Verwaltungsrecht

vorübergehendes inlandsbezogenes Abschiebungshindernis

Aktenzeichen  M 19 S7 19.51270

Datum:
22.11.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 34678
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 34a
GG Art. 6 Abs. 1
MuSchG § 3 Abs. 2
VwGO § 80 Abs. 7

 

Leitsatz

Zwar stehen die Schutzwirkungen des Art. 6 Abs. 1 GG zugunsten der Partner einer auf Dauer angelegten nichtehelichen Lebensgemeinschaft grundsätzlich nicht einer Überstellung nach Italien entgegen; die rechtlichen Wertungen des Mutterschutzgesetzes führen jedoch auch für den männlichen Teil der nichtehelichen Lebensgemeinschaft unter dem Aspekt der Einheitlichkeit der Rechtsordnung zu der Annahme eines vorübergehenden inlandsbezogenen Abschiebungshindernisses entsprechend der Fristen des Entbindungsschutzes nach § 3 Abs. 4 MuSchG.  (Rn. 16) (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 2. September 2019 im Verfahren M 19 S 19.50816 wird geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 16. Juli 2019 (M 19 K 19.50815) gegen die unter Nr. 3 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 8. Juli 2019 verfügte Abschiebungsanordnung wird bis zum 10. Januar 2020 angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Änderungsverfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung nach Italien im Rahmen des sogenannten Dublin-Verfahrens. Im vorliegenden Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO begehrt er die Abänderung eines ablehnenden Beschlusses des Gerichts vom 2. September 2019.
Mit Bescheid vom 8. Juli 2019 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3) und setzte ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von sechs Monaten ab dem Tag der Abschiebung nach § 11 Abs. 1 AufenthG fest (Nr. 4).
Der Antragsteller erhob hiergegen am 16. Juli 2019 Klage (M 19 K 19.50815) und stellte gegen die Abschiebungsandrohung einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO, den das Gericht mit Beschluss vom 2. September 2019 abgelehnt hat (M 19 S 19.50816).
Mit Schriftsatz vom 21. November 2019 beantragt er nun sinngemäß,
den Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 2. September 2019 dahingehend zu ändern, dass die aufschiebende Wirkung der Klage vom 16. Juli 2019 angeordnet wird.
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Lebensgefährtin des Antragstellers im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft am 12. November 2019 eine Totgeburt erlitten habe. Sie sei nun in einer Klinik und bedürfte der Unterstützung durch den Antragsteller, der sich überdies um sein am 27. Oktober 2017 geborenes Kind, das er mit dieser Lebensgefährtin habe und für das eine Urkunde über die Anerkennung der Vaterschaft vom 18. Juni 2019 vorliegt, kümmern müsse. Dieses Kind befinde sich ebenfalls in einer Klinik. Vorgelegt wurde hierzu eine ärztliche Bescheinigung des Klinikums r … … … vom 14. November 2019, in dem bestätigt wird, dass die Lebensgefährtin des Antragstellers sich bis auf weiteres aus medizinischen Gründen in der Frauenklinik in Behandlung befindet und die Anwesenheit des Antragstellers als Partner aus medizinischer und psychologischer Sicht empfehlenswert sei. Dem Antrag ist als Anlage die Seite 2 eines dreiseitigen ärztlichen Berichts über die Lebensgefährtin des Antragstellers beigefügt, dem sich das Erleiden einer Totgeburt eines 730g schweren Fötus am 15. November 2019 entnehmen lässt. Vorgelegt wurde außerdem eine handschriftliche Bestätigung, dass sich das (zweijährige) „Kind (…) stationär in der Kinderklinik S … seit 18.11.2019“ befinde und eine „Entlassung noch nicht absehbar“ sei. Beigefügt ist dem Antrag ein Schreiben der Regierung von Oberbayern, Zentrale Ausländerbehörde, an den Antragsteller vom 5. November 2019, mit dem für den 25. November 2019 seine Überstellung nach Italien angekündigt wird. Weiter vorgelegte Schreiben des Klinikums r … … … waren im Detail nicht lesbar, lassen aber erkennen, dass sie sich auf die Geburt des zweijährigen Kindes im Jahr 2017 beziehen.
Der Antragsgegnerin äußerte sich mit Schreiben vom 22. November 2019 und lehnte die Annahme eines Abschiebungsverbots ab.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Beschluss vom 2. September 2019 sowie auf die vorgelegten Behörden- und die Gerichtsakte verwiesen.
II.
Der Antrag ist gemäß § 88 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) als Antrag auf Abänderung des Beschlusses vom 2. September 2019 gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO auszulegen. Denn dies kommt dem Rechtsschutzziel des Antragstellers am nächsten. Der von ihm gestellte ausdrückliche Antrag nach § 123 VwGO auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist vorliegend unstatthaft, da der zu Grunde liegende Bescheid vom 8. Juli 2019 noch nicht bestandskräftig geworden ist. Der Antragsteller hat am 16. Juli 2019 hiergegen Klage erhoben (M 19 K 19.50815). Diese ist noch anhängig.
Der so ausgelegte Antrag hat Erfolg.
1. Gemäß § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Antrag wegen veränderter Umstände jederzeit ändern oder aufheben. Das Änderungsverfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO ist kein Rechtsmittelverfahren, sondern dient dazu, eine Änderung der Sach- und Rechtslage Rechnung zu tragen. Prüfungsmaßstab ist daher allein, ob nach der jetzigen Sachund Rechtslage die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage geboten ist und die geänderten Umstände geeignet sind, eine andere Entscheidung herbeizuführen.
Hier bestehen veränderte Umstände insoweit, als seit dem Beschluss vom 2. September 2019 die Lebenspartnerin des Antragstellers eine Totgeburt erlitten hat (vgl. § 31 Abs. 2 Satz 1 Personenstandsverordnung – PStV) und sich (wohl auch noch derzeit) in einer Klinik befindet. Für das zweijährige gemeinsame Kind besteht ein Betreuungsbedarf, den der Antragsteller nach seinem Vortrag bedient. Ferner befindet sich offenbar das zweijährige Kind in der Kinderklinik in M … S …
2. Es ist deshalb vorübergehend von einem inlandsbezogenen Abschiebungshindernis auszugehen. Im Rahmen einer Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 AsylG ist dieses ausnahmsweise von der sonst allein auf die Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote beschränkten Antragsgegnerin auch noch nach Erlass der Abschiebungsanordnung zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – AuAS 2014, 244; Bergmann in Dienelt/Bergmann, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 29 AsylG Rn. 35).
a) Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz (GG) steht einer Überstellung nach Italien vorliegend entgegen. Art. 6 Abs. 1 GG schließt, ist sein Schutzbereich eröffnet, Ausweisungen oder – wie hier – Überstellungen im Rahmen des Dublin-Verfahrens zwar nicht generell aus, sondern verpflichtet als wertentscheidende Grundsatznorm, nach der der Staat Ehe und Familie zu schützen und zu fördern hat, Behörden und Gerichte (nur) bei ihren Entscheidungen bestehende familiäre Bindungen an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, angemessen und mit dem ihnen zukommenden Gewicht zu berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen (vgl. BayVGH, B.v. 11.8.2015 – 10 C 15.1444 – juris Rn. 6). Auch die Beziehungen eines Vaters, hier des Antragstellers, zu seinem nichtehelichen Kind unterfallen dem Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, 95. AL Februar 2016, § 60a Rn. 47). Die mit dem Antragsteller nicht verheiratete Frau, die jedenfalls nach der derzeitigen Erkenntnislage die Lebensgefährtin des Klägers und die Mutter des gemeinsamen Kindes ist, ist für Art. 6 Abs. 1 GG ebenfalls von Relevanz. Schließlich kommt eine auf Dauer angelegte, zusammenlebende nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kindern auch insofern in den Genuss des Schutzes von Art. 6 Abs. 1 GG (vgl. Uhle in BeckOK Grundgesetz, 41. Ed., Stand: 15.11.2018, Art. 6 Rn. 16 m.w.N.). Insgesamt kommt es im vorliegenden Fall jedenfalls entscheidend darauf an, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist (BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 14). Zum Kind wie zur Mutter bedarf es einer Beziehung, die auch durch die Übernahme von Verantwortung, auch für die Betreuung und Erziehung des Kindes, geprägt ist (vgl. BayVGH, B.v. 11.8.2015 – 10 C 15.1444 – juris Rn. 6; BayVGH, B.v. 28.7.2015 – 10 ZB 15.858 – Rn. 5 m.w.N.).
b) Die demnach grundsätzlich möglichen Schutzwirkungen des Art. 6 Abs. 1 GG zugunsten des Antragstellers bestehen allerdings nicht absolut. Sie stehen nicht grundsätzlich einer Überstellung nach Italien entgegen, da es auch zumutbar sein kann, dass die Familie dort zusammen findet oder auch möglicherweise räumlich (in verschiedenen Mitgliedstaaten) getrennt den Ausgang der jeweiligen Asylverfahren abzuwarten hat. Vorliegend ergibt sich aus einer Abwägung aber jedenfalls vorläufig eine Unzumutbarkeit der Trennung der Familie.
c) Die bestehende Ausnahmesituation bilden trotz des Umstands, dass die behaupteten Bindungen zwischen den Eltern und dem Kind gegenwärtig nicht in jeder Hinsicht nachgewiesen sind, ausreichend Anhaltspunkte, um zumindest eine vorläufige Schutzwirkung des Art. 6 Abs. 1 GG anzunehmen. Die erlittene Totgeburt ist nachgewiesen, ein hieraus resultierender (sozialer) Betreuungsbedarf für die betroffene Frau ist plausibel. Die Vaterschaft gegenüber dem Kind ist anerkannt. Die aktive Rolle des Antragstellers gegenüber der Lebensgefährtin in der gegenwärtigen Belastungssituation wird nicht nur behauptet, sondern in der ärztlichen Bescheinigung des Klinikums r … … … vom 14. November 2019 immerhin implizit dadurch bestätigt, dass die (bislang offenbar erfolgte) Anwesenheit des Antragstellers befürwortet wird. Auch gab es bereits im Antragsverfahren M 19 S 19.50816 den Vortrag, eine Beziehung mit der Lebensgefährtin zu führen. Der Vortrag ist insoweit nicht neu und gewinnt dadurch eine gewisse Glaubwürdigkeit. Ein wegen der Schwächung der Mutter für das Kind bestehender Betreuungsbedarf (trotz eigenen Klinikaufenthalts) durch dritte Personen – etwa den Antragsteller – ist ebenfalls nachvollziehbar.
Berücksichtigt man ferner, dass, soweit Erkenntnisse im einstweiligen Rechtsschutzverfahren fehlen und nicht eingeholt werden können – etwa die Klärung, ob und wie lange die Mutter noch im Krankenhaus ist -, es zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes geboten sein kann, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (vgl. BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 16 m.w.N.), ist vorliegend insgesamt eine Änderung des Beschlusses vom 2. September 2019 geboten.
d) Allerdings ist die Änderung zu befristen, da die rechtliche Wertung des Mutterschutzgesetzes (MuSchG) unter dem Aspekt der Einheit der Rechtsordnung zu berücksichtigen ist (vgl. VG München, B.v. 4.9.2017 – M 9 S 17.51064; VG München, B.v. 29.12.2016 – M 1 S 16.50997 – juris Rn. 22; Göbel-Zimmermann/Eichhorn/Beichel-Benedetti, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 2017, Rn. 932 m.w.N.). Nach § 3 Abs. 2 MuSchG besteht ein Beschäftigungsverbot bis zum Ablauf von acht Wochen nach der Entbindung. Eine Entbindung ist auch eine Totgeburt nach § 31 Abs. 2 PStV (vgl. Dahm in BeckOK ArbR, 53., Stand: Ed. 1.9.2019, § 3 MuSchG Rn. 19). Auf die Relativierung des Entbindungsschutzes nach § 3 Abs. 4 MuSchG kommt es vorliegend nicht an, da jedenfalls derzeit offenbar kein entsprechendes Verlangen der Mutter vorliegt. Kommt aber hiernach der Mutter grundsätzlich nur ein befristeter Schutz (auch vor Überstellung) zu, so kann der Schutz des Antragstellers im hiesigen Verfahren grundsätzlich nicht weiter reichen. Die aufschiebende Wirkung ist daher nur bis zum Ablauf des 10. Januar 2020 anzuordnen.
3. Die Kostenentscheidung des Änderungsverfahrens beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Kostenentscheidung des Beschlusses vom 2. September 2019 bleibt unberührt.


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