Verwaltungsrecht

Wegen fehlender Glaubwürdigkeit erfolglose Asylklage eines afghanischen Staatsangehörigen

Aktenzeichen  M 26 K 17.35160

Datum:
18.6.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 15970
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1 Vor dem Hintergrund, dass in Afghanistan insbesondere wegen der weit verbreiteten Korruption echte Dokumente unwahren Inhalts in erheblichem Umfang existieren, können Urkunden wie der vom Kläger beim Bundesamt vorgelegte Polizeiausweis allein nicht als voller Beweis für die Zugehörigkeit zur Polizei angesehen werden, sondern müssen vielmehr im Kontext des Vorbringens des Klägers insgesamt und dessen Glaubwürdigkeit bewertet und gewürdigt werden. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die allgemeine Gefährdungslage in Afghanistan bzw. in den Provinzen Kabul, wohin wohl zunächst eine Abschiebung erfolgen würde, und der Herkunftsprovinz des Klägers, erreicht auch unter Zugrundelegung der aktuellen Erkenntnismittel keine Intensität aufgrund der bereits ohne das Vorliegen individueller gefahrerhöhender Umstände von der Erfüllung des Tatbestands des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG auszugehen wäre. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
3 Es ist davon auszugehen, dass die Situation in der Zentralregion um Kabul und auch sonst in Afghanistan nicht derart ist, dass für einen alleinstehenden männlichen arbeitsfähigen afghanischen Staatsangehörige eine Abschiebung ohne Weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen wäre. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
4 Eine extreme Gefahr für Leib und Leben im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG kann der Kläger auch dadurch abwenden, dass er Start- und Reintegrationshilfen in Anspruch nimmt. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über die Klage konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 8. Juni 2018 verhandelt und entschieden werden, obwohl die Beklagte nicht erschienen ist. Denn in der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden könne (§ 102 Abs. 2 VwGO). Die Beklagte hat mit allgemeiner Prozesserklärung auf Einhaltung der Ladungsfrist sowie Ladung gegen Empfangsbekenntnis verzichtet.
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid vom 16. Februar 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten; der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bzw. Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Abs. 4, Abs. 1 AsylG) oder subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG). Er hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG. Die vom Bundesamt nach Maßgabe des § 34 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG erlassene Abschiebungsandrohung sowie das dreißigmonatige Einreise- und Aufenthaltsverbot sind ebenfalls nicht zu beanstanden. Das Gericht folgt den Feststellungen und der Begründung des streitgegenständlichen Bescheids und sieht diesbezüglich von einer Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG). Es ergänzt lediglich wie folgt:
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzes.
1.1. Das Gericht konnte aufgrund des Vortrags des Klägers nicht die Überzeugung gewinnen, dass der Kläger vor seiner Ausreise aus Afghanistan von Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden bedroht war oder dass ihm im Falle der Rückkehr Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden drohen würde.“
Das Gericht muss sowohl von der Wahrheit – und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit – des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals als auch von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung bzw. Gefährdung die volle Überzeugung gewinnen. Auf die Glaubhaftigkeit seiner Schilderung und Glaubwürdigkeit seiner Person kommt es entscheidend an. Seinem persönlichen Vorbringen und dessen Würdigung ist daher gesteigerte Bedeutung beizumessen. Der Asylbewerber muss die persönlichen Umstände seiner Verfolgung und Furcht vor einer Rückkehr hinreichend substantiiert, detailliert und widerspruchsfrei vortragen, er muss kohärente und plausible wirklichkeitsnahe Angaben machen (vgl. nunmehr auch Art. 4 Richtlinie 2011/95 EU sowie bereits bislang BVerfG (Kammer), B.v. 7.4.1998 – 2 BvR 253/96 – juris). Auch unter Berücksichtigung des Herkommens, Bildungsstands und Alters muss der Asylbewerber im Wesentlichen gleichbleibende möglichst detaillierte und konkrete Angaben zu seinem behaupteten Verfolgungsschicksal machen.
Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben. Der Vortrag des Klägers zu einer behaupteten Bedrohung durch die Taliban ist nicht schlüssig und teilweise widersprüchlich. Die Ausführungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung stehen in erheblichem Widerspruch zu denjenigen in der Anhörung vor dem Bundesamt, was die Glaubwürdigkeit der Person des Klägers insgesamt in Frage stellt. Zu dem ersten, gegen den Kläger gerichteten bewaffneten Angriff der Taliban hatte der Kläger in der Anhörung ausgeführt, dieser habe sich zu Hause ereignet, als er draußen auf die Toilette gehen wollte. In der mündlichen Verhandlung führte er hingegen aus, er sei erstmals auf dem Weg nach Hause angegriffen worden. Zu dem dritten Angriff auf das Polizeirevier, den der Kläger in der mündlichen Verhandlung im Übrigen erst auf ausdrücklichen Vorhalt des Gerichts schilderte, gab er an, dabei seien drei Polizeibeamte erschossen worden. In der Anhörung hatte er hingegen angegeben, Ein Kollege, der zugleich sein Cousin sei, sei umgekommen und drei weitere Polizisten seien schwer verletzt worden. Auch die Ausführungen zu den angeblichen Drohanrufen sind widersprüchlich. In der Anhörung hatte der Kläger insoweit ausgeführt, sie hätten, während sie sich im Polizeirevier versteckt gehalten hätten, anonyme Drohanrufe erhalten, in denen ein bevorstehender Angriff der Taliban angekündigt worden sei. In der mündlichen Verhandlung führte der Kläger hingegen aus, er selbst sei über Freunde und Bekannte von den Taliban telefonisch bedroht worden und man habe ihm ausrichten lassen, er solle die Arbeit bei der Polizei beenden. Von solchen, gegen ihn selbst gerichteten telefonischen Drohungen hat der Kläger gegenüber dem Bundesamt allerdings nichts erwähnt.
Insgesamt drängt sich dem Gericht vor dem Hintergrund dieser Widersprüche und dem Eindruck, den es in der mündlichen Verhandlung vom Kläger gewonnen hat, der Eindruck auf, dass der Kläger nicht von tatsächlich Erlebtem berichtet. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger sein Herkunftslandvorverfolgt verlassen hat, weil er wegen seiner Tätigkeit für die Polizei individuell in das Visier der Taliban geraten wäre.
Weiter kann nicht davon ausgegangen werden, dass dem Kläger unabhängig von einer Vorverfolgung im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden wegen einer früheren Tätigkeit bei der Lokalpolizei droht. Vor dem Hintergrund, dass in Afghanistan insbesondere wegen der weit verbreiteten Korruption echte Dokumente unwahren Inhalts in erheblichem Umfang existieren (Auswärtiges Amt, Bericht über die asylUnd abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 31.5.2018), können Urkunden wie der vom Kläger beim Bundesamt vorgelegte Polizeiausweis allein nicht als voller Beweis für die Zugehörigkeit zur Polizei angesehen werden; vielmehr müssen solche Dokumente im Kontext des Vorbringens des Klägers insgesamt und dessen Glaubwürdigkeit bewertet und gewürdigt werden. Angesichts der widersprüchlichen Angaben des Klägers zu seiner behaupteten Verfolgung und der mangelnden Glaubwürdigkeit seiner Person bestehen schon erhebliche Zweifel daran, dass der Kläger jemals für die Polizei gearbeitet hat. Selbst wenn er aber von Mitte 2015 bis Mitte 2016 für ein Jahr bei der Polizei gearbeitet haben sollte, so war sein Vertrag seinen eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung zufolge bei seiner Ausreise bereits abgelaufen. Es kann nicht festgestellt werden, dass jedem ehemaligen Polizisten allein wegen der früheren Tätigkeit auch mehrere Jahre nach deren Beendigung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung seitens der Taliban droht.
1.2. Die allgemeine Gefährdungslage in Afghanistan bzw. in den Provinzen Kabul, wohin wohl zunächst eine Abschiebung erfolgen würde, und A…, der Herkunftsprovinz des Klägers, erreicht auch unter Zugrundelegung der aktuellen Erkenntnismittel keine Intensität, aufgrund der bereits ohne das Vorliegen individueller gefahrerhöhender Umstände von der Erfüllung des Tatbestands des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG auszugehen wäre. Das Risiko, dort durch Anschläge Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, ist nach den von der Rechtsprechung hierfür angelegten Maßstäben unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BayVGH, B.v. 31.8.2017 – 13a ZB 17.30756- juris; B.v. 11.4.2017 – 13a ZB 17.30294 – juris, B.v. 8.2.2017 – 13a ZB 17.30016 – juris; BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 4.09 – juris Rn. 33; BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris Rn. 22 f., jeweils m.w.N.).
In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist geklärt, unter welchen Voraussetzungen eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) besteht und dass es für die Feststellung der erforderlichen Gefahrendichte einer wertenden Gesamtbetrachtung auf der Grundlage einer quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos bedarf (vgl. BayVGH, U.v. 17.1.2017 – 13a ZB 16.30182 – juris Rn. 4 ff. m.w.N.). Eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr kann auch dann, wenn individuelle gefahrerhöhende Umstände in der Person des Betroffenen fehlen, ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist somit ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich (BayVGH, U.v. 17.1.2017 a.a.O. Rn. 5 m.w.N.). Zur Ermittlung der für die Annahme einer erheblichen individuellen Gefahr ausreichenden Gefahrendichte ist dabei aufgrund aktueller Quellen die Gesamtzahl der in der Herkunftsprovinz lebenden Zivilpersonen annäherungsweise zu ermitteln und dazu die Häufigkeit von Akten willkürlicher Gewalt sowie der Zahl der dabei Verletzten und Getöteten in Beziehung zu setzen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist dabei ein Risiko von ca. 1:800 oder 0,125%, in der Herkunftsprovinz verletzt oder getötet zu werden, so weit von der Schwelle der für den subsidiären Schutz beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt, dass sich das Fehlen einer wertenden Gesamtbetrachtung neben der rein quantitativen Ermittlung nicht auszuwirken vermag (BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris Rn. 22 f.; dazu auch BayVGH, U.v. 17.1.2017 a.a.O. Rn. 6 f. m.w.N.).
An diesen, in der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung gefestigten Maßstäben gemessen, ist für den Kläger nicht davon auszugehen, dass die für die Feststellung einer individuellen Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts erforderliche Gefahrendichte auch nur möglicherweise annähernd erreicht wäre:
Ausgehend von mindestens 27 Millionen Einwohnern (vielfach wird eine höhere Bevölkerungszahl angenommen) und von 11.418 Opfern in Afghanistan im Jahr 2016 bzw. 10.453 Opfern im Jahr 2017 (nach UNAMA) lag die Gefahrendichte in den Jahren 2016 und 2017 landesweit erheblich unter 0,12% oder 1:800 (vgl. für das Jahr 2016 BayVGH, B.v. 31.8.2017 – 13a ZB 17.30756 – juris).
Unter Zugrundelegung der Einwohnerzahlen für die einzelnen Provinzen Afghanistans im Jahr 2016 (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 2.3.2017, in der Fassung der Einfügung am 30.1.2018, Nrn. 3.1 ff, S. 29 ff) und der Opferzahlen für das Jahr 2017 (UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2017, February 2018, Anlage 3, S. 67 ff) errechnet sich für die Provinz Kabul eine Wahrscheinlichkeit, innerhalb eines Jahres verletzt oder getötet zu werden, von gerundet 0,04%. Für die Provinz A… ergibt sich eine entsprechende Wahrscheinlichkeit von 0,08%. Diese Zahlen sind bei Anlegung der dargelegten Maßstäbe auch unter Berücksichtigung einer gewissen Dunkelziffer weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt.
Auch ist nicht ersichtlich, dass eine im Wesentlichen zunehmende Tendenz der Opferwahrscheinlichkeit gegeben wäre. Insoweit muss zwar festgestellt werden, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan insgesamt seit Anfang 2016 deutlich verschlechtert hat und die Situation dort als volatil anzusehen ist (vgl. Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 1; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, S. 1). Nach der Dokumentation von UNAMA (UNAMA first quarter 2017 civilian casualty Data, vom 27.04.2017) ist jedoch für die ersten drei Monate im Jahr 2017 eine Anzahl ziviler Opfer in Höhe von 2.181 verzeichnet worden. Dies entspricht laut UNAMA einem Rückgang von vier Prozent im Vergleich zu den ersten drei Monaten des Vorjahres (2.268 zivile Opfer). Im ersten Halbjahr 2017 bewegten sich die Opferzahlen in etwa auf dem hohen Niveau des Vorjahres; laut den Daten von UNAMA (Afghanistan. Protection of civilians in armed conflict. Midyear Report 2017, July 2017, S. 3) sank die Anzahl der Opfer um etwa ein halbes Prozent im Vergleich zum Vorjahr (24 Opfer weniger / 5.267 Opfer im ersten Halbjahr 2016). Nach dem am 12. Oktober 2017 veröffentlichten Bericht der UNAMA über zivile Opfer im bewaffneten Konflikt, der den Zeitraum 1. Januar bis 30. September 2017 umfasst, bewegten sich die Opferzahlen im Berichtszeitraum weiterhin auf dem Niveau des Jahres 2016 (landesweit wurde im Vergleich zur selben Periode des Jahres 2016 ein Rückgang um 6% verzeichnet, wobei jedoch die Zahl der Todesopfer um 1% gestiegen war). Wenngleich die durch Anschläge und Selbstmordattentate verursachten zivilen Opfer im Jahr 2017 im Vergleich zu den Vorjahren erheblich zugenommen hat, sank die Zahl der zivilen Opfer dem Jahresbericht der UNAMA vom Februar 2018 zufolge im Vergleich zum Jahr 2016 insgesamt um neun Prozent, was den ersten Rückgang der Opferzahlen seit dem Jahr 2012 darstellt. Die Zahl der Toten sank um zwei Prozent und die Zahl der Verletzten um elf Prozent.
Eine wesentliche Steigerung der Opferzahlen für die Zukunft implizieren die aktuellen Berichte mithin nicht.
Soweit Organisationen wie UNHCR (s. Anmerkungen vom Dezember 2016) und Pro Asyl sowie Presseberichte auf die Zunahme von Anschlägen – vor allem in Kabul – verweisen, folgen sie eigenen Maßstäben, aber nicht den von der Rechtsprechung gestellten Anforderungen an die Annahme von erheblichen Gefahren aufgrund eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (vgl. BayVGH, B.v. 31.8.2017 – 13a ZB 17.30756 – juris, U.v. 11.4.2017 – 13a ZB 17.30294 – juris). Auch die medial sehr präsenten Anschläge in Afghanistan seit Mai 2017 (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19.06.2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, S. 4 ff; http://www.zeit.de/thema/afghanistan) vermögen es nicht, diese Einschätzung zu widerlegen (so etwa auch: OVG NW, B. v. 10.7.2017 – 13 A 1385 (17.A); s. auch AA, Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31.5.2017 vom 28.7.2017, Rn. 30 ff). Im Übrigen geht auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof weiterhin davon aus, dass in keiner Region Afghanistans die Voraussetzungen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vorliegen. Auch führe die Lage in Afghanistan nicht dazu, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylG anzunehmen wäre (vgl. z.B. B.v. 4.1.2018 – 13a ZB 17.31287 – UA Rn. 5; B.v. 2.11.2017 – 13 a ZB 17.31033 – juris Rn. 5).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist ebenfalls der Auffassung, dass die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan nicht derart ist, dass jede Überstellung dorthin notwendig Art. 3 EMRK verletze (vgl. EGMR, U.v. 11.7.2017 – S.M.A./Netherlands, Nr. 46051/13 Rn. 53; U.v. 11.7.2017 – Soleimankheel and others/Netherlands, Nr. 41509/12 Rn. 51; U.v. 11.7.2017 – G.R.S./Netherlands, Nr. 77691/11 Rn. 39; U.v. 11.7.2017 – E.K./Netherlands, Nr. 72586/11 Rn. 67; U.v. 11.7.2017 – E.P. and A.R./Netherlands, Nr. 63104/11 Rn. 80; U.v. 16.5.2017 – M.M./Netherlands, Nr. 15993/09 Rn. 120; U.v. 12.1.2016 – A.G.R./Niederlande, Nr. 13442/08 – NvWZ 2017, 293 Rn. 59).
Das Bestehen individueller, gefahrerhöhender Umstände, die eine Gefährdung im o.g. Sinne dennoch begründen könnten, ergibt sich für den Kläger nach dessen Vorbringen nicht in einem rechtlich relevanten Maß. Diesbezüglich wird auf obige Ausführungen verwiesen.
2. Für den Kläger besteht auch kein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Auch insoweit wird auf die zutreffende Begründung des streitgegenständlichen Bescheids Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, dem das erkennende Gericht auch insoweit folgt, geht weiterhin davon aus, dass die Situation in der Zentralregion mit Kabul und auch sonst in Afghanistan nicht derart ist, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen wäre (BayVGH, B.v. 31.8.2017 – 13a ZB 17.30756 – juris m.w.N.). Die allgemeine Versorgungslage in Afghanistan stellt keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK dar. Zwar können schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat in besonderen Ausnahmefällen in Bezug auf Art. 3 EMRK ein Abschiebungsverbot begründen. In Afghanistan ist die Lage für alleinstehende männliche arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige jedoch nicht so ernst, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – NVwZ 2013, 1167; BayVGH, B.v. 31.8.2017 – 13a ZB 17.30756 – juris m.w.N.; VGH Baden-Württemberg, U.v. 11.4.2018 – A 11 S 924/17). Die individuelle Situation des Klägers erfordert bzw. rechtfertigt keine abweichende Beurteilung. Der Kläger verfügt über eine Schulbildung, womit er im Vergleich zu den vielen Analphabeten in Afghanistan klar im Vorteil ist. Darüber hinaus hat der Kläger nahezu sein gesamtes Leben in Afghanistan verbracht und ist mit den dortigen Verhältnissen bestens vertraut. Dies dürfte es ihm erleichtern, in Afghanistan Arbeit zu finden. Dass seine Arbeitsfähigkeit eingeschränkt wäre, wurde nicht durch Atteste o.ä. belegt. Auch aufgrund seiner in Europa erworbenen Erfahrungen und Sprachkenntnisse befindet sich der Kläger in einer vergleichsweise guten Position. Schließlich hat der Kläger ausweislich seiner Angaben in der Erstbefragung bei der Regierung von Oberbayern und in der Anhörung vor dem Bundesamt noch viele Verwandte in Afghanistan (Mutter, Geschwister und Großfamilie), so dass erwartet werden kann, dass diese ihn bei der Arbeitssuche und auch im Notfall unterstützen würden.
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dem Kläger droht auch aufgrund der unzureichenden Versorgungslage in Afghanistan keine extreme Gefahr infolge einer Verdichtung der allgemeinen Gefahrenlage, die zu einem Abschiebungsverbot im Sinne der verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG führen könnte. Wann allgemeine Gefahren von Verfassungswegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den betroffenen Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Die Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Das Erfordernis des unmittelbaren – zeitlichen – Zusammenhangs zwischen Abschiebung und drohender Rechtsgutverletzung setzt zudem für die Annahme einer extremen Gefahrensituation wegen der allgemeinen Versorgungslage voraus, dass der Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann (BayVGH, U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris Rn. 16; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. A. 2016, § 60 AufenthG Rn. 54). Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssten. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert würde (vgl. BVerwG, U.v. 29.6.2010 – 10 C 10.09 – BVerwGE 137, 226).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs sowie weiterer Oberverwaltungsgerichte, der sich das erkennende Gericht anschließt, ergibt sich aus den Erkenntnismitteln zu Afghanistan derzeit nicht, dass ein alleinstehender arbeitsfähiger männlicher Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach einer Rückkehr in eine derartige extreme Gefahrenlage geraten würde, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen ließe. Zwar ist die Versorgungslage in Afghanistan schlecht, jedoch ist im Wege einer Gesamtgefahrenschau nicht anzunehmen, dass bei einer Rückführung nach Afghanistan alsbald der sichere Tod drohen würde oder alsbald schwere Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten wären. Der Betroffene wäre selbst ohne nennenswertes Vermögen und ohne familiären Rückhalt in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren (st.Rspr., z.B. BayVGH, B.v. 21.8.2017 – 13a ZB 17.30529 – juris; B.v. 4.8.2017 – 13a ZB 17.30791 – juris; B.v. 19.6.2017 – 13a ZB 17.30400 – juris; B.v. 6.4.2017 – 13a ZB 17.30254 – juris; B.v. 23.1.2017 – 13a ZB 17.30044 – juris; B.v. 27.07.2016 – 13a ZB 16.30051 – juris; B.v. 15.6.2016 – 13a ZB 16.30083 – juris; U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris Rn. 17 m.w.N.; B.v. 30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris; OVG NW, U.v. 3.3.2016 – 13 A 1828/09.A – juris Rn. 73 m.w.N.; SächsOVG, B.v. 21.10.2015 – 1 A 144/15.A – juris; NdsOVG, U.v. 20.7.2015 – 9 LB 320/14 – juris). Auf die Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG wird Bezug genommen. Eine extreme Gefahr für Leib und Leben i.S. des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann der Kläger auch dadurch abwenden, dass er Start- und Reintegrationshilfen in Anspruch nimmt. So können afghanische ausreisewillige Personen seit dem Jahr 2016 Leistungen aus dem REAG-Programm sowie aus dem GARP-Programm erhalten, die Reisebeihilfen im Wert von 200,00 EUR und Starthilfen im Umfang von 500 EUR beinhalten. Darüber hinaus besteht seit Juni 2016 das Reintegrationsprogramm ERIN. Die Hilfen aus diesem Programm umfassen z.B. Service bei Ankunft, Beratung und Begleitung zu behördlichen, medizinischen und caritativen Einrichtungen, berufliche Qualifizierungsmaßnahmen, Arbeitsplatzsuche sowie Unterstützung bei einer Geschäftsgründung. Die Unterstützung wird weitgehend als Sachleistung gewährt. Der Leistungsrahmen für rückgeführte Einzelpersonen beträgt dabei ca. 700 EUR (vgl. Auskunft des Bundesamts vom 12.8.2016 an das VG Ansbach; VG Augsburg, U.v. 18.10.2016 – AU 3 K 16.30949 – juris). Der Kläger könnte sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass die genannten Start- und Reintegrationshilfen ganz oder teilweise nur für freiwillige Rückkehrer gewährt werden, also teilweise nicht bei einer zwangsweisen Rückführung. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten – wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr – im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, nicht vom Bundesamt die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris; VGH BW, U.v. 26.2.2014 – A 11 S 2519/12 – juris). Dementsprechend ist es dem normal Kläger möglich und zumutbar, gerade zur Überbrückung der ersten Zeit nach einer Rückkehr nach Afghanistan freiwillig Zurückkehrenden gewährte Reisehilfen sowie Reintegrationsleistungen in Anspruch zu nehmen.
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 ff. ZPO.


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