Verwaltungsrecht

Vorhalte- und Verwertungsverbot hinsichtlich richterlicher Weisung nach Jugendgerichtsgesetz bei der Prüfung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis

Aktenzeichen  M 10 K 18.6307

Datum:
24.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 29606
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 5 Abs. 4, § 25 Abs. 3, Abs. 5, § 54 Abs. 1 Nr. 4
BZRG § 51 Abs. 1, § 52, § 63 Abs. 4

 

Leitsatz

1. Die Ausnahmevorschrift des § 52 Abs. 1 Nr. 1 BZRG vom Vorlage- und Verwertungsverbot greift nur dann, wenn die Berücksichtigung der früheren Tat zur Abwehr einer konkreten, nicht hinnehmbaren Gefährdung der Sicherheit des Staates – nicht bloß der allgemeinen Sicherheit und Ordnung im polizeirechtlichen Sinne – absolut erforderlich ist und keine anderen Abwehrmöglichkeiten bestehen. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
2. Liegen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vor, ist in erster Linie eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG zu erteilen; eine Erteilung nach § 25 Abs. 5 AufenthG ist aber jedenfalls dann nicht ausgeschlossen, wenn die Ausländerbehörde das ihr im Rahmen von § 25 Abs. 3 AufenthG verbleibende Ermessen zulasten des Ausländers ausübt. (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 4. Dezember 2018 wird aufgehoben.  
II. Die Beklagte wird verpflichtet, den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom 25. Juli 2017 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu verbescheiden. 
III. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. 
IV. Von den Kosten des Verfahrens hat die Beklagte ¾, der Kläger ¼ zu tragen.
V. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beteiligten dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweils andere Beteiligte vorher Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Gründe

A.
Über die Klage konnte trotz Ausbleibens des Klägers in der mündlichen Verhandlung entschieden werden, da er in der Ladung zum Termin auf die Folgen des Ausbleibens hingewiesen wurde, § 102 Abs. 2 VwGO.
B.
Die zulässige Klage hat zum Teil Erfolg.
Der Kläger hat einen Anspruch auf Neuverbescheidung seines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom 25. Juli 2017, § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO. Der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 4. Dezember 2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
I. Entgegen der Ansicht der Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid ist im Fall des Klägers die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht zwingend nach § 5 Abs. 4 AufenthG ausgeschlossen.
Maßgeblich für den Erfolg der vorliegend erhobenen Verpflichtungsklage in Form der Versagungsgegenklage ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 16/14 – juris Rn. 14; U.v. 15.8.2019 – 1 C 23/18 – BVerwGE 166, 219 Rn. 12; VG München, B.v. 20.11.2006 – M 10 S 06.3720 – BeckRS 2006, 32476).
Gem. § 5 Abs. 4 AufenthG ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels zu versagen, wenn ein Ausweisungsinteresse i.S.v. § 54 Abs. 1 Nr. 2 oder 4 AufenthG besteht oder eine Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG erlassen wurde.
Vorliegend hat die Beklagte ihre ablehnende Entscheidung mit dem Vorliegen eines Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG begründet. Gem. § 54 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG wiegt ein Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG besonders schwer, wenn der Ausländer sich zur Verfolgung politischer oder religiöser Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligt oder öffentlich zur Gewaltanwendung aufruft oder mit Gewaltanwendung droht. Im streitgegenständlichen Bescheid zog die Beklagte die Verurteilung des Klägers wegen Volksverhetzung mit Urteil des Amtsgerichts München vom 14. Juni 2017 heran, sah aufgrund dieser jedenfalls die Tatbestandalternative der Gewaltandrohung i.S.v. § 54 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG als erfüllt an und bejahte im späteren Verfahren zudem die Tatbestandsvariante des Aufrufs zur Gewaltanwendung.
Zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung steht der Verwertung der Verurteilung wegen Volksverhetzung sowie der der Verurteilung zugrunde liegenden Tat vom 3. Mai 2016 das Vorhalte- und Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1, § 63 Abs. 4 des Gesetzes über das Zentralregister und das Erziehungsregister (Bundeszentralregistergesetz – BZRG) entgegen.
Mit Urteil vom 14. Juni 2017 wurde der Kläger zur Ableistung von 12 x 4 Stunden gemeinnütziger Arbeit sowie zur Teilnahme an drei Beratungsgesprächen angewiesen. Gegen ihn sind damit eine Weisung zur Arbeitsleistung i.S.v. § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) sowie eine Weisung nach der Generalbefugnis des § 10 Abs. 1 Satz 1 JGG ergangen. Diese Weisungen stellen Erziehungsmaßregeln nach § 9 Nr. 1 JGG dar und waren – mangels erkennbaren Vorliegens eines Ausnahmegrundes – nach § 60 Abs. 1 Nr. 2 BZRG in das Erziehungsregister einzutragen. Nach § 63 Abs. 1 BZRG werden Eintragungen im Erziehungsregister jedoch entfernt, sobald der Betroffene das 24. Lebensjahr vollendet. Vorliegend ist der Kläger inzwischen 25 Jahre alt, sodass die genannte Eintragung inzwischen getilgt wurde bzw. zu tilgen ist. Über § 63 Abs. 4 BZRG findet damit das Vorhalte- und Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG Anwendung.
Eine Ausnahme vom Vorhalte- und Verwertungsverbot nach § 63 Abs. 4, § 52 BZRG ist nicht ersichtlich. Insbesondere ist eine Ausnahme nicht nach § 63 Abs. 4, § 52 Abs. 1 Nr. 1 BZRG gegeben. Danach darf die frühere Tat abweichend von § 51 Abs. 1 BZRG berücksichtigt werden, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder eine Ausnahme zwingend gebietet. Diese Ausnahmevorschrift ist restriktiv auszulegen. Abzustellen ist auf Erfordernisse der äußeren und inneren Sicherheit des Bundes oder der Länder, nicht auf die allgemeine Sicherheit und Ordnung im polizeirechtlichen Sinne. Eine Ausnahme ist nur dann zwingend geboten, wenn die Berücksichtigung der früheren Tat zur Abwehr einer konkreten, nicht hinnehmbaren Gefährdung der Sicherheit des Staats absolut erforderlich ist und keine anderen Abwehrmöglichkeiten bestehen (Bücherl in Graf, BeckOK StPO mit RiStBV und Mistra, § 52 BZRG Rn. 2 f. mit Verweis auf BT-Drs. 6/477, 24 und 6/1550, 805).
Vorliegend kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass sich aufgrund der zurückliegenden Tat der Volksverhetzung aktuell eine derartige Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik oder eines ihrer Länder ergibt. Abstrakt gesehen sind die Tat der Volksverhetzung und eine dementsprechende Wiederholung zwar dazu geeignet, die innere Sicherheit der Bundesrepublik und ihrer Länder zu gefährden (vgl. die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum weitgehend ähnlich formulierten § 6 Abs. 5 Satz 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern, nach der der Begriff der inneren Sicherheit auch das friedliche Zusammenleben der Völker umfasst, U.v. 23.11.2010 – C-145/09 – juris Rn. 43 f. m.w.N.). Allerdings gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass vom Kläger aktuell eine konkrete Gefahr für die Begehung von weiteren Taten ausgeht, die dazu geeignet wären, die Sicherheit der Bundesrepublik oder eines ihrer Länder im dargestellten Maße zu gefährden. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass außer der richterlichen Weisung im Urteil vom 14. Juni 2017 keine weiteren strafrechtlichen Sanktionen gegen den Kläger ergangen sind. Es liegen daher keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger das geahndete Verhalten seitdem wiederholt hat. Aus der einmaligen Begehung einer bereits über vier Jahre zurückliegenden Tat kann für sich genommen nicht auf eine derzeit vorliegende Gefahr von weiteren volksverhetzenden Handlungen geschlossen werden. Hinzukommt, dass die erkennende Strafrichterin die Tat vom 3. Mai 2016 als vergleichsweise geringe Verfehlung einstufte. Dies zeigt der Umstand, dass sich die ergangenen Weisungen am untersten Rand des möglichen Rahmens bewegen. Zugleich scheidet aus den genannten Erwägungen die Annahme aus, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder würde gezwungenermaßen eine Berücksichtigung der Tat erfordern.
Da damit gem. § 51 Abs. 1, § 63 Abs. 4 BZRG ein umfassendes Vorhalte- und Verwertungsverbot sowohl hinsichtlich der Tat vom 3. Mai 2016, als auch des daraufhin ergangenen Urteils vom 14. Juni 2017 folgen (siehe zum Ganzen Bücherl in Graf, BeckOK StPO mit RiStBV und Mistra, § 51 BZRG Rn. 16 ff. m.w.N.), kann anhand der vorliegenden Erkenntnisse zum maßgeblichen aktuellen Zeitpunkt kein Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG angenommen werden.
Nach derzeitiger Sachlage ist auch nicht vom Vorliegen eines Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG auszugehen. Eine Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung konnte dem Kläger nicht nachgewiesen werden. Mangels Anfangsverdachts wurde die vom Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof geprüfte Einleitung eines Ermittlungsverfahrens abgelehnt.
Aus § 5 Abs. 4 AufenthG folgt daher keine zwingende Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
II. Ein Anspruch des Klägers auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Antrag ergibt sich aus § 25 Abs. 3 Satz 1 sowie aus § 25 Abs. 5 Satz 1, 2 AufenthG.
1. Entgegen der Auffassung der Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid ist § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG im Fall des Klägers derzeit nicht anwendbar.
Nach § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist einem Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn das Bundesamt diesem die Flüchtlingseigenschaft i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG oder subsidiären Schutz i.S.d. § 4 Abs. 1 AsylG zuerkannt hat.
Vorliegend wurde dem Kläger mit Bescheid des Bundesamts vom 13. Juli 2017 der subsidiäre Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG zuerkannt. Mit Bescheid vom 22. März 2018 nahm das Bundesamt diesen Bescheid allerdings zurück und stellte fest, dass für den Kläger hinsichtlich Syrien ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht. Begründet wurde die Rücknahme damit, dass die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus aufgrund der Verurteilung wegen Volksverhetzung nach § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG ausgeschlossen sei.
Zwar hat der Kläger am 10. April 2018 auch gegen den Bescheid vom 22. März 2018 Klage erhoben. Diese Klage, die derzeit ebenfalls noch am Bayerischen Verwaltungsgericht München anhängig ist (M 22 K 18.31575), entfaltet jedoch nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 75 Abs. 2 Satz 1 und 2 AsylG keine aufschiebende Wirkung.
§ 75 Abs. 2 Satz 1 AsylG zählt diejenigen Fälle auf, in denen eine Klage gegen eine Entscheidung des Bundesamts, mit der die Anerkennung als Asylberechtigter oder die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft widerrufen oder zurückgenommen wurde, keine aufschiebende Wirkung hat. Nach § 75 Abs. 2 Satz 2 AsylG gilt dies entsprechend bei Klagen gegen den Widerruf oder die Rücknahme der Gewährung des subsidiären Schutzes wegen Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 AsylG. Die Regelung des § 75 Abs. 2 Satz 2 AsylG ist daher klar so zu verstehen, dass bei einem Widerruf oder einer Rücknahme der Zuerkennung des subsidiären Schutzes, eine gegen diese Entscheidung gerichtete Klage dann keine aufschiebende Wirkung entfaltet, wenn sie seitens des Bundesamts auf ein Vorliegen der Ausschlussgründe des § 4 Abs. 2 AsylG gestützt wurde. Dies gilt, wie allgemein im Verwaltungsprozessrecht, unabhängig von der Frage, ob die Widerrufs- oder Rücknahmeentscheidung rechtmäßiger Weise auf § 4 Abs. 2 AsylG gestützt wurde. Für die Frage der aufschiebenden Wirkung der Klage ist nach dem Wortlaut des § 75 Abs. 2 Satz 2 AsylG allein maßgeblich, dass das Bundesamt seine Entscheidung deshalb getroffen hat, weil aus seiner Sicht einer der Ausschlussgründe des § 4 Abs. 2 AsylG vorgelegen hat. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, kann der Kläger mit einem erfolgreichen Antrag im einstweiligen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO die Anordnung der aufschiebenden Wirkung erreichen (vgl. Bostedt in Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2016, § 80 Rn. 60). Ohne eine derartige Anordnung bleibt es bei der gesetzlichen Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit der Widerrufs- oder Rücknahmeentscheidung.
Aufgrund des Fehlens der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Rücknahmeentscheidung des Bundesamts sind dieser Entscheidung umfassende Rechtswirkungen beizumessen. Im vorliegenden Verfahren auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ist die Rücknahme des subsidiären Schutzes damit zu berücksichtigen. Eine Anwendung von § 25 Abs. 2 AufenthG scheidet damit aus.
2. Aus § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ergibt sich für den Kläger ein Anspruch auf ermessenfehlerfreie Entscheidung hinsichtlich der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
Nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG soll einem Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt. Das Bundesamt hat für den Kläger hinsichtlich seines Heimatlandes Syrien ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt. An diese Feststellung ist die Beklagte als zuständige Ausländerbehörde gem. § 42 Satz 1 AsylG gebunden (Maaßen/Kluth in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 26. Edition, Stand: 1.7.2020, § 25 AufenthG Rn. 36). Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG sind damit bereits erfüllt.
Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ist zudem nicht nach § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG ausgeschlossen. Danach wird eine Aufenthaltserlaubnis nicht erteilt, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass der Ausländer eine Straftat von erheblicher Bedeutung begangen hat. Auch an dieser Stelle greift hinsichtlich der Tat vom 3. Mai 2016 das umfassende Vorhalte- und Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1, § 63 Abs. 4 BZRG. Schwerwiegende Gründe für die Annahme der Begehung einer anderen Tat, der erhebliche Bedeutung zukommen würde, sind weder vorgetragen, noch ersichtlich.
Ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis folgt aus § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG jedoch nicht. Nach dem Wortlaut der Vorschrift soll dem Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt. Mit dieser Formulierung machte der Gesetzgeber zwar deutlich, dass die Aufenthaltserlaubnis in der Regel zu erteilen ist und legt insoweit eine klare Tendenz für die Entscheidung der zuständigen Behörde fest (vgl. Maaßen/Kluth, a.a.O., Rn. 55). Gleichwohl macht die Wahl des Begriffs „soll“ anstatt des Begriffs „ist“ durch den Gesetzgeber deutlich, dass der Behörde ein Rest an Ermessensspielraum verbleibt.
3. Der Kläger hat, jedenfalls für den Fall, dass die Beklagte keine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt, zudem einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG.
Zwar ist bei Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG in erster Linie eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG zu erteilen (Röcker in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 25 Rn. 107). Gleichwohl scheidet eine Erteilung nach § 25 Abs. 5 AufenthG vorliegend nicht von vorneherein aus. Die Beklagte hat ihr Ermessen hinsichtlich der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG jedenfalls dann, wenn sie einen Aufenthaltstitel nicht nach § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt, auszuüben.
Nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall des Ausreisehindernisses in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Die Aufenthaltserlaubnis soll erteilt werden, wenn die Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist, § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG. Eine Aufenthaltserlaubnis darf dabei nur erteilt werden, wenn der Ausländer unverschuldet an der Ausreise gehindert ist, § 25 Abs. 5 Satz 3 AufenthG. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
Der Kläger ist vollziehbar ausreisepflichtig. Die aus § 50 Abs. 1 AufenthG folgende Ausreisepflicht ist nach § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG vollziehbar. Die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 AufenthG wurde durch die ablehnende Entscheidung der Beklagten beendet. Der gegen den Ablehnungsbescheid erhobenen Klage kommt nach § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG keine aufschiebende Wirkung zu.
Die Ausreise des Klägers ist derzeit rechtlich unmöglich. Die Unmöglichkeit der Ausreise ergibt sich zum einen aus dem Fehlen geeigneter Reisedokumente des Klägers, zum anderen aufgrund der noch andauernden Konflikte im Heimatland des Klägers, aufgrund derer ihm eine Rückkehr derzeit nicht zugemutet werden kann (vgl. die Begründung des Bescheids des Bundesamts vom 22.3.2018; zur Einordnung dieser Umstände als rechtliche Unmöglichkeit: Röcker in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 25 Rn. 104). Im Rahmen von § 25 Abs. 5 AufenthG ist jedoch nur die Unmöglichkeit aufgrund der Lage im Herkunftsland des Klägers zu berücksichtigen. Das Fehlen der nötigen Reisedokumente basiert auf der zögerlichen Mitwirkung des Klägers an der Beschaffung von Ersatzdokumenten bei der syrischen Botschaft in Berlin und ist daher „verschuldet“ i.S.v. § 25 Abs. 5 Satz 3 AufenthG (vgl. Röcker, a.a.O., Rn. 127).
Ebenfalls ist mit einem Wegfall des aus der Unzumutbarkeit der Rückkehr nach Syrien folgenden Hindernisses nicht in absehbarer Zeit zu rechnen. Auch wenn sich die bewaffneten Auseinandersetzungen in Syrien mittlerweile nicht mehr auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken, ist die politische Lage nach wie vor angespannt (vgl. Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung vom 18.6.2020, abrufbar im Internet am 16.10.2020 unter https://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/54705/syrien; Einschätzung des Auswärtigen Amts, abrufbar im Internet am 16.10.2020 unter https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/syrien-node/syriensicherheit/204278). Es ist daher jedenfalls in absehbarer Zeit nicht mit ausreichender Gewissheit von der Zumutbarkeit einer Rückkehr auszugehen.
Zudem ist die Voraussetzung des § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG erfüllt. Die Abschiebung des Klägers ist seit über 18 Monaten ausgesetzt. Am 4. Januar 2019 wurde ihm eine Bescheinigung über die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) gem. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, zuletzt gültig bis 26. November 2020, erteilt.
Auch aus § 25 Abs. 5 AufenthG folgt lediglich ein Anspruch auf ermessenfehlerfreie Entscheidung der Beklagten. Auch bei § 25 Abs. 5 Satz 1, 2 AufenthG handelt es sich um eine „Soll“-Vorschrift. Gem. § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist der Beklagten bei der Prüfung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zudem Ermessen darüber eingeräumt, ob sie vom Erfordernis des Vorliegens der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG absieht. Insoweit ergibt sich zwar aus § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG ein intendiertes Ermessen der Beklagten, die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis hängt aufgrund der fehlenden Ausweisdokumente (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) vorliegend aber dennoch davon ab, ob die Beklagte ihr nicht intendiertes Ermessen nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zu Gunsten des Klägers ausübt.
4. Im streitgegenständlichen Verfahren hat die Beklagte bislang ihr – wenn auch in § 25 Abs. 3 Satz 1, Abs. 5 Satz 2 AufenthG intendiertes – Ermessen nicht ausgeübt. Sie hat ihre ablehnende Entscheidung im Bescheid vom 4. Dezember 2018 mit einem Vorliegen des zwingenden Versagungsgrunds nach § 5 Abs. 4 AufenthG begründet und im Übrigen keine Ermessenserwägungen angestellt. Der Anspruch des Klägers auf ermessenfehlerfreie Entscheidung aus § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG und § 25 Abs. 5 Satz 1, 2 AufenthG wurde von der Beklagten daher bislang nicht erfüllt. Hierin liegt ein nach § 114 Satz 1 VwGO gerichtlich nachprüfbarer Ermessenausfall, der zur Rechtswidrigkeit und Aufhebung des Bescheids führt.
III. Die vom Kläger beantragte Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis scheidet aufgrund der Ausgestaltung der genannten Vorschriften als Ermessensvorschriften aus. Weil vorliegend keine Gründe ersichtlich sind, die zu einer sog. „Ermessensreduzierung auf Null“ führen würden, kann das Gericht der Beklagten ihre Entscheidung nicht final vorgeben, sie also nicht zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis verpflichten. Das Gericht darf sein Ermessen nicht an die Stelle der zuständigen Behörde setzen (Schübel-Pfister in Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 15. Aufl. 2019, § 113 Rn. 49). Stattdessen folgt aus § 113 Abs. 5 Satz 2, § 114 Satz 1 VwGO unter Aufhebung der ergangenen ablehnenden Entscheidung die Verpflichtung der Beklagten zur erneuten Entscheidung über den Antrag des Klägers.
C.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.


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