Verwaltungsrecht

Vollziehbar ausreisepflichtiger abgelehnter afghanischer Asylbewerber, Antrag auf vorläufige Duldung im Eilverfahren, Zeitraum bis zur Vollziehung der Abschiebung ungewiss

Aktenzeichen  Au 9 E 21.1546

Datum:
12.8.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 23964
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller eine Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu erteilen. Die Dauer der zu erteilenden Duldung wird ins Ermessen des Antragsgegners gestellt.
II. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 1.250,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt im Eilverfahren die vorläufige Erteilung einer Duldung.
Der Antragsteller ist afghanischer Staatsangehöriger und reiste nach eigenen Angaben am 2. Februar 2014 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er stellte am 21. Mai 2014 einen Asylantrag, der mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15. März 2017 abgelehnt wurde. Die hiergegen zum Verwaltungsgericht Augsburg erhobene Klage wurde mit Urteil vom 25. Juni 2018 abgewiesen. Seit dem 14. August 2018 ist der Antragsteller vollziehbar ausreisepflichtig.
Aufgrund fehlender Reisedokumente wurde dem Antragsteller in der Folgezeit eine Duldung erteilt.
Am 13. September 2018 veranlasste der Antragsgegner beim Landesamt für Asyl und Rückführung die Durchführung eines Passersatzpapierverfahrens. Seit dem 14. November 2018 kann für den Antragsteller ein Heimreiseschein ausgestellt werden. Infolge des Wegfalls des Duldungsgrundes der fehlenden Reisedokumente wurde die Duldung des Antragstellers am 6. Dezember 2018 mit dem Vermerk „erloschen“ versehen.
Am 13. Mai 2019 stellte der Antragsteller einen Asylfolgeantrag, der mit Bescheid vom 16. Mai 2019 bestandskräftig als unzulässig abgelehnt wurde.
Aufgrund der durch die Corona-Pandemie bedingten Reisebeschränkungen wurde dem Antragsteller ab dem 23. April 2020 eine Duldung erteilt, die fortlaufend, zuletzt am 26. Januar 2021 bis einschließlich 29. April 2021 verlängert wurde. Am 12. April 2021 beantragte der Antragsgegner beim Landesamt für Asyl und Rückführungen die Genehmigung der Luftabschiebung des Antragstellers.
Am 30. Oktober 2020 legte der Antragsteller seinen afghanischen Reisepass im Original vor.
Mit Schreiben vom 2. Juni 2021 beantragte der Antragsteller die Verlängerung der am 29. April 2021 erloschenen Duldung. Der Antrag wurde mit Schreiben des Antragsgegners vom 9. Juni 2021 wegen Fehlen eines Duldungsgrunds abgelehnt. Hiergegen hat der Antragsteller am 20. Juli 2021 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erhoben, die unter dem Az. Au 9 K 21.1545 geführt wird und über die noch nicht entschieden wurde.
Zugleich hat der Antragsteller im Wege einstweiligen Rechtsschutzes sinngemäß beantragt,
den Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig eine Duldung zu erteilen.
Eine Begründung des Antrags erfolgte nicht.
Der Antragsgegner ist dem Antrag mit Schriftsatz vom 28. Juli 2021 entgegengetreten und beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wird ausgeführt, der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sei unbegründet. Der Antragsteller habe weder einen Anordnungsgrund noch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Ein Duldungsgrund liege nicht vor. Der Antragsteller sei seit dem 14. August 2018 vollziehbar ausreisepflichtig. Dem Antragsgegner lägen auch die erforderlichen Reisedokumente des Antragstellers vor. Abschiebungen nach Afghanistan fänden regelmäßig im monatlichen Turnus im Rahmen von Sammelabschiebungen statt. Die vormals durch die Corona-Pandemie bestehenden Reisebeschränkungen stünden dem Vollzug der Ausreisepflicht mittlerweile nicht mehr entgegen. Die Abschiebung des Antragstellers sei damit tatsächlich und rechtlich möglich.
Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands im Übrigen wird auf die Gerichts- und Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag ist begründet. Dem Antragsteller steht nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ein Anspruch auf die Erteilung einer einstweiligen Duldung zu.
1. Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder eine drohende Gefahr zu verhindern oder wenn dies aus anderen Gründen nötig erscheint. Erforderlich sind danach ein Anordnungsgrund, d.h. die Eilbedürftigkeit der Sache, sowie ein Anordnungsanspruch, d.h. ein Anspruch auf die begehrte Maßnahme, die nach § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft zu machen sind. Dies ist der Fall, wenn sich das Vorliegen eines Anordnungsgrunds und Anordnungsanspruch als überwiegend wahrscheinlich darstellt.
2. Der Antragsteller hat nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG einen Anspruch auf die Erteilung einer einstweiligen Duldung.
a) Gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Das Rechtsinstitut der Duldung soll dem Umstand Rechnung tragen, dass die Ausreisepflicht eines Ausländers nicht in allen Fällen ohne Verzögerung durchgesetzt werden kann und ihre Durchsetzung mitunter auf nicht absehbare Zeit unmöglich ist (vgl. zur Vorgängerregelung des § 55 Abs. 2 AuslG: BVerwG, U.v. 25.9.1997 – 1 C 3/97 – juris Rn. 17). Maßgeblich für die Erteilung einer Duldung nach der genannten Bestimmung ist allein, ob der Abschiebung tatsächliche oder rechtliche Hindernisse entgegenstehen, die es der Ausländerbehörde unmöglich machen, ihrer Abschiebeverpflichtung nachzukommen (vgl. BVerwG, U.v. 25.9.1997 – 1 C 3/97 – juris Rn. 16).
Tatsächliche Unmöglichkeit bedeutet nach dem Sinn dieser Vorschrift, dass für einen vorausschaubaren Zeitraum die Abschiebung ausgeschlossen ist. Hiervon sind jedoch grundsätzlich Verzögerungen zu unterscheiden, die sich aus verwaltungsorganisatorischen Gründen bei der Vorbereitung der Abschiebung ergeben können. Denn zeitlich kurze Verzögerungen begründen noch keine tatsächliche Unmöglichkeit im Sinn von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (vgl. Kluth/ Breidenbach in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 29. Auflage 2021, Rn. 9). Dies kann allerdings nur für den üblicherweise erforderlichen Zeitraum gelten. Der Gesetzgeber geht von der zügigen Durchführung der Abschiebung aus. Die Ausländerbehörde hat einen vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen deshalb entweder unverzüglich abzuschieben oder ihn zu dulden. Die Ausländerbehörde hat mithin nicht nur zu untersuchen, ob die Abschiebung des Ausländers überhaupt durchgeführt werden kann, sondern auch zu prüfen, innerhalb welchen Zeitraums dies möglich ist. Ist der Zeitraum ungewiss, ist eine Duldung zu erteilen (vgl. BVerwG, U.v. 25.9.1997 – 1 C 3/97 – juris Rn. 23). Dabei steht es der Ausländerbehörde frei, die Duldung mit einer kurzen Laufzeit oder unter einer auflösenden Bedingung zu erteilen, wenn die Durchführung der Abschiebung in absehbarer Zeit möglich erscheint (vgl. OVG Mecklenburg-Vorpommern, B.v. 29.10.2007 – 2 M 179/07 – juris Rn. 9).
Für einen ungeregelten Aufenthalt lässt die Systematik des Aufenthaltsgesetzes hingegen keinen Raum. Vielmehr geht das Gesetz davon aus, dass ein ausreisepflichtiger Ausländer entweder abgeschoben wird oder zumindest eine Duldung erhält. Die tatsächliche Hinnahme des Aufenthalts außerhalb förmlicher Duldung, ohne dass die Vollstreckung der Ausreisepflicht erfolgt, sieht das Gesetz nicht vor.
b) Gemessen daran sind die Voraussetzungen für die Annahme einer tatsächlichen Unmöglichkeit im vorliegenden Fall erfüllt.
Im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist ungewiss, wie lange die verwaltungsorganisatorische Vorbereitung der Abschiebung des Antragstellers (noch) dauern wird. Im Hinblick darauf, dass der Antragsgegner die Genehmigung der Luftabschiebung des Antragstellers bereits am 12. April 2021 beim Landesamt für Asyl und Rückführungen beantragt hat und weder der vorgelegten Behördenakte noch der verfahrensgegenständlichen Stellungnahme des Antragstellers die Einleitung weiterer Verfahrensschritte entnommen werden können, ist davon auszugehen, dass die bereits seit vier Monaten laufende Vorbereitung der Abschiebung des Antragstellers den hierfür üblicherweise erforderlichen zeitlichen Rahmen übersteigt und die Abschiebung einen Zeitraum in Anspruch nimmt, für den üblicherweise Duldungen ausgestellt werden (vgl. BayVGH, B.v. 2.8.2021 – 10 CE 21.1427 – noch nicht veröffentlicht). Insoweit genügt der generelle Verweis des Antragsgegners darauf, dass Abschiebungen nach Afghanistan regelmäßig stattfinden, nicht. Denn es ist weiter ungewiss, wann genau die Abschiebung des Antragstellers erfolgen soll.
Auch angesichts der aktuellen Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan und der in diesem Zusammenhang erfolgten Ankündigung des Bundesinnenministeriums, Rückführungen nach Afghanistan einstweilen auszusetzen (vgl. Pressemitteilung des Bundesinnenministeriums vom 11.8.2021, abrufbar unter: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2021/08/aussetzung-abschiebung.html, zuletzt abgerufen am 12.8.2021), ist mit einer zeitnahen Abschiebung des Antragstellers nicht zu rechnen. Von einer bloß unerheblichen Verzögerung des verwaltungsorganisatorischen Verfahrens kann damit insgesamt vorliegend nicht (mehr) ausgegangen werden, sodass dem Antragsteller einstweilen eine Duldung gem. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG wegen tatsächlicher Unmöglichkeit zu erteilen ist.
Dabei steht es im Ermessen des Antragsgegners, die Duldung im Hinblick auf das laufende verwaltungsorganisatorische Abschiebungsverfahren beispielsweise mit einer kurzen Laufzeit oder unter einer auflösenden Bedingung zu erteilen.
3. Der Antragsteller kann auch einen Anordnungsgrund für sich in Anspruch nehmen. Denn ohne Duldung macht sich der vollziehbar ausreisepflichtige Antragsteller nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG durch seinen illegalen Aufenthalt fortlaufend strafbar. Die begehrte Duldung stellt sicher, dass der weitere Aufenthalt in der Bundesrepublik bis zur Abschiebung nicht strafbar ist.
4. Dem Antrag war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
5. Die Höhe des Streitwerts folgt aus § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG i.V.m. Nr. 1.5 und 8.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.


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