Verwaltungsrecht

Verwaltungsgerichte, Zulassungsantrag, Rechtskraftwirkung, Verwaltungsgerichtsverfahren, Luftverkehrsrecht, Zulassungsverfahren, Streitwertfestsetzung, Materielle Rechtskraft, Antizipiertes Sachverständigengutachten, Zweitbescheid, Verwaltungsgerichtsurteile, Medizinisches Gutachten, Rechtskräftige Urteile, Kostenentscheidung, Sach- und Rechtslage, Ernstliche Zweifel, Vorerkrankung, Verwaltungsverfahren, Restitutionsklage, Verfassungskonforme Auslegung

Aktenzeichen  8 ZB 20.2265

Datum:
11.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 2848
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 121 Nr. 1, § 124 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 3, § 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2
LuftPersV § 10 Abs. 1 Satz 1, § 16, § 45 Abs. 1 Satz 3
VO (EU) Nr. 1178/2011

 

Leitsatz

Verfahrensgang

M 31 K 20.1634 2020-09-01 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 7.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Kläger, der seit dem Jahr 1991 an insulinpflichtigem Diabetes mellitus Typ 1 leidet, begehrt die Erneuerung der Passagierberechtigung für Luftsportgeräteführer. Er verfügt über einen unbefristet gültigen Luftfahrerschein für die Luftsportgeräteart Sprungfallschirm.
Nach Ablauf der erstmals am 23. Mai 1993 erteilten und danach befristet – zuletzt bis zum 3. Juli 2013 – verlängerten Passagierberechtigung lehnte die Beklagte den Verlängerungsantrag des Klägers mit Blick auf seine Erkrankung mit Bescheid vom 23. Juli 2013 ab. Der Widerspruch blieb erfolglos. Die hiergegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht des Saarlandes mit Urteil, das aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 8. Mai 2015 ergangen ist, abgewiesen (Az.: 6 K 843/14). Den Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes mit Beschluss vom 27. Juni 2016 abgelehnt (Az.: 1 A 141/15).
Mit Schreiben vom 28. August 2019 beantragte der Kläger bei der Beklagten unter Vorlage eines medizinischen Gutachtens vom 19. Juni 2019 erneut die Wiedererteilung der Passagierberechtigung. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 7. September 2019 ab. Den dagegen gerichteten Widerspruch des Klägers wies das Luftfahrt-Bundesamt mit Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 2020 zurück.
Die hiergegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht München nach Verweisung des Rechtsstreits durch das Verwaltungsgericht Braunschweig (Beschluss vom 31.3.2020, Az. 2 A 71/20) mit Urteil vom 1. September 2020 abgewiesen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Rechtskraft des vorhergehenden Urteils einer materiellen Prüfung entgegenstehe. Die Sach- und Rechtslage habe sich nicht geändert, auch nicht durch Vorlage eines weiteren medizinischen Gutachtens. Unabhängig davon sei die Klage auch deshalb unbegründet, weil der Kläger die erforderliche Tauglichkeit als Luftfahrzeugführer in Bezug auf die Durchführung von Tandemsprüngen nicht besitze. Mangels ausdrücklich normierter Kriterien seien die Maßstäbe aus der Verordnung (EU) Nr. 1178/2011 der Kommission vom 3. November 2011 zur Festlegung technischer Vorschriften und von Verwaltungsverfahren in Bezug auf das fliegende Personal in der Zivilluftfahrt gemäß der Verordnung (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 311 vom 25.11.2011, S. 1) (im Folgenden VO (EU) Nr. 1178/2011) sowie die dazu auf europäischer Ebene erlassenen Verwaltungsvorschriften entsprechend heranzuziehen. Daraus ergebe sich, dass beim Kläger angesichts der krankheitsbedingt potentiell gesteigerten Gefährdung von Leib und Leben der Passagiere von einer Untauglichkeit auszugehen sei.
Mit seinem Zulassungsantrag verfolgt der Kläger sein Rechtsschutzbegehren weiter.
II.
Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg. Die von dem Kläger geltend gemachten Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 3 VwGO sind nicht hinreichend dargelegt oder liegen nicht vor (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO).
1. Aus dem Vorbringen des Klägers ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils in diesem Sinn bestehen nur, wenn einzelne tragende Rechtssätze oder einzelne erhebliche Tatsachenfeststellungen des Erstgerichts durch schlüssige Gegenargumente infrage gestellt werden (BVerfG, B.v. 13.5.2020 – 1 BvR 1521/17 – juris Rn. 10; B.v. 16.7.2013 – 1 BvR 3057/11 – BVerfGE 134, 106 = juris Rn. 36). Der Rechtsmittelführer muss darlegen, warum die angegriffene Entscheidung aus seiner Sicht unrichtig ist. Dazu muss er sich mit den entscheidungstragenden Annahmen des Ersturteils auseinandersetzen und im Einzelnen dartun, in welcher Hinsicht und aus welchen Gründen diese Annahmen ernstlichen Zweifeln begegnen (OVG NW, B.v. 15.4.2020 – 1 A 2501/18 – juris Rn. 8; BayVGH, B.v. 6.8.2019 – 20 ZB 18.2418 – juris Rn. 2; Seibert in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 206). „Darlegen“ im Sinne der § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO erfordert mehr als einen nicht näher spezifizierten Hinweis auf das behauptete Vorliegen eines Zulassungsgrundes, sondern schon nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ein „erläutern“, „erklären“ oder „näher auf etwas eingehen“. Erforderlich ist eine substanziierte Auseinandersetzung mit dem Ersturteil, durch die der Streitstoff durchdrungen und aufbereitet wird (BayVGH, B.v. 15.6.2020 – 8 ZB 19.1426 – juris Rn. 13 m.w.N.; NdsOVG, B.v. 24.3.2017 – 8 LA 197/16 – InfAuslR 2017, 245 = juris Rn. 3; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 63).
1.1 Der Zulassungsantrag zieht die verwaltungsgerichtlichen Ausführungen, wonach einer materiell-rechtlichen Prüfung die Bindungswirkung des rechtskräftigen Urteils des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 8. Mai 2015 (Az.: 6 K 843/14) entgegensteht (§ 121 Nr. 1 VwGO), nicht ernstlich in Zweifel (vgl. zu den Rechtskraftwirkungen im Fall einer abgewiesenen Verpflichtungsklage bei Erlass eines Zweitbescheids Brandt in Brandt/Domgörgen, Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, 4. Aufl. 2018, P. Entscheidungen, Rn. 251 m.w.N.). In dem Urteil wird im Einzelnen nachvollziehbar ausgeführt, dass Streitgegenstand des früheren Verfahrens der Anspruch des Klägers auf Erlass des beantragten Verwaltungsaktes (Erteilung der Passagierberechtigung für Luftsportgeräteführer an den Kläger) war und dass nunmehr ein entsprechendes Begehren streitgegenständlich ist, das lediglich mit einem neuerlichen Antrag gegenüber der Behörde geltend gemacht wurde, die daraufhin einen Zweitbescheid erlassen hat. Gründe für eine Durchbrechung der Rechtskraft wurden vom Verwaltungsgericht geprüft und in nachvollziehbarer Weise verneint. Dabei wurde im Einzelnen dargelegt, warum sich die Sach- und Rechtslage nicht entscheidungserheblich geändert hat.
Die dem Ersturteil zugrundeliegenden Ausführungen zur materiellen Rechtskraft greift der Zulassungsantrag nicht an. Der Kläger macht insofern lediglich geltend, das Ausgangsurteil des Verwaltungsgerichts des Saarlandes sowie der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes seien nichtig, weil sie an schwerwiegenden Mängeln litten. Neben inhaltlichen Unrichtigkeiten in Bezug auf die Flugdauer eines Tandemsprungs (nur etwa 6 Minuten und nicht 20 bis 30 Minuten) bemängelt er die unterbliebene Beweiserhebung in erster Instanz. Nach seinem Dafürhalten hätte das Verwaltungsgericht im ersten Verfahren ein medizinisches Gutachten einholen müssen.
1.1.1 In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass ein verwaltungsgerichtliches Urteil lediglich in besonderen Ausnahmefällen nichtig sein kann (vgl. BayVGH, B.v. 18.11.1980 – 22 B 80 A.796 – BayVBl 1983, 502; BGH, U.v. 14.7.1994 – IX ZR 193/93 – BGHZ 127, 74 = juris Rn. 8; U.v. 4.4.2014 – V ZR 110/13 – NJW-RR 2014, 903 = juris Rn. 7; Wolff in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 107 Rn. 32 ff. m.w.N.), was zur Folge hat, dass es keine materielle Rechtskraftwirkung entfaltet (vgl. BayVGH, B.v. 18.11.1980 – 22 B 80 A.796 – a.a.O.; Kraft in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 107 Rn. 20 m.w.N.). Abgesehen von extremen Ausnahmen (vgl. etwa zu Nichturteilen im Zivilrecht Braun/Heiß in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 578 Rn. 4 ff. m.w.N. und zum abschließenden Charakter des § 153 VwGO Rennert, in: Eyermann, VwGO, § 153 Rn. 3; Rudisile in Schoch/Schneider, VwGO, Stand: Juli 2020, § 153 Rn. 8) können Entscheidungen jedoch nur im Rahmen der dagegen vorgesehenen Rechtsbehelfe, nicht aber in jeder Lage eines Verfahrens darauf überprüft werden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für ihren Erlass erfüllt sind (vgl. BGH, U.v. 14.7.1994 – IX ZR 193/93 – a.a.O.; B.v. 11.4.2018 – XII ZB 487/17 – NJW 2018, 2047 = juris Rn. 18, m.w.N.; VGH BW B.v. 12.5.1993 – 2 S 732/93 – juris). In Frage kommt hier gemäß § 153 VwGO eine Nichtigkeitsklage (§ 579 ZPO) oder eine Restitutionsklage (§ 580 ZPO), für die gemäß § 153 VwGO i.V.m. § 584 Abs. 1 ZPO das Verwaltungsgericht des Saarlandes selbst ausschließlich zuständig wäre (u.U. auch das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes, soweit sich die Wiederaufnahme zugleich gegen dessen Entscheidung richten sollte).
1.1.2 Im Übrigen sind die Voraussetzungen für eine solche Unwirksamkeit des rechtskräftigen Urteils des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom Kläger im Zulassungsverfahren nicht dargelegt worden und auch sonst nicht ersichtlich. Wegen des im Rechtsstaatsgebot fußenden Grundsatzes der Rechtssicherheit kommt eine Nichtigkeit nur in besonderen Ausnahmefällen (vgl. oben 1.1.1) in Betracht. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass die Gewährleistung der Rechtssicherheit ein wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips ist. Sie verlangt den gesicherten Abschluss eines Rechtsfindungsverfahrens, auch im Verwaltungsprozessrecht. Mit diesen Grundsätzen ist die rückwirkende Beseitigung eines Rechtsspruches aus den hergebrachten Wiederaufnahmegründen vereinbar, nicht dagegen „einen in aller Form abgeschlossenen Fall nachträglich aus solchen Gründen zu erneuter Entscheidung zu stellen, die nach althergebrachter und unbestrittener Rechtsüberzeugung zur Begründung eines Wiederaufnahmeverfahrens nicht geeignet sind“ (BVerfG, U.v. 1.7.1953 – 1 BvL 23/51 – BVerfGE 2, 380/403 f.). Rechtsfriede und Rechtssicherheit sind vielmehr „von so zentraler Bedeutung für die Rechtsstaatlichkeit, dass um ihretwillen die Möglichkeit einer im Einzelfall vielleicht unrichtigen Entscheidung in Kauf genommen werden muss“ (BVerfG, U.v. 1.7.1953 – 1 BvL 23/51 – a.a.O.). Als Nichtigkeitsgründe für ein Urteil kommen daher allenfalls Fehler von ganz erheblichem Gewicht in Betracht, die in § 153 i.V.m. §§ 578 ff. ZPO grundsätzlich abschließend geregelt sind (vgl. Rennert, in: Eyermann, VwGO, § 153 Rn. 3; Rudisile in Schoch/Schneider, VwGO, § 153 Rn. 8 m.w.N.). Die Fehlerhaftigkeit des Urteils muss so erheblich sein, dass es aus Gründen der materiellen Gerechtigkeit oder aus sonstigen überwiegenden rechtsstaatlichen Gründen keine Gestaltungswirkung hat, d.h. keine Rechtswirkungen gegenüber den Beteiligten entfaltet (vgl. Wolff in Sodan/Ziekow, VwGO, § 107 Rn. 33 m.w.N.).
Nicht ausreichend sind dafür inhaltliche Unrichtigkeiten, wie etwa hier die geltend gemachte (vermeintlich) fehlerhafte Annahme, ein Fallschirmflug dauere 20 bis 30 Minuten und nicht lediglich 6 Minuten. Worin die Schwere eines solchen Mangels liegen soll, die die Nichtigkeit des Urteils rechtfertigen müsste, wurde im Zulassungsverfahren nicht dargelegt. Hinzukommt, dass sich – entgegen dem Zulassungsvorbringen – keine derartigen Ausführungen im Urteil des Verwaltungsgerichts des Saarlandes finden. Vielmehr ist in den Gründen an der zitierten Stelle (UA S. 9; vgl. zudem UA S. 4 f.) davon die Rede, dass ausweislich bestimmter fachärztlicher Bescheinigungen die Gefahr einer Unterzuckerung „sich auch innerhalb der 20 bis 30 Minuten, die ein Flug einschließlich des Absprungs in Anspruch nimmt, und sogar innerhalb der ca. 6 Minuten, des Fallschirmsprungs selbst realisieren kann“. Diesen Sachverhalt hat auch das Oberverwaltungsgericht zugrunde gelegt (UA S. 4). Beide sind auf der Grundlage der ärztlichen Auskünfte davon ausgegangen, dass eine Unterzuckerung in dem Zeitraum des Sprungs, der etwa 6 Minuten dauert, auftreten kann (vgl. auch Attest Dr. B …Dr. K vom 26.11.2014). Entgegen dem Zulassungsvorbringen wurde daher auf diese Zeitspanne abgestellt. Somit fehlt es auch an der Darlegung eines inhaltlichen Fehlers in der Zulassungsbegründung.
Entsprechendes gilt für das Vorbringen des Klägers, das Verwaltungsgericht des Saarlandes hätte ein fachärztliches Gutachten einholen müssen. Der Zulassungsantrag legt nicht dar, inwiefern ein zur Nichtigkeit des Urteils führender Verfahrensfehler vorgelegen habe, sondern behauptet einen solchen lediglich. Nachdem sich das Oberverwaltungsgericht im Beschluss vom 27. Juni 2016 mit dem damaligen klägerischen Vortrag, das Verwaltungsgericht habe nicht über die notwendige medizinische Kompetenz verfügt, im Einzelnen auseinandergesetzt und näher begründet hat, warum kein Zulassungsgrund vorgelegen hat, hätte erst Recht Anlass zu einer näheren Darlegung der Fehlerhaftigkeit bestanden. Hinzu kommt, dass eine Verletzung der Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO durch fehlerhaftes Unterlassen einer bestimmten Beweisaufnahme (§ 98 VwGO i.V.m. §§ 358 ff. ZPO) nach den dargelegten Maßstäben regelmäßig nicht zur Nichtigkeit einer Entscheidung führen kann. In einem solchen Fall überwiegen weder Gründe der materiellen Gerechtigkeit noch sonstige rechtsstaatliche Gründe. Eine Ausnahme von den zentralen rechtsstaatlichen Grundprinzipien des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit ist nicht gerechtfertigt. Damit setzt sich das Zulassungsvorbringen ebenfalls nicht auseinander.
Angesichts der Tatsache, dass das Urteil bereits auf die fehlende materielle Prüfungsbefugnis des Verwaltungsgerichts aufgrund der Rechtskraftwirkung gestützt wurde, greift der Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel nicht ein.
1.2 Unabhängig davon ist auch die im Rahmen einer weiteren Urteilsbegründung festgestellte fehlende Tauglichkeit des Klägers nicht ernstlich zweifelhaft.
Das Verwaltungsgericht hat mangels ausdrücklicher Regelungen im Luftverkehrsrecht nachvollziehbar die Regelungen der VO (EU) Nr. 1178/2011 sowie die dazu von der European Aviation Safety Agency erlassenen Regelungen („Acceptable Means of Compliance and Guidance Material to Part-MED1 Initial issue“ vom 15.12.2011, abgerufen am 25.1.2021, https://www.easa.europa.eu/document-library/acceptable-means-of-compliance-and-guidance-materials) zur Bildung von Maßstäben für die gesundheitliche Tauglichkeit eines Tandemfallschirmspringers herangezogen. Anhand der so entwickelten Kriterien hat es, unter Würdigung der Gesamtumstände, einen Anspruch des Klägers auf Erteilung der Passagierberechtigung aufgrund von dessen Vorerkrankung zu Recht verneint.
Der klägerische Einwand, aus dem Fehlen ausdrücklich normierter Tauglichkeitskriterien für diese Fallgruppe folge, dass lediglich der Betroffene seine Flugtauglichkeit in Eigenverantwortung einschätzen müsse, überzeugt nicht. Der Kläger erkennt selbst an, dass die Flugtauglichkeit Voraussetzung für die Durchführung von Tandemsprüngen ist. Dem entsprechend legt § 16 Abs. 1 Nr. 2 der Verordnung über Luftfahrtpersonal (i.d.F.d. Bek. v. 13.2.1984, BGBl. I S. 265, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.4.2020, BGBl. I S. 840 – LuftPersV) fest, dass die Ausbildung von erlaubnispflichtigem Personal nur zulässig ist, wenn der Bewerber tauglich ist, sofern die Tauglichkeit der Tätigkeit nach gefordert ist. § 10 Abs. 1 Satz 1 LuftPersV regelt, dass für die Erneuerung einer Erlaubnis, einschließlich der Berechtigungen, die Voraussetzungen des § 16 LuftPersV fortbestehen müssen. Nach § 45 Abs. 1 Satz 3 LuftPersV darf der Inhaber eines Luftfahrerscheins für sonstige Luftsportgeräte (wie etwa Fallschirme) die Rechte aus dem Luftfahrerschein nicht ausüben, wenn er eine Einschränkung seiner Tauglichkeit feststellt, aus der sich Zweifel an der sicheren Ausübung seiner Rechte ergeben könnten. Das Verwaltungsgericht hat dies zutreffend dargelegt und auch zu Recht auf die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG resultierende Schutzpflicht des Staates für Leib und Leben abgestellt. Eine verfassungskonforme Auslegung der Normen des Luftverkehrsrechts gebietet es danach, effektive Vorkehrungen zu treffen, um Teilnehmer an Tandemsprüngen davor zu bewahren, mit einem nicht ausreichend tauglichen Luftsportgeräteführer zu springen. Dem entsprechend begegnet es keinen Bedenken, sowohl vor der Erteilung als auch vor der Verlängerung einer Passagierberechtigung einen Tauglichkeitsnachweis zu fordern, vor allem wenn die Tauglichkeit – wie im Fall des Klägers – aufgrund einer schwerwiegenden Vorerkrankung in Zweifel steht. Allein aus dem Fehlen ausdrücklicher Regelungen kann nicht darauf geschlossen werden, dass keine behördlichen Anforderungen inhaltlicher Art an die generelle Tauglichkeit bei Vorerkrankungen gestellt werden dürften. Ob in anderen EU-Ländern gleiche Maßstäbe gelten, kann dahinstehen. Im Zulassungsvorbringen wird anerkannt, dass die Regulierung dem nationalen Recht unterliegt. Ausländische Stellen sind aber nicht den grundgesetzlichen Maßstäben unterworfen. Ebenso kann offengelassen werden, wem die Kompetenz zum Erlass von Regelungen über medizinische Rahmenbedingungen in diesen Fällen obliegt. Es mag zutreffen, dass der Deutsche Fallschirmsportverband e.V. vom Gesetzgeber nicht ermächtigt worden ist, Rechtsverordnungen zu erlassen, die die Tauglichkeitskriterien näher bestimmen, sondern das Luftfahrt-Bundesamt (§ 6 Nr. 1 LuftPersV). Davon zu trennen ist aber die Möglichkeit, verwaltungsinterne Regelwerke zu erstellen, etwa in Form von antizipierten Sachverständigengutachten oder ermessenslenkenden Richtlinien. Diesen im Zulassungsverfahren aufgeworfenen Fragen muss aber nicht näher nachgegangen werden, weil das Verwaltungsgericht festgestellt hat, dass keine Rechtsverordnungen zur Regelung der Tauglichkeitsvoraussetzungen erlassen wurden und es (nationale) verwaltungsinterne Regelwerke, etwa das vom Kläger zitierte Tandemhandbuch des Deutschen Fallschirmsportverbands e.V., nicht zur Bestimmung der Tauglichkeitskriterien herangezogen hat. Vielmehr hat es die Maßstäbe aus der entsprechenden Heranziehung der VO (EU) Nr. 1178/2011 sowie aus den dazu von der European Aviation Safety Agency erlassenen verwaltungsinternen Regelungen in nicht zu beanstandender Weise abgeleitet. Gegen die Maßstabsbildung, die im Urteil ausführlich und nachvollziehbar begründet wurde, richtet sich das Zulassungsvorbringen nicht.
Soweit der Kläger im Schriftsatz vom 26. Januar 2021 erneut auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 30. April 2009 (Az.: 13444/04) Bezug nimmt, erfolgte dies nicht innerhalb der Frist des § 124 Abs. 4 Satz 4 VwGO und genügt zudem nicht den Darlegungsanforderungen. Differenzierungen sind danach auch nach den Maßstäben der EMRK zulässig, wenn sie auf einer objektiven Einschätzung grundlegend unterschiedlicher Tatsachen beruhen und wenn ein gerechter Ausgleich zwischen den Interessen der Gemeinschaft und der Achtung der Konventionsrechte geschaffen wurde, wobei den Staaten ein gewisser Ermessensspielraum verbleibt, abhängig vom Einzelfall (EGMR, U.v. 30.4.2009 – 13444/04 – Glor./.Schweiz, abrufbar über den Internetauftritt des Bundeskanzleramts Österreichs, abgerufen am 21.1.2021, 10.45 Uhr unter: https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Justiz/JJT_20090430_AUSL000_000BSW13444_0400000_000/JJT_20090430_AUSL000_000B). Worin hier eine Diskriminierung liegen soll, wenn anhand fachlicher Erfordernisse und unter Heranziehung luftverkehrsrechtlicher Maßstäbe von einer schwerwiegenden Vorerkrankung des Klägers auf die mangelnde Tauglichkeit für die Durchführung von Tandemsprüngen geschlossen wird, wurde von ihm nicht näher dargelegt. Ergänzend kann auf den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 27. Juni 2016 über seinen Zulassungsantrag (Az.: 1 A 141/15 – juris Rn. 18) verwiesen werden, das im Einzelnen ausgeführt hat, warum die Fälle nicht vergleichbar sind und keine Diskriminierung vorliegt. Damit hat sich der Kläger ebenfalls nicht näher auseinandergesetzt.
2. Der Berufungszulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegt ebenfalls nicht vor. Besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten im Sinn dieser Bestimmung weist eine Rechtssache auf, wenn die Beantwortung der für die Entscheidung erheblichen Fragen in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht voraussichtlich das durchschnittliche Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten bereitet, wenn sich diese also wegen ihrer Komplexität und abstrakten Fehleranfälligkeit aus der Mehrzahl der verwaltungsgerichtlichen Verfahren heraushebt (vgl. BayVGH, B.v. 3.11.2011 – 8 ZB 10.2931 – BayVBl 2012, 147/149 = juris Rn. 28; B.v. 10.4.2017 – 15 ZB 16.673 – juris Rn. 42 jew. m.w.N.).
Das ist nicht der Fall. Die aufgeworfenen, entscheidungserheblichen Rechtsfragen lassen sich entweder anhand der obergerichtlichen und höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. oben Nr. 1.1) oder durch Heranziehung der gängigen Auslegungsmethoden lösen (vgl. oben Nr. 1.2). Besondere tatsächliche Schwierigkeiten stellen sich ebenfalls nicht.
Weder der Umstand, dass das Luftrecht in der gerichtlichen Praxis eine eher seltene Rechtsmaterie darstellen mag, noch die Konstellation, dass sich Rechtsfragen erst aus dem Zusammenspiel von Europarecht, Verfassungsrecht und einfachem Recht beantworten lassen, stellen Umstände dar, die zu Schwierigkeiten führen, die das durchschnittliche Maß nicht unerheblich überschreiten.
3. Die Berufung ist auch nicht wegen einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen.
Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache zu, wenn eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblich, bislang höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht geklärt und über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus bedeutsam ist; die Frage muss ferner im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts einer berufungsgerichtlichen Klärung zugänglich sein und dieser Klärung auch bedürfen (BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – NVwZ 2016, 1243 = juris Rn. 20; BVerwG, B.v. 4.8.2017 – 6 B 34.17 – juris Rn. 3 zu § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
Daran fehlt es hier. Die im Zulassungsantrag formulierte Frage, ob „ein Luftsportgeräteführer in der Klasse unter 120 kg, konkret ein Fallschirmspringer, wenn er (auch aus medizinischer Sicht) nachweislich flugtauglich und gleichzeitig Diabetiker mit insulinpflichtigem Diabetes Typ 1 ist, Passagierflüge mit einem Tandemfallschirm durchführen (darf)“, ist eine Frage des Einzelfalls und einer allgemeingültigen Klärung in einem Berufungsverfahren nicht zugänglich. Mangels ausdrücklicher normativer Vorgaben kommt es zur Beurteilung der Tauglichkeit (vgl. oben Nr. 1.1) auf eine Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalles an. Angesichts der Verantwortung eines Tandempiloten für Leib und Leben müssten zur Beurteilung, ob nicht mehr hinnehmbar Gefahren für mitfliegende Passagiere entstehen, alle konkreten Umstände einbezogen werden. Dementsprechend legt der Kläger im Schriftsatz vom 26. Januar 2021 auch die näheren Umstände seiner Erkrankung im Einzelnen dar.
Vor allem aber kommt es auf die vom Kläger formulierte Frage nach der (ebenfalls) tragenden Begründung des Verwaltungsgerichts, eine materielle Prüfung sei wegen der Rechtskraftwirkung nicht zulässig (vgl. oben Nr. 1.1), nicht an.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG und orientiert sich an Nr. 26.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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