlen überlastet ist, reicht dies nicht aus, um einen zureichenden Grund für die Nichtverbescheidung anzunehmen. Es handelt sich auch nicht um eine kurzfristig erhöhte Geschäftsbelastung, sondern um eine permanente Überlastung der Behörde. Eine andauernde Arbeitsüberlastung ist aber kein sachlicher Grund im Sinne des § 75 Satz 1 VwGO. In einem solchen Fall ist es Aufgabe des zuständigen Bundesministeriums bzw. der Behördenleitung, entsprechende organisatorische Maßnahmen zu treffen (vgl. VG Dresden, U. v. 13.2.2015 – A 2 K 3657/14; VG Düsseldorf, U. v. 30.10.2014 – 24 K 992/14.A; VG Braunschweig, U. v. 8.9.2014 – 8 A 618/13 – alle juris). Hinzu kommt, dass der Asylantrag des Klägers zu einer Zeit gestellt worden ist, zu der die Arbeitsbelastung bei weitem noch nicht das heutige Ausmaß erreicht hatte (vgl. hierzu VG Ansbach, U. v. 27.01.2016 – AN 3 K 15.30560 – juris). Auch die von der Beklagten getroffenen Priorisierungsentscheidungen stellen keinen zureichenden Grund im Sinne von § 75 Satz 1 VwGO dar. Obwohl solche Priorisierungsentscheidungen rechtlich zulässig sind (vgl. VG Osnabrück, U. v. 14.10.2015 – 5 A 390/15 – juris), kann eine Verfahrensdauer von über zweieinhalb Jahren nicht mehr durch eine Priorisierungsentscheidung gerechtfertigt werden. Dies gilt insbesondere, wenn – wie hier – die Behörde trotz einer Anfrage des Gerichts keine Perspektive für eine Entscheidung aufzeigt, so dass auf zunächst unbestimmte Zeit offenbleibt, wann überhaupt über den Antrag entscheiden wird. Dazu kommt, dass in vielen anderen Fällen seit Monaten Anfragen des Gerichts nach dem voraussichtlichen Zeitpunkt einer Entscheidung genauso unbeantwortet bleiben wie Bitten um Entscheidung. Ebenso sieht das Gericht eine weitere Nachfristsetzung, wie vom Bundesamt mit Schreiben vom 25. Februar 2016 beantragt, als entbehrlich an, vor allem deshalb, weil das Bundesamt bereits auf die gerichtliche Anfrage vom 16. März 2016, bis wann mit einer Entscheidung bzw. Anberaumung eines Termins zur Anhörung zu rechnen sei, nicht reagiert hat. Auch die bisherige Verfahrensdauer sowie die Tatsache, dass auch die Frist des § 24 Abs. 4 AsylG ebenfalls längst verstrichen ist, spricht dagegen, der Beklagten eine weitere Nachfrist zu setzen. Eine wie von der Beklagten beantragte Aussetzung des Verfahrens kommt mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 94 VwGO nicht in Betracht.
Die Klage ist auch begründet (§ 113 Abs. 5 VwGO), da die Kläger einen Anspruch auf Fortsetzung des Asylverfahrens und Verbescheidung des gestellten Antrags hat. Die materielle Pflicht der Beklagten zur Entscheidung ergibt sich direkt aus Art. 16a Abs. 1 GG als einem subjektivöffentlichen Recht. Diesem Grundrecht kann nur durch aktives staatliches Handeln Geltung verschafft werden. Eine Verletzung dieses Grundrechts kann deshalb bereits durch reines Unterlassen, also durch Nichtverbescheidung von Anträgen, eintreten. Somit begründet Art. 16a Abs. 1 GG eine Pflicht des Staates zur Bescheidung von Asylanträgen, die die Gerichte sowohl unmittelbar aufgrund von Art. 16a Abs. 1 GG als auch aufgrund von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zu gewährleisten haben.
Auch Art. 31 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU, der eine möglichst rasche Entscheidung über den Asylantrag normiert, gewährt den Klägern subjektiv öffentliche Rechte, die durch die Untätigkeit der Beklagten verletzt werden.
Da der Prozessbevollmächtigte keinen Antrag auf Zuerkennung materieller Rechtspositionen gestellt hat, kommt es vorliegend auf die Problematik des Durchentscheidens nicht an.
Das Gericht hält die beantragte Frist für die Entscheidung über den Asylantrag des Klägers von 3 Monaten ab Rechtskraft des Urteils für angemessen. Dabei hat es sich an der Vorschrift des § 75 VwGO orientiert. Der Fristablauf nach Rechtskraft des Urteils trägt dem Umstand Rechnung, dass eine vorläufige Vollstreckung bei Verpflichtungsklagen nur hinsichtlich der Kosten möglich ist (vgl. § 167 Absatz 2 VwGO; vgl. VG Osnabrück, U. v. 14.10.2015 – 5 A 390/15 – juris Rn. 42).
Der Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen dieses Urteil können die Beteiligten die Zulassung der Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
schriftlich beantragen. Dem Antrag sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.
Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Berufung kann nur zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder das Urteil von einer Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Der Gegenstandswert beträgt 2.500,00 EUR.
Gründe:
Da Streitgegenstand des Verfahrens die Verpflichtung der Beklagten zur Entscheidung über den Asylantrag des Klägers, nicht jedoch die Prüfung des Bestehens materieller Ansprüche des Klägers ist, reduziert das Gericht den Gegenstandswert aus Gründen der Billigkeit, § 30 Abs. 2 RVG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 Abs. 1 AsylG.


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