Verwaltungsrecht

Wahrunterstellung im Asylverfahren und Verletzung rechtlichen Gehörs

Aktenzeichen  9 ZB 11.30063

Datum:
15.3.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 44414
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78 Abs. 3
VwGO VwGO § 166

 

Leitsatz

1 Ein Beweisantrag kann durch Wahrunterstellung abgelehnt werden, wenn die behauptete Beweistatsache im Folgenden ohne jede Einschränkung als nachgewiesen behandelt wird (vgl. BVerwG BeckRS 2014, 58780). Folgt das Gericht dem, kommt aber gleichwohl nicht zu einer Verfolgungsgefahr, zeigt die Kritik der Sachverhalts- und Beweiswürdigung mit der Beschwerde keine Verletzung rechtlichen Gehörs auf. Denn diese Würdigung ist dem materiellen Recht zuzuordnen. (redaktioneller Leitsatz)
2 Stellt das Gericht in seiner Entscheidung auf vom Kläger vorgelegte Erkenntnismittel ab und macht sie auch zum Gegenstand der Verhandlung, hat es sie zur Kenntnis genommen und das rechtliche Gehör nicht verletzt. (redaktioneller Leitsatz)
3 Die Frage, ob dem Asylsuchenden vom Verfolger nur zugeschriebene Merkmale erheblich sind, ist nicht mehr klärungsbedürftig, denn sie wird von § 3b Abs. 2 AsylG beantwortet. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 3 K 10.30193 2011-01-11 Urt VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II.
Die Klägerin hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III.
Der Antrag, der Klägerin unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren zu bewilligen, wird abgelehnt.

Gründe

I.
Die Klägerin ist nach ihren Angaben ugandische Staatsangehörige. Das Verwaltungsgericht hat ihre auf Anerkennung als Asylberechtigte bzw. Zuerkennung von Abschiebungsschutz gerichtete Klage mit Urteil vom 11. Januar 2011 abgewiesen. Hiergegen richtet sich das Rechtsmittel der Klägerin. Sie macht eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, eine Abweichung von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend. Die Klägerin beantragt zugleich Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren.
II.
A. Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.
1. Der von der Klägerin geltend gemachte Zulassungsgrund der Versagung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO) liegt nicht vor.
a) Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung den bedingten und durch Schriftsatz vom 23. Dezember 2010 präzisierten Antrag gestellt, Beweis über die Behauptung zu erheben, „dass es sich bei dem im Verfahren mehrfach genannten und u. a. im Zusammenhang mit dem Artikel vom 25.04.2008 mit dem Titel ‚Hunted ex-soldier accuses UPDF of role atrocities‘ abgebildeten Herrn G. M. um die Person handelt, bei der die Klägerin als Haushaltshilfe in dessen Haushalt in Ndeeba gelebt hat“. Das Verwaltungsgericht hat diesen Beweisantrag im angefochtenen Urteil mit der Begründung abgelehnt, dass die unter Beweis gestellte Tatsache vom Gericht als wahr unterstellt werde. Weiterhin hat es das Verwaltungsgericht als wahr unterstellt, dass die Klägerin von den ugandischen Behörden befragt wurde und zeitweise in Haft war. Dies zugrunde gelegt ist das Verwaltungsgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass keine Verfolgungsgründe vorliegen.
Das hiergegen gerichtete Vorbringen der Klägerin, die vom Verwaltungsgericht als wahr unterstellten Tatsachen würden geradezu den Vorwurf seitens der ugandischen staatlichen Stellen beinhalten, dass diese der Klägerin eine Komplizenstellung bezüglich des Soldaten G. M. unterstellten, bzw. die Klägerin einer Verfolgung durch staatliche Stellen in Uganda ausgesetzt sei, lässt keine Verletzung des rechtlichen Gehörs erkennen.
Zwar setzt die auch im Verwaltungsprozess anerkannte Verfahrensweise, einen Beweisantrag durch „Wahrunterstellung“ abzulehnen, voraus, dass die behauptete Beweistatsache im Folgenden „ohne jede Einschränkung“ als nachgewiesen behandelt wird (vgl. BVerwG, B. v. 3.11.2014 – 2 B 24.14 – juris Rn. 10 m. w. N.). Von dieser Anforderung ist das Verwaltungsgericht aber nicht abgewichen. Das Verwaltungsgericht begründet seine Entscheidung vielmehr damit, dass die angegebenen Untersuchungsmaßnahmen ausschließlich auf die Person G.M. gerichtet gewesen seien, eine gegen die Klägerin persönlich gerichtete Verfolgungsabsicht der Untersuchungsbehörden nicht ersichtlich geworden sei, sich keine konkreten überzeugenden Anhaltspunkte dafür ergeben hätten, dass der Klägerin seitens der ugandischen Behörden ernsthaft eine Unterstützung des Soldaten G.M. bei dessen wie auch immer gearteten politischen Bestrebungen unterstellt worden wäre bzw. würde und ein Interesse der ugandischen Stellen an der Klägerin auch aufgrund des von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung hinterlassenen Gesamteindrucks als unrealistisch erscheine.
Mit ihrer gegenteiligen Auffassung wendet sich die Klägerin gegen die Sachverhalts- und Beweiswürdigung durch das Verwaltungsgericht. Diese stellt jedoch keine Frage des rechtlichen Gehörs dar, sondern ist dem sachlichen Recht zuzurechnen und rechtfertigt von vornherein nicht die Zulassung der Berufung nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG (vgl. BayVGH, B. v. 18.12.2015 – 9 ZB 15.50140 – juris Rn. 3 m. w. N.; OVG NW, B. v. 1.2.2016 – 4 A 2604/15.A – juris Rn. 10 f. m. w. N.; BVerwG, B. v. 30.7.2014 – 5 B 25.14 – juris Rn. 13 zu § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
b) Der Vortrag, eine Verletzung des rechtlichen Gehör der Klägerin sei auch darin zu sehen, dass das Verwaltungsgericht die im gerichtlichen Verfahren von der Klägerin vorgelegten und z.T. in Englisch verfassten Erkenntnismaterialien zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht, aber „offensichtlich nicht vollständig zur Kenntnis genommen“ habe, führt nicht zur Zulassung der Berufung.
Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das entscheidende Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (st. Rspr., vgl. BVerfG, B. v. 14.6.1960 – 2 BvR 96/60 – BVerfGE 11, 218 = juris Rn. 5). Dem das ist das Verwaltungsgericht auch in Ansehung der in Bezug genommenen Erkenntnismaterialien nachgekommen. Es hat auf die mit klägerischem Schriftsatz vom 24. November 2010 übersandten Berichte und Artikel nicht nur in seiner Entscheidung abgestellt, sondern diese auch zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung am 30. November 2010 gemacht. Damit steht aber fest, dass das Verwaltungsgericht diese Erkenntnismaterialien zur Kenntnis genommen und auch in Erwägung gezogen hat.
Der klägerische Einwand, das Verwaltungsgericht lasse die Auskunftslage vollkommen unberücksichtigt, dass die Klägerin mit hoher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufe, in Untersuchungshaft genommen und dort belassen zu werden, u. a. weil sie sich keinen Verteidiger leisten könne, erschöpft sich in der Kritik an der Sachverhalts- und Beweiswürdigung durch das Verwaltungsgericht. Die klägerische Behauptung, das Verwaltungsgericht habe den vorgetragenen tatsächlichen Umständen nicht die richtige Bedeutung für weitere tatsächliche oder rechtliche Folgerungen beigemessen, vermag aber grundsätzlich keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu begründen (vgl. BVerfG, E. v. 11.9.2015 – 2 BvR 1586/15 – juris Rn. 4 m. w. N.).
2. Die Divergenzrüge (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) führt nicht zur Zulassung der Berufung.
Die Klägerin ist der Auffassung, das Verwaltungsgericht sei von folgendem Rechtssatz des Bundesverfassungsgerichts abgewichen: „Politisch Verfolgte müssen weder tatsächlich noch nach der Überzeugung des verfolgenden Staates selbst Träger eines verfolgungsverursachenden Merkmals sein. Politische Verfolgung kann auch dann vorliegen, wenn der oder die Betroffene lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist“ (BVerfG, Kammerbeschluss v. 22.11.1996 – 2 BvR 1753/96 – juris Rn. 5).
Ein hiervon abweichender Rechts- oder Tatsachensatz ist der Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht zu entnehmen. Die in Bezug genommene Ausführung des Verwaltungsgerichts, es sei nichts dafür ersichtlich, „dass die Klägerin durch die von ihr angegebene Befragung und zeitweise Haft in ihrer politischen Einstellung oder sonstigen durch das Asylrecht geschützten persönlichen Eigenschaft getroffen werden sollte“, steht in keinem Widerspruch zum Rechtssatz des Bundesverfassungsgericht. Insbesondere bringt das Verwaltungsgericht nicht zum Ausdruck, dass Befragung und Haft der Klägerin keine politische Verfolgung gewesen seien. Es verdeutlicht lediglich, wie die nachfolgenden Sätze zeigen, dass die „angegebenen Untersuchungsmaßnahmen ausschließlich auf die Person G.M gerichtet waren“ und „die mündliche Verhandlung vor dem Einzelrichter keine konkreten überzeugenden Anhaltspunkte dafür ergeben hat, dass der Klägerin seitens der ugandischen Behörden ernsthaft eine Unterstützung des Soldaten G.M. bei dessen wie auch immer gearteten politischen Bestrebungen unterstellt worden wäre bzw. würde“. Diese Ausführungen sind Teil der tatrichterlichen Würdigung der Gesamtumstände durch das Verwaltungsgericht, das ein Verfolgungsinteresse der ugandischen Behörden nicht allein wegen der eigenen unpolitischen Haltung der Klägerin verneint, sondern weil auch sonst keine tragfähigen Anhaltspunkte für eine gegen die Klägerin gerichtete Verfolgung seitens des ugandischen Staates ersichtlich seien.
3. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Klägerin beimisst (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG).
a) Die Frage, „ob es bei der Beurteilung der Frage der Begründetheit geäußerter Verfolgungsfurcht darauf ankommt, ob der Antragsteller bzw. die Antragstellerin die verfolgungsbegründete politische Überzeugung überhaupt hat oder sie ihm/ihr vom Verfolger nur zugeschrieben wird bzw. wurde“, ist hier mangels Entscheidungserheblichkeit nicht klärungsfähig.
Das Verwaltungsgericht hat an keiner Stelle der angefochtenen Entscheidung – auch nicht sinngemäß – zum Ausdruck gebracht, eine nur zugeschriebene verfolgungsbegründende politische Überzeugung sei ohne Belang. Dass die Klägerin keine politische Überzeugung hat, derentwegen sie verfolgt würde, hat sie – worauf das Verwaltungsgericht hinweist – in der mündlichen Verhandlung selbst angegeben („Ich bin nur eine kleine unbedeutende Person“, „Politik hat mich weder in Afrika interessiert noch interessiert sie mich in Deutschland“). Die Frage, ob die Klägerin wegen ihrer eigenen politischen Überzeugung eine Verfolgung zu besorgen hat, hat sich für das Verwaltungsgericht daher nicht gestellt. Die Frage, ob der Klägerin eine verfolgungsbegründende politische Überzeugung vom Verfolger zugeschrieben wird, hat das Verwaltungsgericht mit einer nachvollziehbaren Begründung verneint.
Von Vorstehendem abgesehen wäre die gestellte Frage nicht (mehr) klärungsbedürftig (vgl. § 3 b Abs. 2 AsylG, Art. 10 Abs. 2 Richtlinie 2011/95/EU).
Die Frage, nach welchen Maßstäben zu beurteilen ist, ob dem Betroffenen eine verfolgungsbegründende politische Überzeugung vom Verfolger zugeschrieben wird bzw. wurde, wurde weder gestellt, noch wäre sie einer über den Einzelfall hinausgehenden rechtsgrundsätzlichen Klärung zugänglich.
b) Die Frage, „ob ein(e) bereits aufgrund falscher Annahme der staatlichen Sicherheitsbehörden vorverfolgte(r) Betroffener bzw. Betroffene zuzumuten ist, sich in das Heimatland zurückzubegeben und darauf vertrauen muss, dass auch die Verfolger nach rechtsstaatlichen Prinzipien erkennen werden, dass der Betroffene bzw. die Betroffene zu Unrecht einer politischen Aktivität oder Einstellung verdächtigt worden ist“, ist nicht klärungsbedürftig.
Ob dem Betroffenen aufgrund seiner persönlichen Verhältnisse angesichts der politischen Gegebenheiten in seiner Heimat bei einer Rückkehr mit einer Wahrscheinlichkeit (neuerliche oder andere) Verfolgung droht, ist eine Frage der dem Tatsachengericht vorbehaltenen einzelfallbezogenen prognostische Würdigung (vgl. BVerwG, B. v. 17.6.2013 – 10 B 8.13 – juris Rn. 4, zum Widerruf), die einer rechtsgrundsätzlichen Klärung nicht zugänglich ist.
Davon abgesehen ist die Frage nicht klärungsfähig, weil das Verwaltungsgericht von keiner Sachlage ausgegangen ist, wie sie der Frage zugrunde liegt. Das Verwaltungsgericht stellt entscheidungserheblich nicht darauf ab, dass die Klägerin auf rechtsstaatliche Prinzipien in ihrem Heimatstaat vertrauen muss, sondern darauf, dass ein Interesse der ugandischen Behörden an der Klägerin unrealistisch ist, also auf einen Wahrscheinlichkeitsmaßstab.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83 b AsylG. Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).
B. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren hat keinen Erfolg.
Da der Antrag auf Zulassung der Berufung aus den unter Buchst. A genannten Gründen abzulehnen ist und damit keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, kann die Klägerin weder nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO Prozesskostenhilfe bewilligt noch ihr Prozessbevollmächtigter nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 121 Abs. 1 ZPO beigeordnet werden. Die Rechtsverfolgung bot bereits in dem für die Beurteilung der Erfolgsaussichten maßgebenden Zeitpunkt der Entscheidungsreife keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.
Einer Entscheidung über die Kosten des Prozesskostenhilfeverfahrens bedarf es nicht, weil Gerichtskosten nicht erhoben werden und eine Kostenerstattung nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO ausgeschlossen ist.
C. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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