Verwaltungsrecht

Volljährig gewordener armenischer Asylbewerber, Einreise als Minderjähriger im Familienverband aus wirtschaftlichen und medizinischen Gründen, Schwerstbehinderung (infantile Cerebralparese u.a.), Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet, Abschiebungsverbote, Zugang zu medizinischer Versorgung und zu Ganztagespflegeeinrichtungen in Armenien, Lebensunterhaltssicherung in Armenien, Hilfsmittelversorgung bei Behinderung dient nicht der Abwendung erheblicher Gesundheitsgefahren, Rückkehrprognose

Aktenzeichen  Au 6 K 21.30604

Datum:
18.1.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 3452
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5 und Abs. 7

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 26. März 2019 ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
1. Dem Kläger steht kein Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dies ist auch der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – Asylmagazin 2015, 197) und die aus zu erwartenden schwierigen Lebensbedingungen resultierenden Gefährdungen im Einzelfall eine solche Intensität aufweisen, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist. Die Gefahren müssen ein Mindestmaß an Schwere unter Berücksichtigung der Gesamtumstände aufweisen. Eine bloße Verschlechterung der Lebensumstände oder Verringerung der Lebenserwartung im Zielstaat gegenüber den Verhältnissen im Aufenthaltsstaat genügt nicht; es muss sich vielmehr um einen so außergewöhnlichen Fall handeln, dass humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11.19 – NVwZ 2021, 327 ff. Rn. 10 f.).
Für die Prognose der bei Rückkehr in das Herkunftsland drohenden Gefahren ist in Bezug auf die einzubeziehenden Personen zu berücksichtigen, unter welchen Voraussetzungen es überhaupt zu einer Rückkehr kommen kann und wird (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.19 – juris Rn. 21, 26): Art. 6 Abs. 1 GG schützt die Familie (auch) als Solidar-, Betreuungs- und Unterstützungsverband. Bei Mitgliedern einer häuslichen und familiären Gemeinschaft ist anzunehmen, dass diese in besonderer Weise füreinander einstehen und bereit sind, ihren Lebensunterhalt auch jenseits zwingender rechtlicher Verpflichtungen gegenseitig zu sichern. Eine familiäre Lebensgemeinschaft ist eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft, bei der ein gegenseitiges Einstehen in den Not- und Wechselfällen des Lebens erwartet werden kann. Dies gilt namentlich für die familiäre Lebensgemeinschaft mit besonders schutzbedürftigen minderjährigen Kindern; denn Eltern sind zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) und haben für einen angemessenen Unterhalt des Kindes zu sorgen, zumindest aber die Existenz des Kindes auch finanziell sicherzustellen, soweit und solange sie hierzu in der Lage sind. Regelmäßig werden in einem Haushalt zusammenlebende Familienangehörige umfassend „aus einem Topf“ wirtschaften
Diese aus Art. 6 GG folgenden Unterhalts- und „Unterstützungsobliegenheiten“, die in der konkret erwartbaren Rückkehrsituation ein Familienmitglied treffen und deren Erfüllung sich notwendig – positiv wie negativ – auf den gesamten Familienverband auswirkt (z.B. Anforderung an „familientaugliche“ Unterkunftsverhältnisse, Versorgungsprobleme, geringere räumliche Flexibilität), prägen zumindest normativ die Rückkehrsituation (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.19 – juris Rn. 27): Es ist bei bestehender familiärer Gemeinschaft im Regelfall davon auszugehen, dass sich der einzelne Rückkehrer nicht nur in der verfassungsrechtlich gestützten Rechtspflicht zur Unterhaltsgewähr und Versorgung, sondern auch in einer entsprechenden sittlich-moralischen Pflicht sieht. Bei der Rückkehr im Familienverband, bei der lediglich ein Familienmitglied sein eigenes Existenzminimum (notdürftig) sichern könnte, nicht aber das seiner Angehörigen, steht dieses vor der Alternative, entweder unter Verletzung seiner Familienobliegenheiten zunächst vollständig seine eigene Existenz (hinreichend) zu sichern und dafür auch die tatsächliche Existenzgefährdung oder eine konventionswidrige Situation der von ihm abhängigen Angehörigen in Kauf zu nehmen oder unter dem Eindruck der in ihrer Existenz gefährdeten Familienmitglieder auf die hinreichende Sicherung der eigenen Existenz durch „Teilen“ mit Familienangehörigen auch dann zu verzichten, wenn dies zu einer konkret drohenden Verletzung von Leib, Leben oder der Freiheit der eigenen Person führt. Entscheidet er sich für Letzteres, handelt es sich nicht um eine „freiwillige Selbstgefährdung“, die eine „außergewöhnliche Notlage“ im Sinne des Art. 3 EMRK ausschließt. Art. 6 GG und Art. 8 EMRK schützen jedenfalls normativ die – für die Rückkehrprognose naheliegende – Entscheidung eines Elternteils, auf die Erfüllung grundlegender familiärer Solidarpflichten auch dann nicht zugunsten der eigenen Existenzsicherung zu verzichten, wenn damit das eigene Existenzminimum unterschritten und für die eigene Person eine mit Art. 3 EMRK unvereinbare Lage herbeigeführt wird. Die Unterschreitung auch des eigenen Existenzminimums, die in der Familiensituation aus der existenziellen Notlage für jedes einzelne Familienmitglied folgt, ist dann auch nicht eine bloß mittelbare Gefährdungssteigerung aus den „Versorgungslasten“ für nahe Familienangehörige; sie bewirkt auch nicht, dass lediglich das Schutzbedürfnis eines nahen Familienangehörigen zu einer eigenen Rechtsposition des Ausländers führt.
a) Der Kläger würde voraussichtlich nicht allein nach Armenien zurückkehren, könnte auf die mindestens vorübergehende Unterstützung seiner Eltern zählen und notfalls wäre eine Inempfangnahme des Klägers durch öffentliche armenische Stellen von Deutschland aus zu organisieren.
aa) Die o.g. Rechtsprechung vorausgeschickt, ist derzeit von einer gemeinsamen Rückkehr des Klägers mit beiden Elternteilen und beiden Geschwistern nach Armenien auszugehen, da zumindest im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) beide Elternteile vollziehbar ausreisepflichtig und zuletzt nur wegen fehlender Reisedokumente geduldet sind. Ebenso ist beiden Geschwistern des Klägers derzeit noch keine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden. Daher ist davon auszugehen, dass die beiden Eltern, wenn nicht finanziell – je nach Einkommenssituation in Armenien und Unterhaltslasten für sich und die beiden Geschwister des Klägers – so doch immateriell zur Unterhaltsgewährung verpflichtet (arg. ex § 1601, § 1602 Abs. 1, § 1603 Abs. 2 BGB) und grundsätzlich auch fähig sind. Dies gilt umso mehr, als seit der Ausreise der Familie aus Armenien über vier Jahre vergangen und die Geschwister des Klägers altersgemäß selbständiger geworden sind. Ihre vollzeitige Beaufsichtigung ist nicht mehr erforderlich; die ältere Schwester ist mit 16 Jahren altersgemäß zur Ausbildungs- und Arbeitsaufnahme fähig, Als Betreuer des Klägers stehen seine Eltern mindestens für die Zeit bis zur Einrichtung einer amtlichen Betreuung, die in Armenien möglich ist (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 4.11.2021, VG-Akte Bl. 198 ff., Antwort zu Frage 2), zur Verfügung.
In diesem Fall kann der Kläger durch seine Eltern oder einen anderen Betreuer die erforderlichen Anträge stellen und Verfahrensschritte einleiten, um einen Platz in einer Vollzeit-Pflegeeinrichtung zu erhalten. Bis dahin kann er seinen Lebensunterhalt vorübergehend neben der Behindertenrente auch aus Rückkehrförderungsleistungen bestreiten, die im Programm REAG/GARP u.a. eine einmalige finanzielle Starthilfe und im Programm StarhilfePlus eine ergänzende Unterstützung im Bereich Wohnen sowie im Programm ERRIN weitere geldwerte Unterstützung bei einer Rückkehr nach Armenien umfassen (vgl. allgemein zugänglich unter www.bamf.de mit Verweis auf Armenien – Länderinformationen [returningfromgermany.de, Abfrage 18.1.2022]).
bb) Sollte hingegen keine gemeinsame Rückkehr in Betracht kommen, falls ein Geschwisterkind oder ein Elternteil ein Aufenthaltsrecht in Deutschland erlangte, wäre dennoch mindestens einem Elternteil vorübergehend die Rückkehr mit dem Kläger nach Armenien zumutbar, um ihn dort bei der Reintegration in die Lebensverhältnisse, der Beantragung und Erlangung einer Betreuung und der Sicherstellung seiner Versorgung durch eine geeignete Einrichtung zu unterstützen. Der andere Elternteil stünde für die Betreuung der in Deutschland verbleibenden Geschwisterkinder zur Verfügung, deren wirtschaftliche Existenz ohnehin durch Sozialleistungen gedeckt ist (arg. ex § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG) und die daher nicht auf eine Erwerbstätigkeit des mitreisenden Elternteils angewiesen sind.
Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Erwerb eines etwaigen Aufenthaltsrechts eines Angehörigen in Deutschland weder diesem noch dem Kläger oder weiteren Angehörigen eine Rückkehr nach Armenien unzumutbar macht: Alle fünf Familienangehörigen sind in Deutschland nicht schutzberechtigt nach Art. 16a GG, § 3 oder § 4 AsylG und haben auch keinen Anspruch auf ein entsprechendes Aufenthaltsrecht nach § 25 Abs. 1 bis Abs. 3 AufenthG. Sie sind alle aus materiellen Gründen nach Deutschland gekommen und haben das Asylverfahren nur zur vorläufigen Erlangung eines gestatteten Aufenthalts benutzt, ohne in ihrer Heimat verfolgt zu sein. Ein aus anderen Gründen gewährtes Aufenthaltsrecht in Deutschland berechtigt die begünstigte Person zwar zum Aufenthalt in Deutschland, verpflichtet sie aber nicht dazu. Daher ist eine gemeinsame Rückkehr möglich und zumutbar.
cc) Sollte – entgegen dem Stand des Verfahrens – gar kein Mitglied der Kernfamilie des Klägers für eine gemeinsame Rückkehr in Betracht kommen, wäre eine Inempfangnahme des Klägers durch armenische Stellen von Deutschland aus zu organisieren (vgl. für medizinische Inempfangnahmen Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 21.6.2021, S. 21). Auch hierbei wären nicht nur die abschiebende deutsche Ausländerbehörde, sondern auch die unterhaltsverpflichteten Elternteile des Klägers zur Mitwirkung insbesondere durch zielführende Antragstellungen für die Errichtung einer rechtlichen Betreuung, für die Aufnahme in geeignete Pflegeeinrichtungen und für die Erlangung sozialer Hilfen wie der Behindertenrechte von Deutschland aus verpflichtet.
b) Der Kläger würde auch nicht durch eine entsprechend organisierte Rückführung in eine mit Art. 3 EMRK unvereinbare Lage geraten.
aa) Die Grundversorgung und die medizinische Versorgung sind nach Überzeugung des Gerichts für Rückkehrer nach Armenien jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums grundsätzlich gesichert.
In Armenien ist ein breites Warenangebot in- und ausländischer Herkunft vorhanden. Auch umfangreiche ausländische Hilfsprogramme tragen zur Verbesserung der Lebenssituation von benachteiligten Gruppen bei. Die Gas- und Stromversorgung ist grundsätzlich gewährleistet. Leitungswasser steht dagegen in manchen Gegenden, auch in einigen Vierteln der Hauptstadt, insbesondere während der Sommermonate, nicht immer 24 Stunden am Tag zur Verfügung. Die Wasserversorgung wird jedoch laufend verbessert. Die durchschnittliche Wasserversorgung in der Hauptstadt dürfte bei etwa 95% liegen, dies entspricht 23 Stunden täglich (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 21.6.2021, S. 17 f.).
Ein beachtlicher Teil der Bevölkerung ist nach wie vor finanziell nicht in der Lage, seine Versorgung mit den zum Leben notwendigen Gütern ohne Unterstützung durch humanitäre Organisationen sicherzustellen. Nach Schätzungen der Weltbank für 2019 leben 22,2% der Armenier unterhalb der Armutsgrenze (2016: 29,4%). Das die Armutsgrenze bestimmende Existenzminimum beträgt in Armenien ca. 60.000 armenische Dram (AMD) (beim Kurs von 620 Dram/Euro im Februar 2021 ca. 100 Euro) im Monat, der offizielle Mindestlohn 55.000 AMD (= ca. 90 Euro). Das durchschnittliche Familieneinkommen ist dagegen mangels zuverlässiger Daten nur schwer einzuschätzen. Der Großteil der Armenier geht mehreren Erwerbstätigkeiten und darüber hinaus privaten Geschäften und Gelegenheitstätigkeiten nach (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 21.6.2021, S. 17 f.).
Ein Großteil der Bevölkerung wird finanziell und durch Warensendungen von Verwandten im Ausland unterstützt: 2017 wurde laut armenischer Zentralbank ein Betrag von etwa 1,494 Mrd. USD nach Armenien überwiesen. Davon flossen knapp 900 Mio. USD aus der Russischen Föderation nach Armenien. Aufgrund der wirtschaftlichen Lage in Russland, insbesondere der starken Abwertung des russischen Rubels, gehen die Überweisungen seit 2014 kontinuierlich zurück. Auch wenn aufgrund der wirtschaftlichen Lage weiterhin ein erheblicher Migrationsanreiz besteht, ging der Überhang an Ausreisenden zurück, u.a. aus der Hoffnung auf eine entscheidende Besserung der Lebensbedingungen nach der sog. „Samtenen Revolution“. Dieser Trend dürfte sich mit der deutlichen Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage durch die Covid-19-Pandemie und der Niederlage im Berg-Karabach-Krieg in den nächsten Jahren wieder umkehren. Unter den Auswanderern befinden sich viele Hochqualifizierte, wie etwa Ärzte oder IT-Spezialisten (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 21.6.2021, S. 17). Für die Rückkehr stehen Reintegrationsprojekte im Herkunftsland Armenien zur Verfügung. 2018 sind mit Unterstützung der IOM (International Organization of Migration) etwa 650 ausgereiste Asylbewerber freiwillig nach Armenien zurückgekehrt (2017: 580). Seit Ende 2019 gibt es ein französisch-deutsches Gemeinschaftsprojekt zwischen OFII und BAMF, das die Reintegration in Deutschland abgelehnter Asylbewerber unterstützt und ihnen eine wirtschaftliche Perspektive durch Kredite für Kleinstunternehmer bieten soll. Rückkehrer können sich auch an den armenischen Migrationsdienst wenden, der ihnen mit vorübergehender Unterkunft und Beratung zur Seite steht (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 21.6.2021, S. 18).
bb) Der erwachsene, aber behinderte und nicht erwerbsfähige Kläger würde im Fall seiner Abschiebung nach Armenien keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass seine elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären. Ihm wäre eine hinreichende Existenzsicherung ohne Verletzung des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK möglich, sofern er alle erreichbare Unterstützung wahrnimmt.
Zu Art. 4 GrCH i.V.m. Art. 3 EMRK gilt, dass die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung grundsätzlich eine Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles erfordert und die besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit einer solchen Gefährdung erreicht wäre, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist selbst bei durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. zu Art. 4 GrCH i.V.m. Art. 3 EMRK BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – Rn. 19).
Der bloße Umstand, dass im Aufenthaltsstaat die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse günstiger sind als im Zielstaat der Abschiebung, führt nicht zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK (vgl. zu Art. 4 GrCH i.V.m. Art. 3 EMRK BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – Rn. 20). Art. 3 EMRK verpflichtet die Konventionsstaaten nicht, jeder ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Person ein Recht auf Unterkunft zu garantieren und birgt auch keine allgemeine Verpflichtung, Flüchtlinge finanziell zu unterstützen, damit sie ein bestimmtes Lebensniveau behalten können (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – Rn. 24). Die Gefahr einer anderweitig nicht abwendbaren existenziellen materiellen Notlage für die Einzelnen ist hier eine der staatlichen Schutzpflicht vorgelagerte Voraussetzung, nicht nur Anlass staatlicher Leistungsgewähr. Können extrem schlechte materielle Lebensverhältnisse, welche die Gefahr einer Verletzung des Art. 4 GrCH i.V.m. Art. 3 EMRK begründen, durch eigene Handlungen (zum Beispiel den Einsatz der eigenen Arbeitskraft) oder die Inanspruchnahme der Hilfs- oder Unterstützungsleistungen Dritter (seien es private Dritte, seien es nichtstaatliche Hilfe- oder Unterstützungsorganisationen) abgewendet werden, besteht schon nicht mehr die ernsthafte Gefahr einer Situation extremer materieller Not, die unter Umständen eine staatliche Schutzpflicht zu (ergänzenden) staatlichen Leistungen auslösen kann (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – Rn. 25). Neben staatlichen Unterstützungsleistungen und Möglichkeiten des Ausländers, den eigenen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit auf einem Mindestniveau zu sichern, sind auch die zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz beitragenden alleinigen oder ergänzenden dauerhaften Unterstützungs- oder Hilfeleistungen von vor Ort tätigen nichtstaatlichen Institutionen oder Organisationen zu berücksichtigen (vgl. zu Art. 4 GrCH i.V.m. Art. 3 EMRK BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – Rn. 22 f.). Die Hilfs- oder Unterstützungsleistungen vor Ort tätiger nichtstaatlicher Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen müssen dabei auch real bestehen und – ohne unzumutbare – Zugangsbedingungen hinreichend verlässlich und in dem gebotenen Umfang auch dauerhaft in Anspruch genommen werden können; dann ist auch unerheblich, dass auf sie regelmäßig kein durchsetzbarer Rechtsanspruch besteht (vgl. zu Art. 4 GrCH i.V.m. Art. 3 EMRK BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – Rn. 25).
(1) Der Kläger kann eine Behindertenrente in Armenien beziehen.
Vorliegend ist zwar die vom Kläger bezogene und wieder beziehbare Behindertenrente nicht bedarfsdeckend, da das Existenzminimum in Armenien ca. 60.000 armenische Dram (AMD) beträgt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 21.6.2021, S. 17 f.) und die Behindertenrente des damals noch minderjährigen Klägers 21.000 Dram nach Angaben seines Vaters betrug (BAMF-Akte Bl. 148 ff.). Da der Kläger nach Angaben seiner Mutter (BAMF-Akte Bl. 121 ff.) offiziell als Behinderter anerkannt war und ab seinem 18. Lebensjahr einen Behindertenausweis 1. Grades (100%) bekäme, ist davon auszugehen, dass der Kläger in Armenien nach Antragstellung weiterhin eine Behindertenrente beziehen kann.
(2) Der Kläger kann seinen restlichen Bedarf zur Lebensunterhaltssicherung jedenfalls in einer Sozialschutzeinrichtung insbesondere durch dort zugängliche Sachleistungen decken.
Zur Deckung des übrigen Bedarfs steht dem Kläger die Möglichkeit einer – von der Beklagten schon näher benannten – Pflege in den allgemeinen oder spezialisierten Sozialschutzeinrichtungen offen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 4.11.2021, VG-Akte Bl. 198 ff., Antwort zu Frage 1a).
Die Beklagte trug hierzu vor, in Armenien seien Tages- und Langzeitpflegeeinrichtungen für behinderte Menschen vorhanden (MedCOI BAM 14477 vom 16.2.2021 S. 4: 24/7 care in a nursing home im NORQ home-internat als öffentliche Einrichtung in Eriwan). Behinderte Personen erhielten zwar das „Basic Benefit Package“, das aber nur etwa die Hälfte der Kosten decke (Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH, Armenien, Medizinische Behandlungen u.a. vom 18.9.2019, S. 5 f.)
Die Sozialschutzeinrichtungen stellen eine dauerhafte oder vorübergehende Unterkunft, eine vollzeitig umfassende Pflege für Minderjährige sowie Senioren, Personen mit Behinderung sowie Kinder, die ohne die Pflege durch die Eltern zurückgeblieben sind, sicher. Die Sozialschutzeinrichtungen stellen den Pflegebedürftigen folgende Hilfsmittel zur Verfügung: notwendige Möbel, Kleidung, Unterwäsche, Schuhe (alters-, geschlechts-und wettergerecht), Bettwäsche, Hygienemittel. Die Sozialschutzeinrichtungen gewähren den Pflegebedürftigen ebenfalls: Verpflegung, primäre medizinische Versorgung, soziale und psychologische Hilfeleistung, Rechtsberatung, Prothesen, orthopädische und Rehabilitationsmittel, sozialmedizinische Expertise, Sicherstellung medizinischer Hilfeleistungen in Kliniken, Ausbildung, Bildung und Erziehung, Arbeitstherapie. Bei Unterbringung in einer Pflegeeinrichtung übernimmt die Pflegeeinrichtung die Aufenthalts- und Verpflegungskosten sowie die medizinische Versorgung und die rechtliche Betreuung für die pflegebedürftige Person (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 4.11.2021, VG-Akte Bl. 198 ff., Antwort zu Frage 1b). Daraus ergibt sich, dass über die Behindertenrente von 21.000 Dram hinaus der Bedarf des Klägers in Sozialschutzeinrichtungen gedeckt würde, selbst wenn sie für eine Pflege des Klägers außerhalb einer Pflegeeinrichtung (zum Beispiel eine Hauspflege oder eine Betreuung in einer Pflegetagesstätte) nicht ausreichen dürfte (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 4.11.2021, VG-Akte Bl. 198 ff., Antwort zu Frage 1b).
Der Kläger ließ hiergegen einwenden, das Auswärtige Amt habe nicht konkret geantwortet und insbesondere nicht, inwieweit und wann die Rückkehr des Klägers und seine anschließende stationäre und ambulante Behandlung und Unterbringung in einem Pflegeheim staatlicherseits garantiert seien. Vielmehr bestünden klägerseitig erhebliche Zweifel, ob diese für ihn jeweils erreichbar seien.
Dieser Einwand greift zur Überzeugung des Einzelrichters nicht durch. Maßgeblich für die Feststellung eines (faktisch dauerhaften) Abschiebungsverbots wäre die grundsätzliche Unerreichbarkeit der erforderlichen Unterstützung im Zielstaat der Abschiebung, aber nicht der Nachweis des konkreten Zugangs im Einzelfall. Da der Zugang von einer entsprechenden Antragstellung (dazu sogleich) und freien Kapazitäten abhängt, die derzeit nicht auf einen in der Zukunft liegenden Termin einer Rückführung prognostiziert werden können, genügt es für den Ausschluss des rechtlichen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, dass hinreichende Unterstützung tatsächlich verfügbar ist. Ob sie im Zeitpunkt der Rückführung tatsächlich zugänglich ist, muss dann als tatsächliches Abschiebungshindernis von der Ausländerbehörde geprüft und gesichert werden. An ihr und nicht an der Beklagten liegt es, die tatsächlichen Voraussetzungen einer Abschiebung zu sichern.
(3) Der Kläger kann einen Platz in einer Sozialschutzeinrichtung durch Antragstellung und unter gehöriger Mitwirkung seiner gesetzlichen Vertreter erlangen.
Das Auswärtige Amt hat zur Frage nach Verfahrensschritten vor seiner Überstellung von Deutschland aus bzw. vor Ort nach seiner Ankunft zur Sicherstellung seiner Aufnahme in der Pflegeeinrichtung ausgeführt u.a. (vgl. ausführlich Auswärtiges Amt, Auskunft vom 4.11.2021, VG-Akte Bl. 198 ff., Antwort zu Frage 1c), die pflegebedürftige Person mit Behinderung oder ihr Vertreter können Pflegeleistungen bei Einrichtungen beanspruchen, die den staatlichen Behörden oder lokalen Selbstverwaltungsorganen unterstellt sind. Sie können sich ebenfalls an Pflegeorganisationen wenden, um Pflegeleistungen durch Einrichtungen zu beanspruchen, die keinen staatlichen bzw. selbst Verwaltungsbehörden unterstellt sind.
Bezogen auf den Fall des Klägers erfordert die Antragstellung u.a. den Nachweis der armenischen Staatsbürgerschaft durch Pass oder Identitätskarte usw., über welche der Kläger bei seiner Reise am 29. November 2017 auf dem Luftweg verfügt haben muss und die er, sollten sie nicht mehr vorhanden sein, wieder beantragen und erlangen kann. Weiter erfordert die Antragstellung den Nachweis über die Behinderung, über welchen der Kläger nach o.g. Angaben seiner Mutter ebenfalls verfügt, denn ihr Sohn sei offiziell als Behinderter anerkannt und bekäme ab seinem 18. Lebensjahr einen Behindertenausweis 1. Grades (100%). Weiter erfordert die Antragstellung den Nachweis durch eine medizinische Karte der Person oder ein Attest, ausgestellt durch die zuständige medizinische Einrichtung darüber, dass die Person keine Erkrankungen hat, die nicht vereinbar mit der Betreuung in den vollzeitig in Pflegeeinrichtungen sind. Sollte dieses Attest nicht vorhanden sein, ließe es sich in Deutschland erstellen und in Armenisch übersetzen. Schließlich erfordert die Antragstellung den Nachweis der Vollmacht des Vertreters der pflegebedürftigen Person, also der Betreuerbestellungsurkunde.
Soweit die Antragstellung einen Hausbesuch eines Sozialmitarbeiters der lokalen Behörde erfordert, um die Bedürfnisse der Familie der pflegebedürftigen Person einzuschätzen (Einschätzung der Lebensbedingungen), ist dies so von Deutschland aus nicht möglich. Gleichwohl war der Kläger bereits in Armenien als Behinderter aktenkundig und sein Gesundheitszustand bekannt. Es ist Aufgabe des Vertreters des Klägers, über die armenische Botschaft die Erforderlichkeit einer persönlichen Betrachtung des Klägers mit Blick auf seine Geburt und seine aktenkundige Behinderung überhaupt zu klären, ggf. durch einen armenischen Repräsentanten in Deutschland stellvertretend wahrnehmen zu lassen.
Ebenso ist zu regeln, dass die Zuweisung durch die lokale Behörde am Zuzugsort an die entsprechende Pflegeeinrichtung erfolgt und eine entsprechende Reise des Klägers innerhalb von sieben Tagen nach dem Erhalt der Einweisung zur Inanspruchnahme der Dienstleistung in der entsprechenden Pflegeeinrichtung – oder ggf. eine Fristverlängerung zur Flugorganisation – erfolgt.
Soweit das Auswärtige Amt darauf verweist, dass die Prüfung/Einschätzung der Lebensbedingungen (Haushaltsbedingungen) des Klägers eine bedeutende Rolle bei der Entscheidung zu spielen schein und die Durchführung dieser Prüfung nicht möglich erscheint, da sich der Kläger nicht in Armenien aufhält, ist genau dies Aufgabe der Absprachen mit armenischen Behörden. Der Behinderungsgrad des Klägers und sein Betreuungsbedarf haben sich ausweislich der deutschen Atteste (vgl. nur Dr., Universitätsklinikum, Attest vom 15.2.2021: Diagnosen wie bereits belegt, der Kläger habe von der Operation mit Rehabilitation sehr profitiert und könne nun etwa 50 m mit Gehhilfe laufen, hinsichtlich der Spastik bestehe eine stabile Gesamtsituation) gegenüber seiner Verfassung im Zeitpunkt der Ausreise aus Armenien eher verbessert, jedenfalls nicht nachweislich erheblich verschlechtert, so dass sein Pflegebedarf auf Basis vorhandener armenischer sowie ggf. übersetzter deutscher Atteste ohne persönliche Vorsprache einschätzbar erscheint.
Der Einwand des Klägers, er habe einen ganztägigen Pflegebedarf und es sei nicht ersichtlich, ob Ganztageseinrichtungen überhaupt in Armenien für den Kläger erreichbar und zugänglich seien und er könne sich selbst alleine keinen Platz dort verschaffen, denn er sei aufgrund seiner Erkrankung geschäftsunfähig, greift aus den o.g. Gründen nicht durch. Der Kläger hat seine – voraussichtlich mit ihm ausreisenden – Eltern als Betreuer und ggf. ist ihm auch in Armenien ein Betreuer zur Seite zu stellen. Nicht er, sondern dieser kann die Behördengänge leisten, einen Antrag stellen und einen Pflegeplatz für ihn bekommen.
cc) Der Kläger würde im Fall seiner Abschiebung nach Armenien auch nicht wegen seiner Asylantragstellung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
Rückkehrerinnen und Rückkehrer werden nach vorliegenden Erkenntnissen keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen, sondern grundsätzlich nach Ankunft in die Gesellschaft integriert. Rückkehrer aus Deutschland nutzen häufig die erworbenen Deutschkenntnisse bzw. ihre in Deutschland geknüpften Kontakte. Sie haben Zugang zu allen Berufsgruppen, auch im Staatsdienst, und überdurchschnittlich gute Chancen, Arbeit zu finden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 21.6.2021, S. 20 mit näheren Angaben zu Beratungszentren usw.). Auch für demente oder pflegebedürftige Senioren gibt es spezialisierte Einrichtungen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 30.10.2018 an das VG Augsburg).
cc) § 60 Abs. 5 AufenthG ist im vorliegenden Fall nicht wegen geltend gemachter krankheitsbedingter Gefahren durch § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG gesperrt.
Die Vorschrift des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK findet nach deutscher Rechtslage nicht auf die besonderen Ausnahmefälle krankheitsbedingter Gefahren (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41738/10 – NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 175 f.) Anwendung, da der Bundesgesetzgeber solche Fälle in § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG als lex specialis geregelt hat. Dies ist konventions-, unions- und bundesrechtlich nicht zu beanstanden, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (vgl. BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 ff. Rn. 16 f.), dessen Feststellung zu einer identischen Schutzberechtigung für den Betroffenen führt (vgl. § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Dabei liegt die Ausgestaltung eines nationalen Abschiebungsverbots allein in der Gestaltungshoheit des nationalen Gesetzgebers, solange er auf der Rechtsfolgenseite keinen mit dem subsidiären Schutz konkurrierenden Schutzstatus einführt (EuGH, U.v. 18.12.2014 – C-542/13 – juris Rn. 42 f.).
Vorliegend wird nicht die medizinische Versorgung, sondern in erster Linie die Versorgungslage allgemein und speziell die Versorgung mit einer Ganztagspflege klägerseitig als Grundlage für ein Abschiebungsverbot angeführt und sperrt im vorliegenden Fall daher nicht § 60 Abs. 5 AufenthG.
Zudem besteht hier eine Behinderung des Klägers (vgl. unten), die aber als solche keine lebensbedrohlichen Folgen im Sinne von § 60 Abs. 7 AufenthG nach sich zieht, sondern der allgemeinen Existenzsicherung entgegenstehen soll, so dass § 60 Abs. 7 AufenthG auch aus diesem Grund keinen Vorrang beansprucht.
2. Ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, liegt im Fall des Klägers nicht vor.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Gefahr, dass sich eine Erkrankung und die mit einer Erkrankung verbundenen Gesundheitsbeeinträchtigungen als Folge fehlender Behandlungsmöglichkeiten im Abschiebezielstaat verschlimmern, ist in der Regel als am Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu prüfende individuelle Gefahr einzustufen (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 – juris Rn. 15). Nach dieser Bestimmung liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung auf Grund der Verhältnisse im Abschiebezielstaat wesentlich verschlechtern würden.
Erforderlich für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist danach, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, dass also eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (vgl. BVerwG, a.a.O.).
Dabei sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können, in die Beurteilung der Gefahrenlage mit einzubeziehen. Solche Umstände können darin liegen, dass eine notwendige ärztliche Behandlung oder Medikation für die betreffende Krankheit in dem Zielstaat wegen des geringeren Versorgungsstandards generell nicht verfügbar ist. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich trotz grundsätzlich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung aber auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen persönlichen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, U. v. 29.10.2002 – 1 C 1.02 – juris Rn. 9).
a) Diese Anforderungen sind auch mit Art. 3 EMRK vereinbar: Krankheitsbedingte Gefahren können ausnahmsweise die Voraussetzungen des Art. 3 EMRK erfüllen. Solche Ausnahmefälle können vorliegen, wenn eine schwerkranke Person durch die Aufenthaltsbeendigung auch ohne eine unmittelbare Gefahr für ihr Leben schon wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Aufnahmeland oder weil sie dazu keinen Zugang hat, tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wird, dass sich ihr Gesundheitszustand schwerwiegend, schnell und irreversibel verschlechtert mit der Folge intensiven Leids oder einer erheblichen Herabsetzung der Lebenserwartung (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41738/10 – NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 183). Solche Gesundheitsgefahren muss der Ausländer allerdings mit ernst zu nehmenden Gründen geltend machen und daraufhin der Konventionsstaat sie in einem angemessenen Verfahren sorgfältig prüfen, wobei die Behörden und Gerichte des Konventionsstaats die vorhersehbaren Folgen für den Betroffenen im Zielstaat, die dortige allgemeine Situation und seine besondere Lage berücksichtigen müssen, ggf. unter Heranziehung allgemeiner Quellen wie von Berichten der Weltgesundheitsorganisation oder angesehener Nichtregierungsorganisationen sowie ärztlicher Bescheinigungen über den Ausländer (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41738/10 – NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 186 f. m.w.N.). Dies mündet in eine Vergleichsbetrachtung der Folgen einer Abschiebung für den Betroffenen durch einen Vergleich seines Gesundheitszustands vor der Abschiebung mit dem, den er nach Abschiebung in das Bestimmungsland haben würde. Maßgeblich ist eine nur ausreichende Behandlung, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu verhindern, nicht, ob die medizinische Versorgung im Zielstaat der medizinischen Versorgung im Konventionsstaat mindestens gleichwertig ist, denn Art. 3 EMRK garantiert kein Recht, im Zielstaat eine besondere Behandlung zu erhalten, welche der Bevölkerung nicht zur Verfügung steht (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41738/10 – NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 188 f. m.w.N.). Die erforderliche Prüfung umfasst auch, inwieweit der Ausländer tatsächlich Zugang zu der Behandlung und den Gesundheitseinrichtungen im Zielstaat hat, wobei die Kosten für Medikamente und Behandlung berücksichtigt werden müssen, ob ein soziales und familiäres Netz besteht und wie weit der Weg zur erforderlichen Behandlung ist (ebenda Rn. 190 m.w.N.). Wenn nach dieser Prüfung ernsthafte Zweifel bleiben, ist Voraussetzung für die Abschiebung, dass der abschiebende Staat individuelle und ausreichende Zusicherungen des Aufnahmestaats erhält, dass eine angemessene Behandlung verfügbar und für den Betroffenen zugänglich sein wird, so dass er nicht in eine Art. 3 EMRK widersprechende Lage gerät (ebenda Rn. 191).
b) Bei dem Kläger ist nach derzeitigem Verfahrensstand unter Berücksichtigung der vorgelegten (fach-)ärztlichen Atteste nicht von einer erheblichen Gesundheitsgefährdung bei Abbruch der laufenden Behandlung auszugehen.
Der sich auf eine seiner Abschiebung entgegenstehende Erkrankung berufende Ausländer muss diese durch aussagekräftige, nachvollziehbare Atteste, die klare Diagnosen stellen und Aufschluss über die konkrete Therapie und mögliche Folgen einer unzureichenden Behandlung geben, glaubhaft machen (BayVGH, B.v. 27.11.2017 – 9 ZB 17.31302 – juris Rn. 4; nunmehr § 60 Abs. 7 Satz 2, § 60a Abs. 2c und Abs. 2d AufenthG). Aus dem vorgelegten Attest muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage die Diagnose gestellt wurde und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen ärztlichen Befunde bestätigt werden. Zudem sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben.
Nach den vorgelegten fachärztlichen Gutachten befindet sich der Kläger schon seit Januar 2018 in einem stabilen, nicht akut gefährdenden Gesundheitszustand; die Lebensqualität und Teilhabe seien durch die Diagnosen jedoch massiv eingeschränkt (Dr. med., Attest vom 24.1.2018). Das grundsätzliche Problem des Patienten – die infantile Cerebralparese und die wahrscheinliche Blindheit – sei nicht heilbar (Dr. med., Attest vom 24.1.2018). Die Versorgung konzentrierte sich daher auf die Reaktivierung und Mobilisierung des Klägers, der von der Operation mit Rehabilitation sehr profitiert habe und nun etwa 50 m mit Gehhilfe laufen könne, hinsichtlich der Spastik bestehe eine stabile Gesamtsituation. Der Kläger besuche die Berufsschulstufe und erhalte zweimal Physiotherapie und Ergotherapie in der Woche, wegen der Spastik wäre eine Logopädin je Behandlung empfohlen. Nahrung könne er nur mit seinen Eltern aufnehmen. Bei Toilette und Körperpflege werde der Kläger von seinem Vater unterstützt. Der Kläger erhalte Medikamente für Vitamin D 3, weitere Medikamente nehme er nicht ein (Dr., Universitätsklinikum, Attest vom 15.2.2021). Eine akut lebensbedrohliche Erkrankung ist nicht ersichtlich; die natale Behinderung hingegen nicht heilbar.
Der klägerische Einwand, ein längerfristiger Behandlungsabbruch würde zu einer wesentlichen Verschlechterung der Erkrankung des Klägers führen greift daher nicht durch. Weder ist dies fachärztlich belegt, noch sonst ersichtlich. Im Gegenteil erhält der Kläger derzeit eine rehabilitierende und konservative Behandlung mit Vitamingaben. Dass diese in einer der o.g. Ganztagespflegeeinrichtungen nicht geleistet werden könnte, ist ebenfalls weder dargelegt noch sonst ersichtlich. Die Sozialschutzeinrichtungen gewähren den Pflegebedürftigen ebenfalls Verpflegung, primäre medizinische Versorgung, soziale und psychologische Hilfeleistung, Rechtsberatung, Prothesen, orthopädische und Rehabilitationsmittel, sozialmedizinische Expertise, Sicherstellung medizinischer Hilfeleistungen in Kliniken, Ausbildung, Bildung und Erziehung, Arbeitstherapie (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 4.11.2021, VG-Akte Bl. 198 ff., Antwort zu Frage 1a).
Was die Qualität der Pflege in Armenien angeht, ist darauf zu verweisen, dass nur eine ausreichende Behandlung verlangt werden kann, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu verhindern, nicht, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat der medizinischen Versorgung im Konventionsstaat mindestens gleichwertig ist, denn Art. 3 EMRK garantiert kein Recht, im Zielstaat eine besondere Behandlung zu erhalten, welche der Bevölkerung nicht zur Verfügung steht (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41738/10 – NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 188 f. m.w.N.).
3. Nachdem sich auch die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthG als rechtmäßig erweist, war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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