Verwaltungsrecht

Verwaltungsgerichte, Befähigung zum Richteramt, Inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, Aufenthaltsverbot, Subsidiärer Schutz, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Flüchtlingseigenschaft, Abschiebungsverbot, Anordnung der aufschiebenden Wirkung, Ermessenserwägungen, Prozeßkostenhilfeverfahren, mündlich Verhandlung, Ausländerrecht, Abschiebungsandrohung, Offensichtlich unbegründet, Kostenentscheidung, Familiäre Belange, Sicherheitsleistung, Vertretungszwang, Rechtsmittelbelehrung

Aktenzeichen  W 8 K 20.31115

Datum:
10.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 6985
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 84 Abs. 4
AsylG § 30
AsylG § 77 Abs. 2
AsylG § 78 Abs. 1 S. 1
AufenthG § 11
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
AufenthG § 60a Abs. 2c

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Nr. 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16. September 2020 wird aufgehoben.  Im Übrigen wird die Klage als offensichtlich unbegründet abgewiesen. 
II. Von den Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin 5/6 und die Beklagte 1/6. Gerichtskosten werden nicht erhoben. 
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet. 

Gründe

Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und – im tenorierten Umfang – teilweise begründet, soweit sie sich auf die Anordnung und Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots in Nr. 6 des streitgegenständlichen Bescheides bezieht. Im Übrigen ist die Klage offensichtlich unbegründet.
Soweit die Klage offensichtlich unbegründet ist nimmt das Gericht Bezug auf seinen Gerichtsbescheid vom 27. Oktober 2020 (VG Würzburg, B.v. 27.10.2020 – W 8 K 20.31115 – juris) und sieht zur Vermeidung von Wiederholungen von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
Darüber hinaus folgt das Gericht den Feststellungen und der Begründung im angefochtenen Bescheid und sieht zur Vermeidung von Wiederholungen von einer nochmaligen Darstellung ab (§ 77 Abs. 2 AsylG). Des Weiteren nimmt das Gericht auf seinen Beschluss im Sofortverfahren (VG Würzburg, B.v. 6.10.2020 – W 8 S 20.31116 – juris) Bezug, in dem es das klägerische Vorbringen schon ausführlich gewürdigt hat.
Das Vorbringen der Klägerin bzw. des Klägerbevollmächtigten mit dem Hinweis, dass sie miteinander nach religiösem Ritus verheiratet seien, führt insoweit zu keiner anderen Beurteilung. Die Voraussetzungen für den Familien- und Flüchtlingsschutz bzw. subsidiären Schutz nach § 26 AsylG liegen offensichtlich nicht vor, weil die Ehe jedenfalls nicht im Verfolgerstaat des Stammberechtigten bestanden hat und dort keine Lebensgemeinschaft geführt worden ist.
Die erstmals in der mündlichen Verhandlung und nach Fristsetzung nach § 87b Abs. 3 VwGO vorgebrachten Gründe zu einer angeblichen Bedrohung der Klägerin durch den Stiefvater in Algerien sind nicht glaubhaft. Denn die Klägerin selbst hat überhaupt nichts Dahingehendes vorgebracht.
Bei ihrer Anhörung beim Bundesamt am 11. September 2020 gab die Klägerin vielmehr an, wegen der Eheschließung mit ihrem Ehemann und dem gewollten Zusammenleben nach Deutschland gereist zu sein. In Algerien habe sie mit ihrer Mutter, ihrem Stiefvater und den zwei Brüdern, einer Tante und einem Onkel zusammengelebt. Sie berichtete lediglich, dass finanzieller Druck und die Frage, wer für ihren Lebensunterhalt aufkomme, etwas größer geworden sei, nachdem sie geheiratet habe. Auf ausdrückliche Nachfrage des Bundesamtes erklärte die Klägerin bei ihrer Anhörung, es habe keine Schwierigkeiten gegeben, es habe nur „etwas Druck“ von ihrem Stiefvater wegen der Familienzusammenführung gegeben. Dass der Stiefvater sie bedroht habe oder gar gedroht hat, sie umzubringen, wie der Bevollmächtigte nun behauptet, hat die Klägerin selbst nicht gesagt.
Darüber hinaus hat das Gericht auch nach dem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung eher den Eindruck, dass keine ernsthafte Todesdrohung in Algerien vorgelegen hat bzw. vorliegt. Denn der Klägerbevollmächtigte gab an, der Stiefvater habe die Klägerin einfach nicht mehr zu Hause haben wollen, seit sie verheiratet sei, weil sie störe. Aber selbst wenn eine Todesdrohung vorläge, bestünde nach diesem Vorbringen jedenfalls offensichtlich eine inländische Aufenthaltsalternative, weil der Stiefvater offenkundig nichts dagegen hat, wenn sich die Klägerin anderweitig in Algerien niederlässt und nicht mehr von ihm versorgt werden muss. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichts muss sich eine Algerierin auf eine inländische Aufenthaltsalternative verweisen lassen (vgl. zuletzt etwa nur VG Würzburg, U.v. 11.1.2021 – W 8 K 20.31016; U.v. 21.12.2020 – W 8 K 20.30845 – juris; U.v. 28.9.2020 – W 8 K 20.30307 – juris).
Gesundheitliche Gründe der Klägerin, insbesondere auch mit Blick auf die Risikoschwangerschaft, sind nicht gegeben. Aussagekräftige ärztliche Atteste, geschweige denn aktuelle Atteste, liegen nicht vor, so dass weiterhin auf die Ausführungen im Gerichtsbescheid vom 27. Oktober 2020 verwiesen werden kann. Dort ist auch schon ausgeführt, dass eine eventuelle Gefahr für die Leibesfrucht infolge einer drohenden bzw. während der Abschiebung, ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis ist, das ebenso wie damit zusammenhängende familiäre Gründe nicht im vorliegenden Verfahren, sondern gegenüber der Ausländerbehörde in einem gesonderten Verfahren geltend zu machen wären (VG Würzburg, G.v. 27.10.2020 – W 8 K 20.31115 – juris Rn. 21 ff.)
Auch die Covid-19-Pandemie rechtfertigt keine Beurteilung. Insoweit kann auf die betreffenden Ausführungen im Sofortverfahren Bezug genommen werden (VG. Würzburg, B.v. 6.10.2020 – W 8 S 20.31116 – juris Rn. 14 ff.). Dort ist insbesondere ausgeführt, dass zum einen die Klägerin keinerlei konkrete Angaben gemacht hat, die das Bestehen einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Gefahr einer Ansteckung oder gar eines schweren oder lebensbedrohlichen Verlaufs begründen könnten, und dass zum anderen der algerische Staat diverse Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie getroffen hat (vgl. dazu auch noch BAMF, Länderinformation – Algerien, Gesundheitssystem und Covid-19-Pandemie, Dezember 2020; WKO, Coronavirus: Situation in Algerien, vom 7.1.2021).
Rechtswidrig ist jedoch, dass in Nr. 6 des streitgegenständlichen Bescheides vom 16. September 2020 gegenüber der Klägerin verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot mit einer Dauer von 30 Monaten. Dieses verletzt die Klägerin in ihren Rechten, so dass der Bescheid insoweit aufzuheben war (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 AufenthG ist als einheitliche Entscheidung zu sehen, die mit der Anfechtungsklage anzugreifen ist (OVG Bln-Bbg, U.v. 6.7.2020 – OVG 3 B 2/20 – juris Rn. 16 f.).
Bei der Bemessung der Frist nach § 11 Abs. 3 AufenthG ist vom maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz AsylG) auszugehen. Die Behörde, hier das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat eine sachgerechte Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse, den Ausländer eine gewisse Zeit vom Bundesgebiet fernzuhalten, und den privaten Interessen des Ausländers an einer baldigen Wiedereinreise und einem erneuten Aufenthalt in Deutschland zu treffen. In diese Abwägung sind die persönlichen Belange des Ausländers umfassend einzustellen, soweit sie der Behörde bekannt geworden sind und Einfluss darauf haben, wie schwer dem Ausländer das Einreise- und Aufenthaltsverbot im konkreten Einzelfall trifft. Das gilt im Lichte der Wertentscheidung aus Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 7 GRCh in besonderer Weise für schutzwürdige familiäre Belange. Je stärker die Bindungen sind desto gravierender stellt sich für den Ausländer der Eingriff in seine Rechte auf Achtung des Privatlebens dar (OVG Bln-Bbg, U.v. 6.7.2020 – OVG 3 B 2/20 – juris Rn. 36 und 41, vgl. schon VG Würzburg, G.v. 8.12.2015 – W 6 K 15.30722 – juris Rn. 27).
Auch wenn nach der Rechtsprechung grundsätzlich die Heranziehung des Mittelwertes von 30 Monaten zur Orientierung rechtlich nicht zu beanstanden ist, gilt etwas anderes, wenn wie hier besondere persönliche, insbesondere familiäre Belange eine kürzere Frist rechtfertigen und nahelegen. Das Bundesamt ist dabei gehalten, seine Ermessenserwägungen auch nach seiner Entscheidung unter Kontrolle zu halten und im Fall einer wesentlichen Änderung der Sachlage bis zur mündlichen Verhandlung seine Ermessenserwägungen nach § 114 Satz 2 VwGO entweder zu ergänzen oder die verfügte Frist gegebenenfalls zu korrigieren (VG Berlin, U.v. 30.10.2020 – 3 K 23/18 A – juris Rn. 48 f.; OVG SH, B.v. 21.9.2020 – 5 LA 40/20 – juris Rn. 16).
Zu den bei der Entscheidung über die Fristlänge zu berücksichtigenden Belange gehören gerade länger andauernde familiäre Belange, wie eine Eheschließung oder die zu erwartende Geburt eines Kindes, für das die Vaterschaft anerkannt ist. Gerade, wenn die Wiedereinreisesperre zu einer Beschränkung des Umgangs mit einem Kind, vor allem mit einem Kleinkind führt, sind an die Befristungsentscheidung besondere Anforderungen zu stellen, insbesondere ist auch auf das Wohl des Kindes abzustellen (vgl. Maor in BeckOK, Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 28. Edition Stand: 1.1.2021 Rn. 24).
Demnach war und ist hier nicht nur zu berücksichtigen, dass der religiös verheiratete Ehemann der Klägerin die Vaterschaft über das noch nicht geborene Kind anerkannt hat, sondern auch, dass die Klägerin infolge ihrer Risikoschwangerschaft schon vor der Geburt und insbesondere auch nach der Geburt auf die Hilfe und Unterstützung des Ehemannes bzw. Vater des Kindes angewiesen sein kann.
Unabhängig davon ist darüber hinaus vorliegend die Ehe nicht von vornherein ohne Belang auch, wenn sie nur nach religiösem Ritus geschlossen wurde. Denn abzustellen ist darauf, ob die Ehe nach dem Recht des Herkunftsstaates (ius fori) wirksam und gültig ist. Eine Heirat nach religiösem Ritus reicht aus, wenn nach dem Heimatrecht die Registrierung der Heirat lediglich deklaratorische Bedeutung hat (vgl. Schröder in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 26 AsylG Rn. 9; vgl. auch Günther in BeckOK, Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 28. Edition Stand: 1.1.2021, § 26 AsylG Rn. 8). Maßgeblich ist demnach die Eheschließung nach dem Recht des Staates, dem der betreffende Ehepartner angehört, hier also nach syrischem Recht bzw. nach algerischem Recht. Es spricht vieles dafür, dass die Eheschließung vorliegend wirksam und gültig ist, weil eine fehlende Mitwirkung des syrischen Staates nicht die Wirksamkeit der Eheschließung hindert. Vielmehr sind die Eheschließung und die nachträgliche Registrierung unterschiedliche Vorgänge. Letztere hat nur deklaratorischen Charakter (siehe VG Berlin, U.v. 6.7.2020 – 4 K 769/16 A – InfAuslR 2020, 459 – juris Rn. 17 f. mit Bezug auf Max-Planck-Gesllschaft, Forschungsgruppe „Das Recht Gottes im Wandel“ am Max-Planck-Institut, Kommentar zum Familienrecht in Syrien, Das syrische Familienrecht: Die Ehe, abrufbar unter https://www.familienrecht-in-nahost.de/8555/Syrien-Kommentar-Ehe). Der Klägerbevollmächtigte hat zudem angegeben, dass das Gleiche für Algerien gelte.
Den Aspekt der religiös geschlossenen Eheschließung hat die Beklagte im streitgegenständlichen Bescheid bei der Befristung ausdrücklich nicht für ermessenserheblich beachtet. Den weiteren Aspekt betreffend die Anerkennung der Vaterschaft konnte sie zum Zeitpunkt des Bescheidserlasses noch nicht berücksichtigen. Beide Gründe sind aber ermessensrelevant und geeignet, im speziellen Fall der Klägerin nach den vorliegenden Gesamtumständen bei sachgerechter Ermessensausübung eine deutlich geringere Frist zu ermöglichen.
Abschließend merkt das Gericht an, dass die vorstehenden Gesichtspunkte als mögliche inlandsbezogene Abschiebungshindernisse auch für die Ausländerbehörde relevant sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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